Streifzüge, Heft 1/1997
März
1997

Beispiele linker Mythen

An Hand gängiger antifaschistischer Praxis

Gerhard Scheit schreibt, er hätte bezüglich des Artikels „Schlagt die Bevölkerung, wo ihr sie trefft“ größere Differenzen mit Schandl als sonst. Er schreibt u.a. von Verharmlosung (der Mitte) und von sofortiger Notwehr.

Ich kann nicht nachvollziehen, warum bei ihm dieser Artikel anders ankommt als die anderen Schandl-Arbeiten. Es kann nur heißen, daß er an dieses Thema anders herangeht als an andere. Schandl geht ja an alleThemen in mehr oder weniger derselben Weise heran.

Viele LeserInnen haben bei Schandls Artikeln aber immer das Problem, das Scheit nur bei diesem Artikel hat: „Verharmlosend, rechtfertigend, abgehoben, nihilistisch und daher zynisch und präpotent“, lautet die Kritik. Weil: „Was hilft die beste Analyse, oder endloses Theoretisieren, wenn die Menschen krepieren, ihnen der letzte Groschen genommen wird, sie weit entfernt jeglicher Menschenwürde ihr Dasein fristen, oder eben, wenn sie von Nazis verfolgt oder totgeschlagen werden?“

Daran wird unter anderem einmal mehr auch die Kluft zwischen sogenannten TheoretikerInnen und PraktikerInnen offenbar. Dieses alte Leiden der Linken betrifft zwar alle gesellschaftlichen Bereiche, aber aktuell wird es am Beispiel Antifaschismus und Antirassismus besonders deutlich.

Rassistische versus andere Unmenschlichkeiten

Scheits Beitrag zeugt — wie in antifaschistischen Zusammenhängen meist Usus — von einem „qualitativen“ Unterschied zwischen rassistisch und anders bedingten Unmenschlichkeiten. Sind nicht alle Unmenschlichkeiten gleich bedeutend — egal ob getötete „AusländerInnen“, drogentote Jugendliche, unter dem Existenzminimum vegetierende Familien, vergessene, dahinsiechende Alte oder all die täglich Verreckenden oder lebendig Toten in der sogenannten Dritten Welt und und und? Warum soll ein Verfolgter oder ein Toter mehr bedeuten als ein anderer — zumal die Anzahl derer, die durch die heute ganz alltäglichen quasi-natürlichen Folgen der herrschenden Verhältnisse zu Leid und Tod kommen, ungleich höher ist, als durch andere Ursachen? (Mir kann ja im Alltag nicht nur ein Schwarzer, der geschlagen wird, begegnen, sondern auch Menschen, die aus anderen Gründen in Bedrängnis oder Lebensgefahr sind; vgl. Scheit).

Der historische Faschismus ist eine (ganz spezifische) Angelegenheit, die schon aufgrund des Holocaust, also der Art und der Anzahl derer, die ermordet wurden, etwas Einzigartiges darstellt. Heutiger „Faschismus“ ähnelt den historischen Verbrechen wohl nur in einigen Aspekten. Daß Rassismus und Antisemitismus genauso wie Sexismus als ganz spezifische Ausformungen der Verfaßtheit unseres gesellschaftlichen Systems betrachtet werden müssen, ist klar. Eben diesen Gesamtzusammenhang verlieren aber viele neben ihrer „antirassistischen Praxis“. Bereichsspezifische Beschränktheit wird zum Programm gemacht. Der gesellschaftlichen Totalität, die sich unter anderem rassistisch äußert, wird ausgewichen, um sich der partikularen Barbarei hinzuwenden und für die totale erklärt sich niemand mehr zuständig. Dadurch wird auch mitgeholfen, die gesellschaftlichen Zusammenhänge als undurchschaubar zu betrachten. (Vgl. Justus Wertmüller in »Bahamas« 21/1996, S. 7)

Allumfassende Theoriefeindlichkeit

Hintergründe und Ursachen von Faschismus und Rassismus einer eingehenden Analyse zu unterziehen ist die große Ausnahme — im Kreise von antifaschistischen PraktikerInnen sowieso, aber auch von etablierten wie linken WissenschaftlerInnen. Beiträge wie beispielsweise der von Stephan Grigat „Ökonomie der ‚Endlösung‘? Antisemitismustheorie zwischen Funktionalismus und Wertkritik“ in »Weg und Ziel« 1/1997 gehören mit den darin angeführten Beispielen, oder auch dem in diesen Streifzügen abgedruckten Referat von Gerhard Scheit, zur Minderheit wissenschaftlicher Aufarbeitung diesesThemas. Ein Großteil aller Beschäftigung mit Antifaschismus erfolgt durch das Sammeln und Publizieren antifaschistischer Biographien. Diese wissenschaftlich verbrämte „Alltagsgeschichte“ stellt eine äußerst verkürzte Sicht dar, die zwar dem allzumenschlichen Bedürfnis nach „Unvergessenheit“ entspricht, jedoch keinerlei Analyse- und Erklärungsgehalt beinhaltet und somit auch einer Auseinandersetzung mit Gegenwart und Zukunft nicht dienlich sein kann.

Vieles verleitet also zur ketzerischen Frage: Warum blicken viele (junge) Linke in mystifizierender Weise nur auf den (historischen) Faschismus (der Grund der jahrzehntelangen Verdrängung ist unbestritten ein triftiger, rechtfertigt aber keinen Mythizismus) und messen gleichzeitig den weiterreichenden aktuellen Verfaßtheiten — die Rassismus bedingen — wenig Deutung bei.

Diese Frage schließt an zwei weitere an, die mich seit langem beschäftigen:

  1. Warum befassen sich so viele WissenschaftlerInnen vorzugsweise mit „rein“ historischen Themen, und so wenige mit aktuellen bzw. zukünftigen — klarerweise darf dabei geschichtliches Analysieren in keiner Weise vernachlässigt werden?
  2. Warum beschäftigen sich so viele mit dem historischen Faschismus, und nur sehr, sehr wenige — und die erst seit kurzer Zeit — mit der esoterischen Massenbewegung, in der — wie in der historischen Esoterik-Bewegung der Weimarer Republik — biologistische und rassistische Ideologien vertreten werden?

„Dann geh’ halt ‘rüber“ von links

Nochmals zurück zum leidigen Thema Kluft zwischen den sogenannten TheoretikerInnen und PraktikerInnen. Wie Gerhard Scheit schreibt, ist die Spannung zwischen „Moral“ und „Erkenntnis“ — in unserem gesellschaftlichen System — nicht aufzuheben. Die PraktikerInnen können jedoch die Beschränktheit jeglicher Hilfe für Benachteiligte, jeglicher politischer Maßnahmen zur Erlangung von mehr Gerechtigkeit erkennen. Sie werden nie zu wirklicher Gerechtigkeit und Menschlichkeit führen, weil unser aktuelles Gesellschaftssystem Ausbeutung von Mensch und Natur ständig reproduziert. Dies ist die logische Folge des Wertverhältnisses und kann weder mit „neuer Weltethik“ noch mit politischem Kampf aus der Welt geschafft werden.

Paulo Freires eindeutige Worte dazu: Die Einheit von Theorie und Praxis kann nur eine „widerspruchsvolle und dialektische“ sein, und eine der „gespannten Beziehung zwischen Geduld und Ungeduld“. „Verschiebt sich das Verhältnis zwischen Geduld und Ungeduld zugunsten der Ungeduld, verfallen wir in einen Aktionismus, der vergißt, daß es eine Geschichte gibt. Wir meinen, dialektisch zu denken und zu handeln, revolutionär zu sein; in Wirklichkeit erliegen wir einem subjektiven Idealismus, wir verbringen die Zeit, um Pläne, Programme, Projekte zu entwerfen, eine Wirklichkeit aufzuspüren, die nur in unseren ‚revolutionären‘ Köpfen existiert. Sie hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun; sie ist außerhalb von ihr.“

Der Überschätzung von subjektiven Möglichkeiten — à la „wenn nur alle wollen täten, kämen wir schon zu annehmbaren Verhältnissen“ — muß eine radikale Absage erteilt werden: „Wer ändern will, kann es wahrscheinlich überhaupt nur, indem er seine Ohnmacht — gegenüber der überwältigenden Kraft des Bestehenden — zu einem Moment dessen macht, was er denkt und vielleicht auch, was er tut.“ (Adorno)

Last not least: Früher war es Kennzeichen der Reaktionäre auf unsere Kritik mit einem hämischen „dann geh’ halt ‘rüber“ zu kontern, heute ereifern sich Linke oder sich als kritisch Verstehende über unsere praktische Persepektivlosigkeit. Manche bezeichnen es sogar als faschistisch, wenn die Verhältnisse analysiert, aber keine konkreten Handlungsvorschläge gemacht werden. Ihnen sei mit Horkheimer geantwortet: „Wir können die Übel bezeichnen, aber nicht das absolut Richtige.“

P.S.

Joachim Bruhn von »Kritik und Krise« am »Krisis«-Seminar (7.- 9.3.1997 in Göhrde):

  • Was soll die Rede von „Es wird immer schlimmer? ...“ Nach dem Faschismus gibt es nichts Schlimmeres mehr.
  • Bruhns grundsätzliche Kritik am Feminismus: Er sei antisemitisch!