Grundrisse, Nummer 24
Dezember
2007
Justin Akers Chacón und Mike Davis:

Crossing the Border

Migration und Klassenkampf in der US- amerikanischen Geschichte

Berlin: Assoziation A, 2007, 352 Seiten, 20 Euro

Eine der dynamischsten und vielversprechendsten Stränge sozialer Bewegungen in Europa – gemeint sind die Kämpfe von MigrantInnen für Legalisierung und gegen Rassismus und Ausbeutung – hat in Buchform eine neue, sehr wichtige Kontextualisierung mit den entsprechenden Kämpfen in den USA gefunden: „Crossing Borders – Migration und Klassenkampf in der US- amerikanischen Geschichte“ von Justin Akers Chacon und Mike Davis, das im September in deutscher Übersetzung bei Assoziation A erschienen ist, ist ein wichtiger Beitrag für eine transnationale Bewegung für globale soziale Rechte.

Als im August dieses Jahres das NoBorder-Camp in der Ukraine stattfand, nahmen daran auch AktivistInnen aus den USA teil, die für September ein Camp an der Grenze zwischen Mexiko und den USA planten. Dieses Camp fand zwar statt nachdem Chancon und Davis ihr Buch schon herausgebracht hatten und findet deshalb nicht Erwähnung, dennoch merkt mensch beim Lesen, dass hier für die gleichen Dinge eingestanden und gekämpft wird.

Unmittelbarer Anlass für die beiden Autoren, dieses Buch zu schreiben, war ohne Zweifel die große Welle an Demonstrationen, Blockaden und Streiks von MigrantInnen, die die USA im Frühjahr 2006 überzogen haben. Hunderttausende Menschen gingen auf die Straßen, um gegen das sog. Sensenbrenner-Bill (ein Gesetzesentwurf, der vom republikanischen Abgeordneten Sensenbrenner eingebracht wurde und der Rechte von MigrantInnen weitgehend einzuschränken drohte) und für Legalisierung und gleiche Rechte zu demonstrieren. „Ihr habt einen schlafenden Riesen geweckt“, so wird ein Transparent zitiert, das auf einer Demo mitgeführt wurde und mit dem gesagt wird: wir waren schon immer da, wir haben gearbeitet und tragen auch heute wesentlich zum Reichtum dieses Landes bei. Wir sind an den Rand gedrängt, ihr wollt uns nicht sehen – jetzt wehren wir uns!

Mike Davis, der schon durch seine letzten Bücher (u.a. „die Geburt der Dritten Welt“, „Planet der Slums“) wichtige Akzente für emanzipatorische Sozialforschung und politische Praxis gesetzt hat, macht den Anfang und widmet sich auf knapp hundert Seiten den Kämpfen von MigrantInnen bzw. der Repression und Gewalt in der kalifornischen Geschichte. Vorrangiges Thema ist dabei die landwirtschaftliche Produktion, die im Westen der USA schon im 19. Jahrhundert massiv auf die Ausbeutung von entrechteten Billiglohnarbeitskräften angewiesen war. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dort ein soziales Gefüge etabliert, bei dem eine (weiße) besitzende Klasse von Farmern einer großen Masse an LandarbeiterInnen gegenüberstand, von denen letztere multiethnisch zusammengesetzt war und je nach Konjunktur und Bedarf angeworben und abgeschoben, ausgebeutet und kriminalisiert, gegeneinander ausgespielt und verhetzt wurde. Beim Lesen wird einmal mehr klar: Jenes Kalifornien, das auch John Steinbeck in seinen Romanen beschreibt, war ein Modell des Rassismus und der Ausbeutung und wurde nicht zufällig als „Farm-Faschismus“ angeprangert und bekämpft. Dieses Modell hatte Vorbildwirkung für andere landwirtschaftliche Intensivregionen, nicht zuletzt in Europa: Ob im südspanischen Almeria, in Apulien, in den Bouches du Rhone in Südfrankreich, in England oder Holland, die industrielle Landwirtschaft funktioniert heute ebenso wie damals auf Grundlage der Verfügbarkeit von ArbeitsmigrantInnen, die oft nach ethnischen und sexistischen Kriterien gegeneinander ausgespielt werden. In der Publikation „Bittere Ernte“ des Europäischen BürgerInnenforums (2004) ist ebenfalls ein Artikel dieser „Vorbildwirkung“ Kaliforniens gewidmet. Mike Davis knüpft sich das Thema nochmals genauer vor.

Was die Geschichte dieses Teils der USA betrifft, so schildert er eindrücklich die Strukturen weißer Gewalt und den Widerstand der MigrantInnen. War es im Süden der Ku Klux Klan und in Pennsylvanien die Repression durch Großunternehmen, so war für den Westen die Vigilanten- Bewegung typisch. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Bürgerwehren, die mittels ethno- rassistischer Gewalt eine „systemstabilisierende Selbstjustiz“ einsetzten. „Vigilanten nehmen das Recht in die eigenen Hände, um die herrschenden Machtstrukturen zu festigen, nicht um sie zu unterlaufen (...) Ob das jeweilige Ziel des Angriffs ein schwarzer Gefangener, ein Gewerkschaftsfunktionär, ein politischer Radikaler oder ein gewöhnlicher Verbrecher war, die extralegale Gewalt sollte den Status quo aufrecht erhalten.“

So wurde es verunmöglicht, dass der „New Deal“ Roosevelts die ländlichen Gebiete Kaliforniens jemals erreichte. Anders als klassische rechtsradikale Gewalt wird die Gewalt der Vigilanten heute in konservativen Kreisen als „Teil des romantischen Erbes der Frontier-Demokratie“ gefeiert. So besteht weiter ein „Bild des heroischen bürgerlichen Vigilanten, der gelegentlich sein Gewehr schultert, um Recht und Ordnung in einer Gesellschaft wiederherzustellen, die von kriminellen Einwanderern und korrupten Politikern überrannt wird“. Diese weiße Gewalt, die nicht von „oben“, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kam, wandte sich in abwechselnden Konjunkturen gegen chinesische, japanische, philippinische und lateinamerikanische ImmigrantInnen, sowie gegen Schwarze, aber auch gegen weiße marginalisierte Gruppen. Davis: „Manchmal erscheint die Geschichte Kaliforniens wie ein gewaltiges Fließband, das eine Einwanderungsgruppe nach der anderen in denselben Hexenkessel aus Ausbeutung und Vorurteilen transportiert.“ „Fließband“ meint damit nicht nur ein Sinnbild, sondern bezeichnet tatsächlich die Arbeitsverhältnisse, vor allem in der Landwirtschaft. Zitiert wird bei Davis auch der Journalist Carey McWilliams, der Ende der 1930iger Jahre mit seiner Studie „Factories in the Fields“ ein dokumentarisches Gegenstück zu John Steinbecks „Früchte des Zorns“ geschrieben hat.

Damals wie heute ist die Debatte gekennzeichnet von der Zerrissenheit reaktionärer politischer Kräfte zwischen der Notwendigkeit der Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft und dem Wunsch, MigrantInnen abzuschieben und die Grenzen dicht zu machen. Historische wie aktuelle Beispiele belegen allerdings, dass diese beiden Aspekte auch gut unter einen Hut zu bringen sind. In aktuellen migrationspolitischen Diskursen wird deshalb auch von „selektiver Inklusion“ gesprochen. Ein System von Rekrutierungen und Zugangsbeschränkungen verfestigt ein System globaler Apartheid, Migration wird kontrolliert und reguliert – die Grenze spielt dabei eine wichtige Rolle. (vgl. www.nolager.de)

Zurück zum Buch: Im Kalifornien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Pogrome gegen MigrantInnen keine Seltenheit. Vieles erinnert fatal an die rassistischen Ausschreitungen gegen in der Landwirtschaft Beschäftigte im südspanischen El Ejido im Jahr 2000. So wurden „am 24. Oktober 1929, dem Tag, an dem die Wall Street zusammenbrach, (...) Filipinos in Exeter, südöstlich von Fresno, beschossen, als sie weiße Mädchen bei einem Straßenfest begleiteten. Es kam zu einer Schlägerei, ein Weißer wurde erstochen und es kam zu einem Krawall, bei dem weiße Vigilanten, angeführt von Polizeichef C.E. Joyner, Filipinos auf den Feldern verprügelten und mit Steinen bewarfen. 300 Vigilanten brannten ein Lager von philippinischen Arbeitern bei der nahegelegenen Firebaugh Ranch nieder.“ Die im Zitat erwähnte führende Beteiligung eines Polizeichefs bei rassistischen Ausschreitungen zeigt eher die Regel als die Ausnahme der Involviertheit von Polizei, Richtern, Anwälten, Zeitungsherausgebern und anderen lokalen Funktionsträgern bei Ereignissen wie diesen.

Die Hegemonie der Gewalt der Vigilants erreichte in verschiedenen Etappen im späten 19. Jahrhundert bis zum 2. Weltkrieg ein derartiges Ausmaß, dass es für den Mob oftmals möglich war, gefangene GewerkschafterInnen und Radikale aus den Gefängnissen herauszuholen und öffentlich zu verprügeln oder umzubringen. So entkam Emma Goldmann im Jahr 1912 in San Diego knapp dem Lynchtod; ihr Genosse Ben Reitmann, der mit ihr auf Reisen war, wurde allerdings entführt und schwer gefoltert. In diesen Kämpfen spielten die 1905 gegründeten Industrial Workers of the World, IWW, oder Wobblies eine bedeutende Rolle. „Keine andere Gruppierung, nicht einmal die Kommunistische Partei in den 1930er- oder 1950er- Jahren (erzeugte) so große Wut unter den Arbeitgebern, bzw. eine vergleichbare Hysterie in den besitzenden Mittelschichten.“ Dafür verantwortlich war „nicht einmal ihr erklärter Wille, das Lohnsystem abzuschaffen, sondern ihre Bereitschaft, die ausgeschlossenen Arbeiter als Mitglieder aufzunehmen – weiße Landstreicher, Mexikaner, Japaner und Filipinos, die von der konservativen Gewerkschaft AFL verschmäht wurden. Zwischen 1906 und 1921 verbreitete sich der radikal egalitäre und rebellische Geist der IWW wie ein Lauffeuer in den Erntelagern, Schlafbaracken der Eisenbahn, Hobo-camps (Camps für obdachlose WanderarbeiterInnen, Anm.) und Elendsvierteln.“

Im Buch werden Streiks von Erbsen- und SalatpflückerInnen, Arbeitsniederlegungen bei der Trauben- und Kirschernte, sowie der berühmte Ausstand der BaumwollpflückerInnen von 1933 nachgezeichnet. So ermutigend viele Beispiele auch sind, das Fazit der Arbeitskämpfe im ländlichen Kalifornien dieser Zeit war die Zerschlagung des Widerstands durch die Vigilantenbewegung und die „Associated Farmers“, die für die „ungezügelte Despotie des Agrarkapitals über seine Arbeitskräfte“ stand. Was in den Städten erreicht werden konnte, setzte sich nicht in den Agrargebieten durch, wo in den Verpackungsfabriken Maschinengewehre aufgestellt wurden und die Aktivitäten von Landbesitzern, Polizeibehörden, freiwilligen Vigilanten und zum Teil des KKK sich ergänzten.

Justin Acers Chancon geht im zweiten Teil des Buches ausführlich auf den Kolonialismus und Expansionismus der USA gegenüber Mexiko und Mittel- bzw. Südamerika ein, vom mexikanisch- amerikanischen Krieg Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zu den NAFTA-Verträgen, der fortgesetzten primären Enteignung in Mexikos ländlichen Gebieten und dem Widerstand der Zapatistas. Chancon beschreibt das komplexe Zusammenspiel zwischen der Zerstörung bäuerlicher Existenzgrundlagen, aufgezwungenen Importen, dem System der Maquiladoras und der Profitmacherei mit der Kriminalisierung der Migration. Wir lesen über die Funktionsweise des „Bracero-Programms“ (Barcero: „die mit den Händen arbeiten“), eine Art Arbeitsvertrag, die stark an die sog. OMI- Verträge Frankreichs, mit denen ArbeitsmigrantInnen aus Maghreb- Ländern angeworben werden, erinnert. Aktuell gibt es in den USA 1,3 Millionen MigrantInnen, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind, davon 400.000 Kinder. Chancon: „Nach Bundesrecht können bereits neunjährige Kinder in Oregon Beeren pflücken, Zehnjährige können auf jeder Farm in Illinois arbeiten und Zwölfjährige, die an der Seite ihrer Eltern arbeiten, sind kein ungewöhnlicher Anblick am landwirtschaftlichen Horizont Kaliforniens.“

Die beiden Autoren widmen in den verschiedenen Kapiteln der Denunzierung dieser vielfältigen Missstände leider um einiges mehr Raum als dem Widerstand der ArbeiterInnen. Dennoch werden aktuelle Arbeitskämpfe geschildert, wie die umfassende Kampagne der TomatenpflückerInnen in Florida im Jahr 2001, die den Konzern Taco Bell massiv unter Druck setzten und Lohnerhöhungen erzwingen konnten.

Selbstredend arbeiten MigrantInnen in den USA nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in anderen klassischen Niedriglohnsektoren wie Gastronomie, Bau, Prostitution und Hausarbeit. Die Rücküberweisungen aus den USA in die Herkunftsländer der MigrantInnen betragen 167 Milliarden Dollar pro Jahr – im Fall von Mexiko sind diese Remittances „die zweitgrößte legale Devisenquelle nach den Erdölexporten.“ Und: „mehr als 60 % dieser Summe stammen von mexikanischen Frauen, die in den USA leben.“ Als zynische Groteske erscheint dabei Chancons Bericht, dass Anfang 2006 im Repräsentantenhaus von Arizona ein Beschluss gebilligt wurde, „dem zufolge elektronische Geldtransfers nach Mexiko mit einer Steuer des Bundesstaats von acht Prozent belegt werden sollen. Die Steuer, die jedes Jahr 80 Millionen Dollar einbringen könnte, soll verwendet werden, um den Bau eines doppelten bis dreifachen Grenzzauns zwischen Arizona und Mexiko zu finanzieren.“ Dieses absurde Beispiel ist nur die Spitze des Eisbergs in einem fiskalischen System, das (v.a. über die Lohnnebenkosten) neben dem direkten Lohnraub durch die Unternehmer die zweite Säule der ökonomischen Ausbeutung darstellt: Milliarden Dollar kommen jährlich durch die Arbeit von Sans Papiers in die Fonds der Sozialversicherungen, denen keine Leistung gegenübersteht – in vielen europäischen Ländern funktioniert das übrigens sehr ähnlich.

Noch ein Wort zur Militarisierung der Grenze: Seit Präsident Clinton 1994 die „Operation Gatekeeper“ lancierte, haben sich die Todeszahlen an der Grenze durch die Umleitung der Migrationsrouten in unwirtliche, entlegene Gebiete vervielfacht (und wieder kann eine Parallele zum Migrationsmanagement der EU gezogen werden). Paramilitärische Vigilantengruppen, die sich heute „Minutemen“ nennen, greifen der Border Patrol unter die Arme und erhalten von Arnold Schwarzenegger politische Rückendeckung.

Doch genug der Beschreibung der Grausamkeiten, mensch wartet beim Lesen sehnsüchtig auf die Berichte vom Widerstand. Spät und (angesichts der enormen Größe der Bewegung im letzten Jahr) etwas zu kurz wird im Buch darauf eingegangen: So konnten AktivistInnen mehrere Male erfolgreich Minutemen-Treffen in verschiedenen Städten Kaliforniens wie auch an der Grenze verhindern. Die traditionelle, große Gewerkschaft AFL-CIO revidierte vor einigen Jahren „nach einer langen Geschichte der Kollaboration mit den Bossen in der Frage der Einwanderungsbeschränkungen (...) ihre Position und forderte eine allgemeine Amnestie und das Recht aller Beschäftigten, ob mit Papieren oder ohne, sich gewerkschaftlich zu organisieren.“ Die „Immigrant workers Freedom Rides (IWFR)“ konnte mit der Forderung nach Legalisierung der acht bis elf Millionen Papierlosen in den USA schon 2003 massiv mobilisieren, und im Frühjahr 2006 brach schließlich die bereits erwähnte größte Welle an MigrantInnenprotesten in der US-amerikanischen Geschichte los. Im Mai 2006 streikten über drei Millionen Menschen in den USA. Wie das Potential dieser Proteste allerdings für aktuelle und zukünftige Kämpfe genutzt werden kann, bleibt im Buch weitgehend unbeantwortet.

Dennoch ist der politische Ton, den Chancon und Davis anschlagen, sehr sympathisch und „Crossing Borders“ ist somit mit Sicherheit ein wichtiger Baustein in der Bildung einer transnationalen Bewegung gegen Rassismus, Sexismus und Ausbeutung und für gleiche soziale und politische Rechte: Die Rolle der Kämpfe der MigrantInnen für die sozialen Bewegungen werden in Abgrenzung zur allgemein lahmen Haltung der Gewerkschaften in den USA herausgestrichen und der antirassistische Grundton zieht sich mit den Parolen „Making Borders History“ und „Queremos un mundo sin fonteras“ durch das Buch. Chancon zitiert gegen Ende des Buches einen Aktivisten: „... allmählich finden sich die Hände, die die Baumwolle pflückten, und die Hände, die den Salat pflücken, und verbinden Barrios und Ghettos, Felder und Plantagen – um gemeinsam für eine gerechtere und offenere Gesellschaft zu arbeiten.“ Si se puede!!

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