Grundrisse, Nummer 40
Dezember
2011

16 Thesen zur Weltrevolution

Als ich vor einem Jahr „16 Thesen zur Weltrevolution“ verfasst habe, war die Wahl des Titels nicht frei von Ironie. Im Januar 2011 wurde dann im Zuge der „Jasmin-Revolution“ in Tunesien die arabische Welt von einer revolutionären Welle erfasst, die bis heute andauert. Noch ist es offen, ob die Umstürze in Tunesien und Ägypten mehr erreichen werden, als eine Modernisierung des Kapitalismus unter Führung der Armee oder ob die westlichen Mächte wieder die Kontrolle über die Entwicklung herstellen können. Zumindest ist das Wort „Revolution“ wieder in aller Munde und die Volksmassen erscheinen (zumindest für einen Moment) als die Triebkräfte der Geschichte. Auch scheint der Nationalstaat nicht in der Lage zu sein, die Ausbreitung der revolutionären Welle einzudämmen. Lange haben wir auf Revolutionen gewartet, nun sind sie da, nur nicht bei uns, und die traditionelle Linke spielt auch in den arabischen Ländern keine entscheidende Rolle. Dies ist nicht nur auf die Repressionen der arabischen Regimes zurückzuführen, sondern auch auf das Scheitern des Sozialismus im 20.Jahrhundert, von dem sich die Linke weltweit noch immer nicht erholt hat. Die Parole „Sozialismus oder Barbarei“ können wir heute nicht mehr verkünden, seit wir wissen, dass auch der Sozialismus direkt in die Barbarei führen kann.

Wenn wir uns heute die Frage stellen, wie wir den Kapitalismus überwinden können und wie wir uns organisieren sollen, dann können diese Niederlagen nicht ignoriert werden. Aus Angst, wieder in alte Fraktionskämpfe zu verfallen, wird diese schmerzhafte Geschichte in der Linken heute nur selten thematisiert. Andere Themen wie Migration, Grundeinkommen oder Körper-Politik sind in den Vordergrund gerückt. Fest steht jedoch, dass keine revolutionäre Bewegung, unter welchem Banner sie auch antrat, eine emanzipatorische Gesellschaftsform schaffen und den globalen Kapitalismus überwinden konnte. In den linken Debatten wird heute nur noch selten von Revolution gesprochen. Die Begriffe Widerstand, Subversion, Exodus, Ungehorsam oder Performance sind beliebter. Sicher wurde in der Vergangenheit ein Fetisch um den Tag X der Revolution betrieben und das Leben künstlich in „vor der Revolution“ und „nach der Revolution“ eingeteilt. Wie Friedrich Engels sagte, ist der Kommunismus die Bewegung, die die bestehenden Zustände aufhebt. Die Revolution hat weder einen klaren Anfang noch ein Ende. Eine Revolution ist sowohl ein Ereignis als auch ein Prozess. Ich möchte an dem Begriff festhalten, da die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht nur durch Widerstand und Subversion unterwandert und revolutioniert werden, sondern auch abgeschafft werden muss. Außerdem verbinden vielen Menschen mit dem Begriff „Revolution“ immer noch positive Dinge, sonst würde er in der Werbung oder bei Beschreibungen von Elitenwechseln (wie z. B. die „orange Revolution“ in der Ukraine) nicht so oft gebraucht werden. In der Vergangenheit unterschieden Marxisten-Leninisten oft zwischen der politischen Revolution (also der Machtergreifung durch das Proletariat oder seine Partei) und der sozialen Revolution (Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmittel und Bodenform). Der Leninismus konnte das eine nicht oder das andere denken und wurde immer mehr zur Lehre der Machtergreifung bzw. Erhaltung der Macht. Die revolutionäre Umwälzung des Alltags (Familie, Kindererziehung, Sexualität, Arbeitsteilung usw.) verschwand in allen leninistischen Staaten relativ schnell von der Agenda der Kommunistischen Parteien, die sich später stark an kleinbürgerlichen Vorstellungen orientieren.

Positiv an unserer heutigen Schwäche ist, dass niemand, den man ernst nehmen kann, einen fertigen Entwurf für Revolution und Kommunismus vorlegen kann. Noch gibt es Modelle „proletarischer Vaterländer“, die man nur kopieren müsste. Für die Niederlage des Sozialismus im 20.Jahrhundert ist bis heute keine überzeugende Erklärung ausgearbeitet worden. Im Wesentlichem dominieren strukturelle Erklärungen, dass Länder wie Russland oder China zu unterentwickelt und arm waren, um mehr als eine alternative Variante nachzuholender Modernisierung („primitive Akkumulation“ oder „Staatskapitalismus“) hervorzubringen. Demnach war es auf Grund der strukturellen Ausgangsbedingungen oder internationalen Rahmenbedingungen nicht möglich, eine emanzipatorische Gesellschaft zu schaffen. Orthodoxe Marxisten und Sozialdemokraten warfen den „voluntaristischen“ Revolutionären wie Lenin oder Mao Zedong schon damals vor, die objektiven ökonomischen Verhältnisse ignoriert zu haben. Die andere, weit verbreitete Erzählung erklärt die Niederlagen mit Verrat von Führern (Lenin, Stalin, Chruschtschow, Deng Xiaoping usw.), die eine gute Bewegung in die falschen Bahnen lenkten und das Projekt zum Scheitern brachten. Materialistisch unterfuttert werden diese Verrats-Theorien mit Verweisen auf Intellektuelle, Kulaken, Bürokraten oder neue Kapitalisten als soziale Basis. Manchmal werden auch beide Theorien mit einander kombiniert, indem der „Verräter“ zum Ausdruck der strukturellen Verhältnisse erklärt wird. Ernsthafte Forschung hat innerhalb der Linken jedoch kaum stattgefunden. [1] Weit davon entfernt die Niederlage der Vergangenheit erklären zu können, möchte ich jedoch einige Schlussfolgerungen aus den geschichtlichen Erfahrungen ziehen und darüber nachdenken, was dies für uns heute bedeutet. Ich beschäftige mich dabei mit drei globalen revolutionären Wellen, [2] emanzipatorische Elemente der Bewegungen in Osteuropa und China von 1989 haben die ersten Jahre der post-sozialistischen Gesellschaften kaum überlebt.

Von der Oktoberrevolution zu den Bauernkriegen der 3.Welt

1. These: Die Welle von proletarischen Revolutionen in Europa um 1918 war eine Folge des 1.Welkrieges. Ohne Massenmobilisierung für den „totalen Krieg“ kann die Oktoberrevolution nicht verstanden werden.

Schon die Revolution 1905 brach nach der russischen Kriegsniederlage gegen Japan aus. Zu diesem Zeitpunkt diskutierten die Bolschewiki die Strategie, die Kriegsniederlage der eigenen Regierung in einen Umsturz umzuwandeln. Der 1.Weltkrieg brachte die Verhältnisse zum Tanzen, weil Millionen Menschen als Soldaten in den Krieg eingezogen und aus ihren gewohnten sozialen Zusammenhängen gerissen wurden. Der Staat übernahm im deutschen und russischen Reich Teile der Wirtschaft und die Versorgung von Armee und der (Stadt-)Bevölkerung durch ein Rationierungssystem. Versorgungskrisen verwandelten sich in beiden Staaten im dritten Kriegsjahr in Proteste gegen die Regierungen. Revolutionen wurden möglich, als sich große Teile der Bevölkerung gegen die Fortsetzung des Krieges wandten und Teile der Armee die Befehle verweigerten. Durch den Zusammenbruch der Front lag die Macht auf der Straße, die die Revolutionäre, gestützt auf Teile der Industriearbeiterschaft ergreifen konnten. Außerdem hatten die „Zwangswirtschaft“ des Krieges und die ständigen Requirierungen das Bündnis zwischen der alten aristokratischen Elite und den Bauern zerstört. In Russland wurde die städtische Revolution von spontanen Agrarrevolten begleitet, die zur Auflösung der Armee beitrugen, da viele Bauern nach Hause gingen, um an der Neuverteilung des Bodens teilzunehmen. In einer Gesellschaft, die schon durch den Massenmord an Millionen durch den Krieg brutalisiert und traumatisiert war, erschien eine gewaltsam Revolution als einzige folgerichtige Lösung. Die Revolutionen nach dem 1.Weltkrieg sind ohne den Zusammenhang mit dem „totalen Krieg“ nicht zu verstehen. Heute stellt sich die Frage, ist eine Revolution ohne eine große Katastrophe überhaupt möglich?

2. These: Die Besonderheiten der russischen Verhältnisse wurden von der internationalen kommunistischen Bewegung unterschätzt. Die russische Bauernschaft der Dorfgemeinde (mir) unterschied sich grundlegenden von den Bauern in Westeuropa.

Das Konzept der russischen Oktoberrevolution, der Machtergreifung auf Grundlage eines Bündnisses zwischen Proletariat und Bauern, konnte nicht auf Westeuropa übertragen werden, da dort ganz andere soziale Verhältnisse auf dem Land herrschten. Wie auch die jüngere akademische Forschung bestätigt, ging die russische Dorfgemeinde mit kollektivem Bodenbesitz Anfang des 20.Jahrhunderts nicht unter und wurde durch die Oktoberrevolution sogar noch gestärkt. [3] Mit dem Gesetz zur Bodenreform von 1917, das auf den Vorstellungen der Sozialrevolutionäre beruhte, wurde der gesamte Boden nationalisiert. In Westeuropa hatte sich hingegen schon lange Privateigentum herausgebildet und die Bauern sahen die Kommunisten in der Regel als Feinde an. Lenin konnte die russischen Bauern nur in westlichen Kategorien fassen und dachte darüber nach, ob die russische Landwirtschaft den amerikanischen oder preußischen Weg gehen würde. Stalin, der die russischen Verhältnisse besser verstand, brachte es später auf den Punkt, warum die Nationalisierung des gesamten Bodens in Russland von den Bauern unterstützt wurde, nicht aber in Westeuropa: „In den kapitalistischen Ländern besteht das Privateigentum an Grund und Boden Hunderte von Jahren, was man von den kapitalistisch weniger entwickelten Ländern, in denen der Bauernschaft das Prinzip des Privateigentums an Grund und Boden noch nicht in Fleisch und Blut übergehen konnte, nicht sagen kann. Bei uns, in Russland, sagten die Bauern sogar eine Zeitlang, dass der Boden niemanden gehöre, dass er Gottes Boden sei.“ [4]

Die Kommunistischen Parteien der Zwischenkriegszeit besaßen nur sehr geringe Kenntnisse von den sozialen Verhältnisse in Russland. Der Traum von einem deutschen oder asturischen „Oktober“ war eine Illusion. Die Oktoberrevolution war keine sozialistische Revolution, sondern blieb in den Grenzen einer radikaldemokratischen Revolution unter Führung des Proletariats. Der Versuch, diese Grenzen zu überschreiten, endete während des sogenannten „Kriegskommunismus“ (1919-20) im Desaster. Mit der Verkündung der NEP (Neue Ökonomische Politik) mussten die Bolschewiki anerkennen, dass sie nicht in der Lage waren, über das Agrarprogramm des Oktobers hinauszugehen, wollten sie nicht die Unterstützung der Bauernschaft gänzlich verlieren. [5]

Erst 1929 mit der Kollektivierung und dem 1. Fünfjahresplan wagte die Partei unter Führung von Stalin eine radikale Umwälzung der sozialen Verhältnisse auf dem Land in Angriff zu nehmen. Zwar gelang es die Dorfgemeinde dem Staat zu unterwerfen und durch einen direkten Zugriff auf das agrarische Mehrprodukt Ressourcen für Urbanisierung und Industrialisierung freizusetzen. Allerdings mussten im Zuge der Hungersnot von 1931-1933 wieder Zugeständnisse an die Bauern in Form von Zulassung von privaten Parzellen und Vieh sowie lokalen Märkten gemacht werden. Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 blieb diese Patt-Situation zwischen Staat und Bauernschaft erhalten.

3. These: Jede Revolutionsstrategie funktionierte nur ein Mal. Dann zogen die Herrschenden ihre Lehren und konnten eine Wiederholung verhindern.

Revolutionen waren nicht exportierbar. [6] Abgesehen von den besonderen Bedingungen Russlands scheinen Revolutionen nicht wiederholbar zu sein. Der Erfolg der Bolschewiki beruhte auf auch auf einem Überraschungseffekt, da niemand, noch nicht mal Lenin, ein Überleben das Sowjetmacht für wahrscheinlich hielt. In Westeuropa waren die Herrschenden besser vorbereitet, die Revolten zu ersticken. Im 2.Weltkrieg konnte in keinem Land der Krieg in einen Bürgerkrieg umgewandelt werden. Die Nazis zogen aus dem Zusammenbruch der Front im 1.Weltkrieg die Lehre, die Versorgung der Armee und Bevölkerung im Reich um jeden Preis sicherzustellen. Der „Blitzkrieg“ war ein Lösungsansatz, innere Widersprüche zu mildern. Als er im Osten scheiterte, wurden die besetzten Gebiete ohne Rücksicht auf das Leben von Millionen „Slawen“ ausgebeutet. Zusätzlich zu Repressionen wurden die deutschen Arbeiter durch Sozialpolitik und Privilegien gegenüber den „Fremdarbeitern“ in das System eingebunden. [7]

Auch die Guerilla-Strategien von Mao Zedong und Che waren nur ein Mal erfolgreich. Nach dem Sieg der Revolution in Kuba 1959 entwickelten die USA militärische Niederwerfungsstrategien, die ein zweites Kuba unmöglich machten. Zusätzlich wurden Regierungen unter Druck gesetzt wie in Taiwan, Japan, Philippinen den kommunistischen Bewegungen durch Agrarreformen und Infrastrukturprogramme den Boden zu entziehen. Versuche die russische, kubanische oder iranische Revolution von außen durch Gewalt zu ersticken, scheiterten ebenso wie der militärische Export der Revolutionen. Das musste auch Lenin nach dem Desaster des Krieges gegen Polen 1920 schmerzlich anerkennen.

4. These: Erfolgreiche Revolutionäre hatten keine allumfassenden Konzepte, sondern entwickelten im „Trial and Error“-Verfahren Strategien. In der entscheidenden Situation das „Window of Opportunity“ zu spüren, war wichtiger als ihre theoretischen Schriften.

Im Nachhinein ließen die siegreichen Parteien die Geschichte ihrer Revolutionen als Triumphe ihrer ideologischen Ideen schreiben. In Russland habe die Revolution nur auf Grund des Leninismus gesiegt und in China auf Grund der Mao Zedong-Ideen. Tatsächlich hatten jedoch weder Lenin noch Mao Zedong klare Konzepte und modifizierten ihre Strategien ununterbrochen. Lenin lehnte das Agrarprogramm der Sozialrevolutionäre, die Rettung der Dorfgemeinde, 20 Jahre lang ab, bis er es nach der Oktoberrevolution schließlich absegnen musste.

Auch Mao entwickelte auf den Dörfern in den roten Stützpunktgebieten in den 30er Jahren ein Verständnis für revolutionäre Mikropolitik und experimentierte mit verschiedenen Varianten der Bodenform. Diese Erfahrungen waren für die Siege der Revolutionen wichtiger als die großen Theorien, die versuchten, sie zu begründen. Lenins Imperialismus-Theorie (Übergang von der Konkurrenz zum Monopol) stand nicht nur im Widerspruch zur Marx’schen Werttheorie, sondern sie war und ist auch empirisch unhaltbar. [8] Maos „Bericht zur Bauernbewegung in Hunan“ (1927) wurde zu dem zentralen Text der chinesischen Revolution und nicht seine ökonomischen Analysen der Verhältnisse auf dem Land.

Die chinesische Revolution siegte keineswegs auf Grund einer ländlichen Guerilla-Strategie, sondern nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus der Mandschurei 1945 wurde der Rest des Landes durch die Volksbefreiungsarmee in einem konventionellen Krieg mit schwerindustrieller Basis im Rücken erobert. Die Größe von Lenin und Mao besteht vielmehr darin, den richtigen Zeitpunkt für den Umsturz gespürt zu haben. Die Möglichkeit, Herrschaft zum Einsturz zu bringen, ist immer nur in einem kurzen Augenblick vorhanden. Lenins Aufruf zu einer weiteren Revolution im April 1917 wurde von der Mehrheit der bolschewistischen Parteiführung abgelehnt. Žižek schreibt über Lenin im Oktober: „Lenin war deshalb so erfolgreich, weil sein Appell an der Parteinomenklatura vorbei ein Echo in dem fand, was man als revolutionäre Mikropolitik zu bezeichnen versucht ist, nämlich der unglaublichen Zunahme basisdemokratischer Bewegungen und überall in den russischen Städten aus dem Boden schießenden Lokalkomitees, die die Dinge selbst in die Hand nahmen und dabei die Autorität der ‚legitimierten‘ Regierung ignorierten. Dies ist die ungeschriebene Geschichte der Oktoberrevolution, die Kehrseite des Mythos der winzigen Gruppe erbarmungsloser Revolutionäre, die einen coup d’etat durchführten.“ [9]

5. These: Auch die Revolutionen in der 3.Welt sind nur im Kontext von Kriegen zu verstehen. Die Organisation des Krieges zur nationalen Befreiung fiel (im besten Fall) mit der sozialen Revolution zusammen.

Der Zusammenhang zwischen Krieg und Revolution im 20.Jahrhundert kann nicht überbetont werden. Der 2.Weltkrieg hatte auch die Verhältnisse in den Kolonien zum Tanzen gebracht. In China, Vietnam und Nordkorea fiel die soziale Umwälzung der Gesellschaft mit der Organisierung des Krieges gegen die Besatzer zusammen. Durch die Bodenreform wurden die Bauern in den Aufbau einer „Volksarmee“ einbezogen. (Diesen Zusammenhang hatten die Kommunisten im spanischen Bürgerkrieg [1936-39] noch nicht begriffen, da die Führung des Krieges gegen Franco und die soziale Revolution schematisch gegenüber gestellt wurde. In Jugoslawien und Griechenland verfolgten hingegen die Kommunistischen Parteien eine ähnliche Strategie wie ihre chinesischen und vietnamesischen Genossen). Die bäuerlichen Partei-Armeen wurden zur Triebkraft der Revolutionen in Asien. Spontane Bewegungen von unten spielten in diesem Kontext eine viel geringere Rolle als in der russischen Revolution. Nach den Siegen dachten die Revolutionäre weiterhin in militärischen Kategorien, was für die Folgen des Aufbaus einer neuen Gesellschaft negative Folgen hatte. Sie erledigten die Aufgabe der Bourgeoise („Nation building“ und bürgerliche Revolution) mit Bravour, scheiterten aber daran, den Sozialismus aufzubauen.

6. These: Der emanzipatorische Charakter von nationalen Befreiungsbewegungen ist weit überschätzt wurden.

Die nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika, im Mittleren Osten und in Asien, die in der Regel unter dem Namen „Sozialismus“ antraten und Teil der „Blockfreien-Bewegung“ waren, sind kläglich geendet. Sie brachten in der Regel die Herrschaft der „eigenen Bourgeoise“ oder Militärs hervor, die nicht in der Lage waren, die sozialen Probleme der Massen der Stadt- und Landbevölkerung zu lösen. Die post-kolonialen Regimes unterschieden sich nur erschreckend wenig von den kolonialen. Weder die Landfrage konnte gelöst, noch die Armut in den Vorstädten beseitig werden. In den schlimmsten Fällen bildete sich noch nicht mal eine kapitalistische Gesellschaft heraus. Eine Illusion der orthodoxen Marxisten-Leninisten, aber auch der Anti-Imperialisten, war die Annahme, dass die nationale Befreiung eine Vorstufe zur sozialen Befreiung sei. Wenn man erst alle weitgehenden Forderungen und Wüsche der nationalen Sache unterordnen würde, käme dafür später die Belohnung der sozialen Emanzipation. Es würde sich automatisch eine Klassenspaltung der Gesellschaft nach der Unabhängigkeit herausbilden. Stattdessen wurden in der Regel die radikalen Teile der Bewegung verfolgt und unterdrückt (China 1927, Ägypten und Irak). Die Revolutionäre konnten ihren Hals nicht mehr aus der Schlinge der nationalen „Befreiung“ ziehen. Durch den Nationalismus wurden neue Gruppen in der Bevölkerung marginalisiert. Ein Kampf gegen Besatzung sollte daher immer auch mit einer schonungslosen Kritik aller Unterdrückungsverhältnisse der eigenen „Nation“ einhergehen.

7. These: Das leninistische Parteimodell war relativ erfolgreich zur Eroberung der Staatsmacht, konnte aber keine emanzipatorische Gesellschaft hervorbringen.

Das leninistische Modell einer zentralistisch geführten Avantgardepartei war relativ erfolgreich, wenn es um die Eroberung der Macht oder die Gewinnung eines Bürgerkrieges ging. Das traf für China und Vietnam noch mehr zu als für Russland. In Westeuropa wurde das Modell Mitte der 20er Jahre auf die kommunistischen Parteien übertragen („Bolschewisierung“) und auch nach dem Scheitern der anti-autoritären Phase nach 1968 wieder entdeckt („Parteiaufbau“). Die Orientierung auf die Eroberung der Staatsmacht hatte jedoch schwerwiegende Folgen für den Alltag der Organisation, auch wenn sie noch so klein und unbedeutend war. John Holloway schreibt: „So wird argumentiert und die Jugendlichen werden in die Bedeutung der Eroberung der Staatsmacht eingeführt: Sie werden entweder zu Soldaten oder zu Bürokraten ausgebildet, je nachdem, wie die Eroberung der Staatsmacht verstanden wird. ‚Baut zuerst die Armee auf, baut zuerst die Partei auf, dann können wir uns der Macht, die uns unterdrückt, entledigen‘. Der Aufbau der Partei (oder der Aufbau der Armee) überschattet dann bald alles andere. Was ursprünglich negativ war (die Ablehnung des Kapitalismus), wird in etwas Positives verwandelt (Aufbau von Institutionen, Aufbau der Macht). Die Einführung in die Eroberung der Macht wird zwangsweise zu einer Einführung in die Macht selbst. Die Eingeweihten lernen die Sprache, Logik und die Berechnung der Macht; sie lernen mit den vollständig machtfixierten Kategorien der Sozialwissenschaft umzugehen. Differenzen innerhalb der Organisation werden zu Machtkämpfen. Manipulation und Beeinflussung werden zu einem Lebensstill.“ [10]

Dieses Modell unterdrückt die Wünsche und Bedürfnisse der Revolutionäre, da es ja noch „zu früh“ sei und man als Partei-Soldat seine Pflicht bis zum Sieg der Weltrevolution asketisch erfüllen müsse. Später wurde die Abschaffung des Staates auf den Sankt-Nimmerleinstag-Tag vertagt und eine fatale Dialektik propagiert, dass nur die Verstärkung des Staates und der Disziplin eines Tages das Reich der Freiheit bringen würde.

1967-73: Unruhen in den Metropolen

8. These: 1968 wurden die Fragen der Avantgarde und Repräsentation neu gestellt. Den Anspruch auf die Führung der Revolution hatte nicht mehr die kommunistische Partei als Repräsentant der Arbeiterklasse, sondern die Revolutionäre, die am radikalsten das System angriffen. [11]

Die traditionellen kommunistischen Parteien hielten ihren Führungsanspruch für selbstverständlich und hatten in Ländern wie Italien oder Frankreich nach dem 2.Weltkrieg den Frieden mit dem System gemacht. Studenten und radikale Arbeiter stellten durch ihre Streiks und Proteste den Status Quo in Frage und ignorierten die Weisungen von Partei und Gewerkschaften. In Latein-Amerika beanspruchten die Guerillas in vielen Ländern die Führung der Revolution. In Kuba siegten sie sogar gegen die Kommunistische Partei, die mit dem Batista-Regime paktiert hatte. In China griffen die Roten Garden und Rebellen den Herrschaftsanspruch der alten Parteielite an, die ihre Legitimation aus der Teilnahme an der Revolution bezog, die schon lange zurück lag. 1968 stellte somit das alte leninistische Paradigma der Repräsentation der Massen durch die Partei in Frage und auch das Dogma, dass die Revolution erst beginnen könne, wenn man die Mehrheit der Bevölkerung durch reformistische Interessenvertretung gewonnen habe. 1968 verwarf die Hierarchisierung der Politik in revolutionäre Forderungen, Einheitsfront- und Volksfront, Haupt- und Nebenwiderspruch: „Wir wollen alles“.

9. These: Mao Zedong versuchte, durch die Kulturrevolution die Krise des leninistischen Repräsentationsmodells zu überwinden. Durch ihr Scheitern blieb allerdings auch der Maoismus weiter im Leninismus behaftet.

In den 1960er Jahre erkannte Mao einige zentrale Probleme des leninistischen Repräsentation-Modells. [12] Er befürchtete, dass Enthusiasmus und Begeisterung für die Revolution im Alltag der bürokratischen Institutionen immer mehr erstickt werden könnten. Außerdem bestünde die Gefahr, dass sich aus den Parteikadern eine neue Klasse bilden könnte, die ihre Macht zur Unterdrückung und Ausbeutung der Massen missbrauchen und China auf einen kapitalistischen Weg führen könnten. Der Versuch dieses Dilemma zu lösen, war die „große proletarische Kulturrevolution“, in deren Frühphase (1966-1968) Massenbewegungen von unten zur Kritik an Parteifunktionären losbrachen. Zumindest plante die Parteilinke, neben dem Parteiapparat basisdemokratische Partizipation nach dem Vorbild der Pariser Kommune zu ermöglichen. 1968 eskalierten allerdings die Konflikte zwischen den diversen Gruppen der Rebellen und Rote Garden so, dass Mao die Armee einsetzte und nach 1969 die Herrschaft der Partei in der alten Form Schritt für Schritt wieder hergestellt wurde. Als Revolutionstheorie bleiben jedoch einige Aspekte des Maoismus heute noch interessant, z. B. dass die Rolle des revolutionären Subjektes nicht einer bestimmten sozialen Gruppe zugeschreiben, sondern immer wieder neu definiert werden muss. Zudem erkannte die kulturrevolutionäre Linke, dass staatliche Fabriken oder Universitäten keinen sozialistischen Charakter haben, wenn sie alte Formen der Arbeitsteilung nicht in Frage stellen und die Massen nicht an der Ausübung der Macht partizipieren lassen. Eine institutionelle Lösung für dieses Problem fanden jedoch auch sie nicht. Die „permanente Revolution“ Maos überforderte die Energie und Kräfte meisten Menschen und verkam schnell nur Routine.

10. These: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrisen und revolutionären Wellen.

Ein Zusammenhang zwischen Massenkriegen und Revolutionen kann festgestellt werden, auf Weltwirtschaftskrisen (1857-59, 1873-79, 1896, 1929, 2008) folgten keine Umstürze. Auch schlimme Hungersnöte brachten in der Regel keine Aufstände hervor, da die Menschen zu sehr mit dem Kampf um das nackte Überleben beschäftigt waren. [13]

Vielmehr scheint es, dass Radikalisierungen entstehen können, wenn durch einen Aufschwung oder Reformen in der Bevölkerung Erwartungen geweckt werden, die dann enttäuscht werden. Die Revolten der Studenten und Arbeiter in Frankreich, Italien und Deutschland um 1968 brachen in einer Phase von Stabilität, Wachstum und „Vollbeschäftigung“ aus. Der sichere Platz in der fordistischen Gesellschaft, den die Eltern der Kriegsgeneration angestrebt hatten, wurde von vielen ihrer Kinder abgelehnt. Auch die Bewegung vom Platz des Himmlischen Friedens von 1989 in China folgte nach einen erfolgreichen Jahrzehnt der Reformpolitik.

11. These: Die Bewegungen um 1968 sind trotz ihres Scheiterns wichtig, da sie die Revolutionierung und Veränderung des Lebens auf die Tagesordnung gesetzt haben. Die Konzepte eines bewaffneten Kampf (Stadt-Guerilla, Brigate Rosse, Black Panther) waren ohne den Kontext eines „totalen Krieges“ zum Scheitern verurteilt.

„Das Private ist politisch.“ Mit dem Anspruch, den Alltag zu verändern, legten die frühen 68er eine wichtige Grundlage, an die die Zweite Frauenbewegung und die Schwulen- und Queerbewegung anknüpfen konnten. Kommunen, Wohngemeinschaften, Künstler-Kollektive, Kinderläden und alternative Formen von menschlichen Beziehungen sollten neue kollektive Lebensformen und individuelle Emanzipation jenseits von Staat und Kleinfamilie schaffen. Die K-Gruppen, die sich überwiegend an einem kleinbürgerlich-proletarischen Lebensstil orientierten, waren dagegen weniger radikal. Nach dem Scheitern der anti-autoritären Bewegung versuchten marxistisch-leninistische Gruppen oder auch Stadt-Guerilla wie RAF, Wheaterman Underground oder Brigate Rosse, in den Metropolen eine Revolution durchzuführen. Die Mehrheit der Bevölkerung der Friedensgesellschaft wollte einen Zusammenhang zwischen der Gewalt in der 3.Welt und dem Wohlstand in den Metropolen jedoch nicht sehen und stand bewaffneten Konfrontationen linker Gruppen mit der Staatsmacht feindlich gegenüber. Zudem entpolitisierten sich die bewaffneten Gruppierungen zunehmend, indem sie die Gefangengenbefreiung zum Mittelpunkt ihrer Aktionen machte, die sie immer weniger erklärten, und den Kontakt zu den sozialen Bewegungen verloren. Ohne den Kontext des „totalen Krieges“, in dem sich eine Massenarmee gegen die eigene Regierung richtet, scheint ein bewaffneter Kampf gegen den Staat in den Metropolen aussichtlos.

Hier und heute

12. These: Heute gibt es kein einheitliches anzurufendes revolutionäres Subjekt mehr. Neuauflagen von „Randgruppen“-Strategien beantworten jedoch die Frage nicht, wie die Mehrheit der Gesellschaft gewonnen werden kann.

Wenig Sinn hat es heute, einheitliche revolutionäre Subjekte wie DIE Arbeiterklasse, DIE unterdrückten Völker oder DIE Frauen anzurufen. Noch können neue Konzepte wie die Multitude diese Leerstelle ersetzen. Es lässt sich nicht durch eine korrekte wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse voraus bestimmen, welche Teile der Gesellschaft sich als erstes gegen das System wenden werden. Der frühe Marx ging davon aus, dass sich Klassen nur im Kampf formieren: „Die einzelnen Individuen bilden nur insofern eine Klasse, als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andre Klasse zu führen haben; im übrigen stehen sie einander selbst in der Konkurrenz wieder feindlich gegenüber.“ [14]

Das Werden einer revolutionären Klasse ist daher Teil unseres Projekts. Leider wurde der alte Fetisch der Arbeiterklasse in Folge der sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre teilweise durch ein Ignorieren der sozialen Frage und der Bedürfnisse der „weißen“ Arbeiter und Arbeiterinnen abgelöst. Auf verschiedene „Randgruppe“ (Schwarze in den Ghettos, Bauern in der 3. Welt, Subkultur-Teenager oder Migranten) wurden von Linken eigene Hoffnungen und Wünsche projektiert. Rassismus, Homophobie oder Sexismus können keineswegs mit dem Kapitalverhältnis allein erklärt werden, noch werden sie automatisch mit ihm fallen. Trotz aller Sympathie für die „Randgruppen“ muss heute überlegt werden, wie auch die Mehrheitsgesellschaft für radikale linke Politik gewonnen werden kann.

13. These: Die Revolution ist ein Kampf für die Aufhebung von Klasse, Rasse und Geschlecht.

Viele Bewegungen entwickelten positive Identitäten (Arbeiter, Frau, Schwarzer, Schwuler usw.), um sich gegen Ausgrenzung und Unterdrückung zu wehren. Diese positiven Identitäten hatten einen strategischen Nutzen, produzierten aber auch neue Ausschließungen und Grenzen. Negri und Hardt unterscheiden zwischen Emanzipation und Befreiung: „Whereas emancipation strives for the freedom of identity, the freedom to be who you really are, liberation strives for the freedom of self-determination and self-transformation, the freedom to determine what you can become.” [15] Der Kommunismus sei kein Projekt der Emanzipation, sondern der Befreiung. Der Klassenkampf wird zur Aufhebung des Proletariats und damit aller Klassen geführt. Dazu ist die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmittel und Grund und Boden notwendig. Ein revolutionärer anti-rassistischer und feministischer Kampf strebt die Überwindung der Kategorisierung und Hierarchisierung der Menschen nach Rasse und Gender an: „Just as revolutionary class struggle aims at the annihilation not of all bourgeois people but of their ‚sociopolitical role and function‘ (along with, we would add, the sociopolitical role and function of the workers), so too revolutionary feminist and antiracist politics attack not only sexists and racists, or even patriarchy and white supremacy, but the bases of gender and class identities as well.” [16]

14. These: Wir müssen uns selbst verändern, ohne zur therapeutischen Selbstbeschäftigungsgruppe zu werden.

Ohne die Idee einer politischen Revolution aufzugeben, müssen wir heute auch damit beginnen, unser Leben und uns selbst zu verändern. Marx schrieb in den „Thesen zu Feuerbach“: „Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muss (…). Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.“ [17] Die Arbeit an sich selbst und an Beziehungen hat in der Vergangenheit sowohl in der feministischen als auch der autonomen Bewegungen nicht selten dazu geführt, dass sich Organisationen in therapeutische Selbstbeschäftigungsgruppen verwandelt haben. Besonders zentrale Punkte des Alltags, wo sich Machtverhältnisse konzentrieren, sind unsere Körper, Sexualität, Kinder und Familie. Sex heißt nicht nur Penetration entlang der heterosexuellen Matrix, sondern ein Überschreiten von Identitäten und Normierung. Wir wollen eine Gesellschaft, in der sich der Mensch nicht täglich in die Kategorien „Frau“, „Mann“, „heterosexuell“, „homosexuell“, „jung“, „alt“, „exotisch“ oder „behindert“ einordnen muss. Liebe, Zärtlichkeit, Leidenschaft, Rausch, Ektase und Lust sollen nicht in intentionelle Rahmen eingepfercht werden. Wir wollen eine Gesellschaft, in der jede selbstbestimmte Form von Beziehungen zwischen Paaren oder Gruppen, akzeptiert wird.

15. These: Marx und Kropotkin beschließen in den Flitterwochen: Die Revolution zielt auf die Aufhebung des Staates. [18]

Der Staat ist kein Gegensatz zum Kapitalverhältniss, sondern ist zu dessen Aufrechterhaltung unabdingbar. Nicht nur Lohnarbeit, sondern auch der Staat als bürokratisches Monstrum und der Parlamentarismus als Form der Repräsentation produzieren Fremdbestimmung und Entfremdung. Der Staat stirbt nicht eines Tages von alleine ab, (das hat die Geschichte gezeigt), sondern es bedarf aktiver Akte seiner Ersetzung durch selbstorganisierte Strukturen der Gesellschaft. Für Marx richtete sich die Revolution zumindest in „Bürgerkrieg in Frankreich“ gegen den modernen Staat als solches. Er schrieb über die Pariser Kommune von 1871: „Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft; sie war eine Rücknahme des eignen gesellschaftlichen Lebens durch das Volk und für das Volk. Sie war nicht eine Revolution, um die Staatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klasse an die andre zu übertragen, sondern eine Revolution, um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft selbst zu zerbrechen.“ [19]

16. These: Die Revolutionen in Tunesien und Ägypten haben gezeigt, dass die Armee der Kern des Staates ist. Der Sturz von politischer Herrschaft muss nicht mit einer sozialen Revolution zusammenfallen.

Für Lenin war die Armee der Kern des Staates, für Max Weber das Gewaltmonopol. Die Umstürze in Ägypten und Tunesien waren nur erfolgreich, weil sich die Armee weigerte, die Volksbewegungen niederzuschlagen. Der Preis für das Bündnis mit Armee ist allerdings, dass es schwierig wird, gegen die Interessen der Offiziere etwas durchzusetzen. Wenn die Armee sich nicht oder nur teilweise gegen die Regierung stellt wie in Syrien oder Libyen, ist es unwahrscheinlich, dass eine friedliche Revolution Erfolg haben kann. In Westeuropa werden in der Linke keine Debatte mehr zur Rolle der bewaffneten Formationen des Staates geführt, auch vielleicht deshalb, weil die Herrschenden nicht gezwungen sind, unmittelbare Gewalt gegen soziale Bewegungen einzusetzen. Was bedeuten jedoch die europaweiten Tendenzen, die Wehrpflicht abzuschaffen und durch Berufsheere zu ersetzen, für die Möglichkeit einer Revolution?

Marx schrieb: „Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch.“ (MEW 1; 409). Politische und soziale Herrschaft fallen in einer modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht unbedingt zusammen. Das Kapitalverhältniss ist vor allem eine Form der sozialen Herrschaft. Die politische Herrschaft über den Staat muss die Bourgeoise nicht selbst direkt ausüben. Der Sturz der politischen Herrschaft in Tunesien und Ägypten hat keine soziale Revolution ausgelöst. Die herrschenden Familienclans um Ben Ali und Mubarak scheinen noch nicht einmal mit dem Staatsapparat identisch gewesen zu sein. Künftige sozialitische Revolutionen müssen nicht nur eine Überwindung des Kapitalverhältnisses anstreben, sondern auch die Herrschaft des Staates über die Gesellschaft aufheben.

Wien, Mai 2011

[1Ein spannendes “bürgerliches “ Werk mit vielen sozialgeschichtlichen Beiträgen zu Bauern, Arbeitern und Frauen ist: Suny, (Ed.), The Cambridge History of Russia, 20th century (New York: Cambridge University Press 2006).

[2Für eine etwas andere Einteilung siehe: Immanuel Wallerstein, “New Revolts against the System”, (2002) http://www.newleftreview.org/?view=2420

[3Dorothy Atkinson, The end of the Russian land commune, 1905-1930 (Stanford: Stanford University Press, 1983), 375. Siehe auch Roger Bartlett, ed., Land commune and peasant community in Russia: Commune forms in imperial and early Soviet society (Basingstoke: Macmillan in association with the School of Slavonic and East European Studies, University of London).

[4Josef Stalin, Gesammelte Werke, Band 11 (Berlin: Dietz Verlag), 132-133

[5Von daher ist die Oktoberrevolution kein gutes Beispiel für die Richtigkeit von Leo Trotzkis Theorie der „permanenten Revolution“, die besagte, dass eine längere demokratische Etappe nicht möglich sei, weil das Proletariat, ein Mal an der Macht, zur Verwirklichung eines sozialistisches Programms schreiten müsse. Die „Heimatfront“ hielt bis zum letzten Tag des Krieges. In den Ländern der Alliierten unterstützten die kommunistischen Parteien innerhalb der Volksfront die Regierungen. Nur in Ländern der 3.Welt zog der Weltkrieg revolutionäre Wellen nach sich.

[6Mehr zu dieser Frage siehe: Stephen M. Walt, “Revolution and War“, World Politics, 44 (3), (1992), 321-368.

[7Zur Lage der Arbeiter im Nationalsozialismus siehe: Kolja Wagner, „Der Nationalsozialismus: Ein Angriff des Kleinbürgertums auf die Moderne“ http://www.kommunistische-debatte.de/faschismus/nationalsozialismus2000_5.html

[8Siehe z.B. Klaus Winter, „Monopolkapitalismus und Finanzkapital: Zur Problematik beider Begriff in Lenins Imperialismusschrift“, http://www.kommunistische-debatte.de/imperialismus/monopol1987.html Zudem wurden in Zug der Strukturreformen des Neo-Liberalismus seit den 1980er Jahre viele Monopole wie Bahn, Post, Strom- und Wassernetz aufgelöst. Eine Ersetzung der Konkurrenz durch Monopole als Charakteristikum der kapitalistischen Wirtschaft fand zu keinem Zeitpunkt statt. Lenin schreibt seine Schrift in einer Phase, wo der deutsche Staat eine starke Rolle in der deutschen Kriegswirtschaft spielte. Winter weist jedoch nach, dass Lenin seine eigenen Quelle sehr manipulativ zitiert. Außerdem gab in anderen kapitalistischen Ländern wie den USA auch keine Verschmelzung von Industrie- und Finanzkapital.

[9Slavoj Zizek, Die Revolution steht bevor: Dreizehn Versuche über Lenin (Frankfurt (M): Suhrkamp 2020), 11.

[10John Holloway, Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen (Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot, 2004), 26.

[11Diese Entwicklung wird in dem großartigen Dokumentarfilm von Chris Marker Le Fond de l’air est rouge (1977) stark betont.

[12Für mehre Details siehe. Felix Wemheuer (Hg.), Maoismus: Ideengeschichte und revolutionärer Geist (Wien: Promedia Verlag, 2008), 7-32.

[13Cormac O’Grada, Famine: A short history (Princeton University Press: Princeton, 2009), 54-55.

[14Karl Marx, „Die deutsche Ideologie“, in: Ausgewählte Werke, Band 1 (Berlin: Dietz Verlag, 1972), 259.

[15Antonio Negri und Michal Hardt, Commonwealth (Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press, 2009), 321.

[16Negri und Hardt, Commonwealth, 342.

[17Karl Marx, „Thesen über Feierbach“, http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_533.htm

[19Karl Marx, „Bürgerkrieg in Frankreich“, Ausgewählte Werke, Band 4 (Berlin: Dietz Verlag, 1972), 22f.

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