Internationale Situationniste, Numéro 5
 
1976

Antwort an Schweicher

Jeden Tag wird der Bankrott der herrschenden Kunst sogar vor den Augen derer unverkennbarer, die ihre hervorragensten Kenner sind. In ihrer Verzweiflung verwechseln diese dann den Bankrott dieser Kunst, an der sie selbst teilnehmen, mit einem metaphysischen Bankrott jeder Kunstpraxis. Damit verfälschen sie den Sinn der immer noch zu machenden bzw. kaum heimlich begonnenen modernen Experimente. An dieser erzwungenen Heimlichkeit tragen übrigens diese patentierten Kenner zum großen Teil die Schuld.

Als Charles Estienne zum Beispiel seinen ganzen Bluff mit der modernen Kunst aufgab, versuchte er doch etwas vom Schiffbruch zu retten, er beschlagnahmte den „Tachismus“. Er war sich natürlich dabei mit all den permanenten Suchern nach falschen Modernisierungen einig. Aber alle haben die Tatsache verschwiegen, dass der wahre Tachismus schon zuende gebracht worden war — und sogar vor der Intervention ihres Aushängeschildes. Die Erfinder des tachistischen Verfahrens waren schon gestorben und ihre Imitatoren bereits in den Schaufenstern, und natürlich auch in den Museen der modernen Kunst zu finden, bevor man Wols und Pollock dort annehmen wird.

Zum Glück ist Kurt Schweichers neueste Kritik radikaler — sogar den Tachismus gibt er auf. Es gibt viele sympathische Stellungnahmen in seinem Buch „Die Kunst ist tot, es lebe die Kunst!“ (siehe besonders den 4. Punkt seiner Thesen), die denen der Situationisten ähneln, aber alles bleibt leider sehr konfus. Kurt Schweicher versteht die Rolle des Negativen nicht, das er in der modernen Kunst nicht anerkennt. Er versteht die tiefe Einfachheit all der Probleme nicht, deren falsche Kompliziertheit er betrachtet; nicht besser versteht er die neue Totalität, die höhere Kompliziertheit, die sich von dem Bewusstwerden dieser Einfachheit der Krise der modernen Kunst aus entwickelt. Wenn Schweicher die von ihm präsentierten Illustrationen, diese zufällig aus den Abfällen der Maschinenarbeit zustandegekommenen Bilder, einseitig verurteilt, so übersieht er die offensichtliche Tatsache, dass solche Gegenstände erst nach dem effektiv von den Künstlern verwirklichten Experiment der Zerstörung des Bildes zu Kunstgegenständen geworden sind. Die Auswahl, die er unter diesen Gegenständen trifft, wird auch durch seinen persönlichen Geschmack und seine besondere Art bestimmt, ein gewisses vollendetes Stadium der Kunst zu kennen: im vorliegenden Fall geht sein Geschmack bis zur Karrikatur der informellen Durchschnittsmalerei.

Schweichers Hauptirrtum besteht in dem Glauben, zu viele Mittel seien in die moderne Kunst investiert worden — während es eigentlich viel zu wenig davon gibt.

Um als Künstler bekannt zu werden, investieren sehr viele pseudo-moderne Künstler künstlich die Geldmittel, die sie aus ihren bürgerlichen Beschäftigungen erwerben — in erster Linie sind sie Rechtsanwälte, Werbefachleute, Polizisten. Dadurch bildet sich eine besondere ökonomische Schicht, die sich durch einen neuen Konformismus zu erkennen gibt — und zwar gerade durch diesen nicht-ästhetischen Akademismus, den Schweicher mit Recht denunziert. Kurt Schweichers Gedanken spiegeln nur die tatsächliche Konfusion seiner Umwelt wieder. In ihr glaubt man im Geist des freien, konkurrenzfähigen Unternehmens, dass es besser ist, einer großen Anzahl von „Avantgardeströmungen“ mit verschiedenen Zielen zu helfen — genauso wie die Schwachköpfe, die ein Maximum an Banknoten aufstapeln, um sicher zu sein, in der Lotterie zu gewinnen.

Zu gegebener Zeit gibt es doch nur eine einzige mögliche Richtung, um andere Bedingungen für die Kunst zu schaffen. Übrigens ist ein sehr einfacher Prüfstein vorhanden, um unter anderen diejenige Tendenz zu erkennen, die in diese Richtung geht: sie ist nämlich die einzige, die nicht gekauft werden kann.

Die genügend unterrichteten Leute wissen schon recht gut, auch wenn sie nicht gern davon sprechen, dass das jetzt die Situationistische Internationale ist.

Dieser Artikel erschien als Leitartikel der zweiten Nummer der deutschen situationistischen Zeitschrift Spur als Antwort auf Kurt Schweichers Buch „Die Kunst ist tot, es lebe die Kunst“.

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