Grundrisse, Nummer 28
Dezember
2008
Pun Ngai und Li Wanwei:

Dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarkfabriken erzählen

Berlin und Hamburg: Assoziation A, 2008. 260 Seiten. 18.00 Euro

„Sie sind geschickt, geschickter als Männer. Sie konzentrieren sich gut und lange. Sie sind fleißig. Sie mucken nicht auf. Überall sind sie am Werk.“ So beschrieb ein Artikel des Nachrichtenmagazins Spiegel im Februar 2005 die Arbeiterinnen in Shenzhen, einer freien Produktionszone im chinesischen Perlflussdelta. Ton und Inhalt des Zitats erinnern an Werbeanzeigen, die in den 1970er Jahren in der deutschen und internationalen Unternehmerpresse die Geschicklichkeit und Fügsamkeit weiblicher Arbeitskräfte in den freien Produktionszonen Lateinamerikas, Nordafrikas und Südostasiens bewarben. Der damalige Kapitalexport aus den Metropolen stellte sich in der Peripherie als gewaltiger Zugriff auf die niedrig entlohnte Arbeit junger, meist unverheirateter Frauen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren dar. Eine 1977 erschienene und damals viel diskutierte Studie von Folker Fröbel, Jürgen Heinrichs und Otto Kreye prägte für die neuen Produktionsstandorte den Begriff der Weltmarktfabriken und schätzte, der Frauenanteil der dort Beschäftigten betrage über 70%. Einige Jahre später wurde diese Schätzung um 10% nach oben korrigiert. Zugleich wurde über Wochenarbeitszeiten von über 80 Stunden berichtet.

Ein Merkmal der damaligen Diskussion war, dass zwar viel über die Ausbeutung unterbezahlter weiblicher Arbeitskraft geschrieben wurde, die Arbeiterinnen selbst aber kaum zu Wort kamen. Wenn sich das in der aktuellen Diskussion über die chinesischen Weltmarktfabriken und die dort beschäftigten Frauen nicht wiederholt, dann wird dafür den Herausgeberinnen der jetzt im Verlag Assoziation A erschienenen Erfahrungsberichte chinesischer Arbeiterinnen zu danken sein. Berichtet wird in erfrischend klaren Formulierungen über das, was eine junge Frau den „bitteren Geschmack der Arbeit“ nennt: „Die Erschöpfung war unerträglich. Wir produzierten leichte, tragbare Telefone. Die Platine war sehr klein und wir mussten in einem irren Tempo sechs oder sieben Bauteile aufstecken. Es war extrem schwierig, die richtige Position für die Bauteile zu finden. Ich war sehr angespannt und wagte nicht, mich während der Arbeit zu unterhalten. Das Fließband lief furchtbar schnell. Ab und zu fiel eine Maschine aus. Beschimpfungen waren fester Bestandteil der täglichen Arbeit. Wenn ich nicht schnell genug arbeitete und die Platine vorbeizog, konnte es zu einem Produktionsfehler kommen. Dieses Hinterhetzen machte mich fertig!“ (S. 182) Andere Passagen des Buches erzählen von zwanzigstündigen Arbeitstagen, amputierten Fingern, arbeitsbedingten Erkrankungen sowie – in dem einzigen Fall, in dem auf Pseudonyme verzichtet wurde – vom Tod durch Erschöpfung.

Hintergrund der Erzählungen sind die gesellschaftlichen Umbrüche, die Ende der 1970er Jahre durch die Reformpolitik der post-maoistischen Regierung Chinas eingeleitet wurden und die Klassenstruktur der Volksrepublik nachhaltig transformiert haben. Auf die Gefahr hin, einen außergewöhnlich dynamischen Sozialprozess in allzu starre Kategorien zu pressen, können im gegenwärtigen China drei arbeitende Klassen unterschieden werden: erstens die etwa 700 Millionen BäuerInnen (nongmin), die seit der Auflösung der Volkskommunen Anfang der 1980er Jahre wieder überwiegend Pachtwirtschaft betreiben und deren Konflikte mit den Lokalbehörden, bei denen es meist um Steuern, Umweltfragen, Enteignungsmaßnahmen und Korruption geht, immer wieder auch in der europäischen Presse von sich reden machen; zweitens die in den Staatsunternehmen beschäftigten ArbeiterInnen (gongren), denen unter Mao die so genannte eiserne Reisschüssel, also ein lebenslang garantierter Arbeitsplatz mit allen dazu gehörigen Sozialleistungen, gesichert war, von denen aber seit Beginn der Reformpolitik etwa 50 Millionen in die Arbeitslosigkeit bzw. in prekäre Arbeitsverhältnisse abgedrängt worden sind; und drittens schließlich die über 100 Millionen Bauernarbeiter und Bauernarbeiterinnen (mingong), die aufgrund des 1956 eingeführten Haushaltsregistrierungssystems (hukou) offiziell als Landbevölkerung gelten und in den Städten bestenfalls über befristete Aufenthaltsgenehmigungen verfügen, tatsächlich aber ständig zwischen Land und Stadt migrieren, um die Bauernwirtschaft ihrer Familien durch Lohneinkommen aus städtischer Arbeit zu ergänzen, aber auch, um der Enge der ländlichen Verhältnisse zu entkommen und sich in den urbanen Ballungszentren neue persönliche Freiheiten zu erschließen.

Zu den mingong gehören die ’arbeitenden Schwestern’ (so die Bedeutung des chinesischen Wortes dagongmei), die in den von Pun Ngai und Li Wanwei heraus gegebenen Erzählungen über ihre Arbeitsbedingungen, ihr Leben zwischen Dorf und betrieblichem Wohnheim und ihre informell organisierten Streiks und Demonstrationen für weniger gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und die Einhaltung der im chinesischen Arbeitsrecht festgeschriebenen Garantien berichten. Im Wort dagongmei kommt die mehrfache Abwertung dieser Bevölkerungsgruppe innerhalb des politischen und medialen Diskurses der Volksrepublik zum Ausdruck: Die dagongmei sind ausdrücklich keine gongren, also nicht die im Maoismus zumindest rhetorisch zum Volkssouverän erhobene ArbeiterInnenklasse; das Wort dagong (wörtlich: für den Chef arbeiten) entbehrt, ähnlich wie das deutsche jobben, des Pathos, der mit gängigen Vorstellungen von der ArbeiterInnenklasse einhergeht. Darüber hinaus sind die dagongmei Frauen vom Land, für die Industriearbeit – so eine in China weit verbreitete Auffassung – nie mehr als ein Intermezzo zwischen zwei dörflichen Existenzweisen sein kann: der einer Bauerstochter und der einer Bauersfrau. Der Ausbruch aus patriarchalen Strukturen, etwa die Flucht vor drohender Zwangsheirat, ist ein zentrales Thema der Buches.

Das Klischee von der Fügsamkeit der jungen Arbeiterinnen strafen die Erzählungen der dagongmei und die ergänzenden Ausführungen der Herausgeber und Herausgeberinnen Lügen. So erinnert sich die Herausgeberin Pun Ngai etwa an die in einer Fabrik zu Stoßzeiten vermehrt einsetzenden Bummelstreiks: „Manchmal, vor allem nachts, wenn die Arbeitsgeschwindigkeit für die überanstrengten Körper unerträglich wurde, oder wenn ein neues Tempo für ein neues Produkt festgelegt worden war und die Arbeiterinnen sich noch nicht daran gewöhnt hatten, wurden plötzlich alle Arbeiterinnen am Band langsamer und demonstrierten damit der Vorarbeiterin und der Linienführerin stummen kollektiven Widerstand. Keine sagte ein Wort, sie ließen einfach die Werkstücke sich zu Bergen auftürmen, während andere mit leeren Händen da saßen. […] Wenn […] die Verlangsamung anhielt, blieb der Vorarbeiterin nichts anderes übrig, als den Aufseher zu benachrichtigen und die Zeitnehmer das Tempo neu einzustellen zu lassen.“ (S. 218-219)

Das Schlusskapitel von Pun Ngai, dem dieses Zitat entnommen ist, bietet eine an Michel Foucault, aber auch an E. P. Thompsons klassischem Aufsatz über industrielle Zeit und Arbeitsdisziplin orientierte Analyse des Fabrikregimes. Über die Arbeit des chinesischen Arbeiterinnennetzwerkes, das die dagongmei berät und die dem Buch zugrunde liegenden Interviews gesammelt hat, berichtet die Mitherausgeberin Li Wanwei im vorletzten Kapitel. Diese zwei Schlusskapitel und die sehr lesenswerte Einleitung des Kollektivs Freunde und Freundinnen von Gongchao, die das nötige Hintergrundwissen zur jüngsten politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklung Chinas bietet, sind der Rahmen, innerhalb dessen die Erfahrungsberichte der Arbeiterinnen, zwölf an der Zahl und nach Themen wie dem Aufbruch in die Stadt und den ersten Streik- und Protesterfahrungen geordnet, den Leserinnen und Lesern vorgelegt werden. Hinzu kommt noch ein Anhang mit Landkarten und einem sorgfältig erstellten Glossar, in dem die Grundzüge etwa des chinesischen Streikrechts oder der Geschichte der Sonderwirtschaftszonen nachgeschlagen werden können.

Bibliographischer Nachtrag

Der oben zitierte Spiegel-Artikel Die Stadt der Mädchen von Ullrich Fichtner kann im Internet eingesehen werden unter http://www.materialien.org/planet/shenzhen.html .

Allen, die mit der in den 1970er und 1980er Jahren geführten Diskussion über Weltmarkfabriken, freie Produktionszonen und die neue internationale Arbeitsteilung nicht vertraut sind, seien die immer noch lesenswerten Studien von Folker Fröbel, Jügen Heinrichs und Otto Kreye,

  • Die neue internationale Arbeitsteilung. Strukturelle Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und die Industrialisierung der Entwicklungsländer, Reinbek 1977, und
  • Umbruch in der Weltwirtschaft. Die globale Strategie: Verbilligung der Arbeitskraft / Flexibilisierung der Arbeit / Neue Technologien, Reinbek 1984,

wärmstens empfohlen, ebenso der auf den dort erbrachten Befunden aufbauende Aufsatz von Ilse Lenz,

  • Frauen und das globale Fließband, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis Nr. 3, S. 90-104.

Ergänzend zu dem Aufsatz von Ilse Lenz sollte auch eingesehen werden:

  • Ludgera Klemp, Frauen im Entwicklungs- und Verelendungsprozess, in: Dieter Nohlen und Franz Nuscheler, Hg., Handbuch der Dritten Welt 1: Grundprobleme Theorien Strategien, Bonn 1993, S. 287-303.

Über die gegenwärtigen Umbrüche in China informiert

  • die Beilage zu Heft 80 der Zeitschrift Wildcat, Unruhen in China, zu bestellen über Shiraz e. V., Postfach 30 12 06, 50782 Köln.

Pun Ngais Analyse des chinesischen Fabrikregimes liegt – mit Ausnahme des im hier rezensierten Buch übersetzten Kapitels – bislang nur in englischer Sprache vor:

  • Pun Ngai, Made in China. Women Factory Workers in a Global Workplace, Durham und London 2005.

Der zuerst 1967 erschienene Aufsatz von E. P. Thompson, auf den sich Pun Ngai in ihrer Analyse bezieht, Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, ist vor zwei Jahren in deutscher Übersetzung neu aufgelegt worden:

  • John Holloway und E. P. Thompson, Blauer Montag. Über Zeit und Arbeitsdisziplin, Hamburg 2006, S. 19-92.

Unverzichtbar für das Verständnis der Situation in den ländlichen Provinzen Chinas, aus denen sich die dagongmei rekrutieren, ist die Reportage von

  • Chen Guidi und Wu Chuntao, Zur Lage der chinesischen Bauern, Frankfurt am Main 2006.
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