Weg und Ziel, Heft 4/1997
Oktober
1997

Der 80. Jahrestag der Oktoberrevolution

Den 50. Jahrestag (1967) feierten wir noch im Glauben, daß der Sozialisms dem Kapitalismus überlegen sei, und daß die Sowjetunion die Vereinigten Staaten in der industriellen Konsumgüter- und Investitionsgüterproduktion bis 1980 überholen werde.

Der 60. Jahrestag (1977) war schon von Zweifeln überschattet. Am 21. Par­teitag der KPÖ hatte der damalige Zentralsekretär der österreichisch­-sowjetischen Gesellschaft, Martin Grünberg, erklärt: „Was viele Men­schen daran hindert, den Schritt zu un­serer Partei zu machen, sind einige Sei­ten der sozialistischen Wirklichkeit in der Sowjetunion. Wenn wir die Tatsa­chen, mit denen wir konfrontiert wer­den, die Quellen, die wir haben, kri­tisch prüfen, kommen wir manchmal zu Schlußfolgerungen, die den sowjeti­schen Genossen und manchen Genos­sen in unseren Reihen nicht gefallen. Aber man kann diese Probleme nicht wegwischen, man kann sie nicht ein­fach dadurch abtun, daß man sie als antisozialistische Propaganda bezeich­net.“

Der 70. Jahrestag (1987) schien durch die Gorbatschowsche „Glasnost“ und „Perestroika“ hoffnungsvoll. Den 75. Jahrestag (1992), das war bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem praktischen Ende dessen, was sich als „realer Sozialismus“ bezeichnete, „feierte“ ich mit einer kleinen Gruppe ungarischer Genossen mit einem Refe­rat in Budapest.

Den 80. Jahrestag kann man nur mit einer Analyse der Ursachen des Zerfalls dessen begehen, was wir als „Sozialismus“ bezeichnet haben. Es gibt schon einige wenige Versuche, ich führe meinen Versuch an.

Um dem Leser anzudeuten, woher meine Analyse kommt, einige kleine autobiographische Bemerkungen. Mein Vater Lew Borissowitsch Suniza war ab 1905 russischer Sozialdemokrat-Berufsrevolutionär, wurde 1913 zu drei Jahren Verbannung verurteilt, die ihm auf Grund seines Ansuchens zu einem Aufenthalt im Ausland abgeändert wurden, die er in Österreich verbrach­te. Die erste republikanische Regierung Österreichs wies ihn Mitte November 1918 als lästigen Ausländer aus. Ich wurde im Mai 1919 in Wien geboren. Ab 1926 gehörte Suniza zur Leitung der internationalen Leninschule der Komintern und war Mitglied des Büros der Parteileitung in dieser Schule. 1935 wurde er verhaftet. Die Mutter war Mitglied der KPÖ ab Ende 1919, fuhr mit mir 1931 zum Vater nach Moskau und wurde 1937 verhaftet. Ich lebte in Moskau als Russe unter Russen, die da­mals meinten, „umerla Allilujewa, bely chleb s soboj wsjala, kogda Stalin snowa schenitsja, wowse chleb otmenitsja“ (als Allilujewa (die Gattin Stalins) starb (1932), nahm sie das weiße Brot mit, wenn Stalin wieder heiratet, wird das Brot ganz abgeschafft). Brot war das Hauptnahrungsmittel der Russen, jeder bekam 400 g Schwarzbrot pro Tag. Vater, der nicht nur das Kommu­nistische Manifest gelesen hatte, son­dern, wie alle Bolschewiken, Marx bis zum „Kapital“ in Moskau und danach auch in Wien studiert hatte, hatte mich angesichts der damaligen internatio­nalen Situation zu einem Marxisten erzogen. 1938 mußte ich das Land verlassen.

Ab 1946 war ich Dolmetscher des russischen Generaldirektors bei den Siemens-Schuckert-Werken in Wien, wo die österreichische Direktion gegen eine Umstellung auf sowjetische Ver­waltungsprinzipien mit langen Diskus­sionen mit dem russischen Generaldi­rektor Widerstand leistete, wobei der russische Generaldirektor langsam zu der Überzeugung gelangte, daß das „Siemens-Prinzip“ den Leninschen Forderungen nach Rechnungsführung und Kontrolle besser entsprach als das sowjetische. Er ernannte mich zu sei­nem Direktionsassistenten und gab mir den Auftrag, das Siemens-System ge­nau zu studieren, was ich auch tat. Da­bei stellte ich (stark gekürzt) folgendes fest: Bei Siemens ist der Hauptbuch­halter nicht dem lokalen Direktor un­terstellt, sondern ist ihm gleichgestellt und übt in Wirklichkeit die Kontrolle über die finanzielle, kommerzielle und produktionsmäßige Tätigkeit des Be­triebes aus. Im sowjetischen Betrieb war der Buchhalter dem lokalen Direk­tor unterstellt und schwindelte in sei­nem Auftrag mit ihm die übergeordne­ten Stellen an. Bei Siemens gab es eine sehr präzise Kostenrechnung, die ange­sichts der hohen indirekten Produkti­onskosten als Kostenstellenrechnung geführt wurde, die eine dem Verursa­cherprinzip entsprechende Verrech­nung der indirekten Kosten ermöglicht. In den sowjetischen Betrieben gab es nur eine angenäherte Kostenrechnung, bei der die recht hohen Gemeinkosten (indirekten Kosten) mit einem angenä­herten Koeffizienten den Produktions­kosten zugerechnet wurden. Bei Sie­mens gibt es ein System, das eine An­gleichung der technischen Ausführung der Produktion an modernste Ausfüh­rung erzwingt, in der Sowjetunion wurde nach dem Prinzip ältester „er­probter“ Ausführung produziert. Und bei der Auswahl der Kader ging man bei Siemens sehr konsequent nach der Auswahl der besten vor, in der Sowje­tunion war die „politische“ Eignung wesentlich, wobei die Freunderlwirtschaft blühte. Und verschiedenes ande­res mehr. Soweit einige autobiographi­sche Bemerkungen.

Manche meinen, Gorbatschow sei ein Verräter am Sozialismus gewesen. Andere — Chruschtschow habe den Nie­dergang des Sozialismus begonnen. Hier meine Analyse.

„Säuberungen“

Stalin hatte ein paar hunderttau­send ehrliche Revolutionäre-Kommunisten in Lager geschickt und hinrich­ten lassen. Danach waren nur mehr gesinnungslose Karrieristen im Auf­stieg. Warum ließ Stalin Kommunisten hinrichten und in Lager schicken? Weil nach der Kollektivierung der Land­wirtschaft die Mehrheit der Parteimit­glieder gegen diese Art der Kollektivie­rung war und die „Gefahr“ bestand, daß der weise Führer abgesetzt wird. Infolge der Kollektivierung wurde die Hälfte des Viehs abgeschlachtet und vergraben, daher gab es viel weniger Fleisch. Die Ernte ging zurück, daher klappte es nicht mehr mit den Expor­ten, die auf ein Viertel schrumpften. Übrigens hatte die Kollektivierung noch eine Folge: Die Anzahl der Bau­ern in der Partei wuchs von 1928 270.000 bis 1932 auf 800.000 Mitglieder an. Das waren vor allem jene Bauern, die der Partei bei der Kollektivierung geholfen hatten und dafür 25 Prozent der requirierten Ernte und des konfis­zierten Eigentums erhalten hatten. Die „Säuberung“ verlief in zwei Etappen. In der ersten Etappe handelte es sich um eine parteiinterne Säuberung. Es wurde verlangt, daß alle, die gegen die Kollektivierung waren, aus der Partei ausgeschlossen werden, sowie die „Ver­söhnler“, also jene, die wohl für die Kollektivierung waren, aber gegen den Ausschluß jener, die gegen die Kollekti­vierung waren. Allein diese Fragestel­lung zeigt, worum es sich bei dieser Etappe der „Säuberung“ handelte. Im Zuge dieser Etappe verringerte sich die Zahl der Mitglieder und Kandidaten der Partei von 3,555.338 auf 2,909.786 Mitglieder und Kandidaten also um etwa eine Dreiviertelmillion. In der zweiten Etappe übernahm die Feder­führung bei der „Säuberung“ der Par­tei das NKWD, das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten. Die Mit­gliederzahl 1939 betrug 1,588.852, das heißt, daß bei der zweiten Etappe der „großen Säuberung“ weit über eine Million Parteimitglieder aus der Partei ausgeschlossen wurden. Ausschluß aus der Partei war damals gleichbedeutend mit GULAG oder Genickschuß. Auch das Zentralkomitee der kommunisti­schen Partei wurde gelichtet. Von den 1934 auf dem Parteitag gewählten 71 Mitgliedern und 68 Kandidaten wur­den während der „großen Säuberung“ 1935 bis 1931 51 Mitglieder und 47 Kandidaten hingerichtet. Von den 21 Mitgliedern der Regierung der UdSSR 1934 überlebten bis 1939 nur vier: Mo­lotow, Kaganowitsch, Woroschilow und Mikojan. Nach diesen Ereignissen ver­loren viele Menschen den Glauben dar­an, daß die Sowjetunion ein sozialisti­scher Staat ist.

Steigerung der Produktion von Konsumgütern

Stalin meinte jedoch, daß er mit der Kollektivierung der Landwirtschaft die einzige richtige Entscheidung getroffen hatte. Die Kollektivierung war nämlich erzwungen. Die Bauern brach­ten schöne Ernten ein und hielten die Erntevorräte bei sich auf Lager. Wa­rum? Nun, weil für die Bauern keine Konsumgüter zur Verfügung standen. Es wurden viel zu wenig Konsumgüter erzeugt. Warum? Die Resolutionen der Parteitage und der Plenartagungen des ZK der KPdSU verlangten eine Steige­rung der Produktion von Konsumgü­tern und eine Senkung der Preise für sie. Es wurden aber keine Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Punkte vorge­schlagen. Die Direktoren erhielten Prä­mien in Abhängigkeit vom erzielten Gewinn.

Um einen hohen Gewinn in der In­dustrie zu erzielen gibt es im Prinzip zwei Wege. Man senkt die Produktions­kosten und erzielt dabei bei Gleich- preisigkeit einen höheren Gewinn. Oder man erhöht die Preise. Nun ist es mit der Preiserhöhung so eine Ge­schichte. Das Preis-Umsatz-Verhältnis unterliegt einer bestimmten Elastizi­tät. Je höher die Preise für eine be­stimmte Ware, desto weniger wird von dieser Ware verkauft. Es gibt für jede Ware einen bestimmten Preis, bei dem der erzielte Gesamtgewinn einen maxi­malen Wert erreicht. Diese „Taktik“ der Preiserhöhung bis zum maximalen Gewinn ist aber nur bei einer Monopolstellung in dem Wirtschaftszweig möglich, da ansonsten die Konkurrenz die Preise unterbietet. Daher wird im Kapitalismus von den Betrieben Sen­kung der Produktionskosten verlangt. Wenn alle technischen und kaufmänni­schen Möglichkeiten zur Senkung der Produktionskosten ausgeschöpft sind, ist der letzte Schritt — eine Steigerung der Produktion bis zur vollen Aus­schöpfung der Produktionskapazität. Dabei werden die konstanten, von der Produktionsmenge unabhängigen indi­rekten Produktionskosten auf eine grö­ßere Menge produzierter Waren aufge­teilt, und dadurch wird der Anteil der indirekten Kosten im Einzelerzeugnis geringer, das heißt, daß durch eine Stei­gerung der Produktion die Produkti­onskosten für das einzelne Erzeugnis geringer werden.

„Brief an der Parteitag“

Nikolaj Iwanowitsch Bucharin, der in dem als Testament Lenins in die Ge­schichte eingegangenen „Brief an den Parteitag“ als überaus begabter und bedeutender Theoretiker bezeichnet wurde, schrieb in seinem in der »Prawda« noch im Todesjahr Lenins am 12. Dezember 1924 veröffentlichen Artikel, „Eine neue Offenbarung über die so­wjetische Ökonomie, oder wie man den Arbeiter-Bauern-Block ins Verderben stürzen kann“, der 1925 auch als Bro­schüre erschien: „Wir führen eine Poli­tik der Preissteigerungen durch, indem wir unsere Monopolstellung ausnützen. Von unserem Standpunkt aus betrach­tet ist es klar, daß dies ein maximaler Ausdruck des parasitären Verfaulens der Monopolwirtschaft ist“.

In den 20er Jahren gab es in der Sowjetunion den Begriff der „Preis­schere“. Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare gab uns eine Vorstel­lung, was darunter zu verstehen ist. Am 15. Parteitag der KPdSU (2.-12.12.1927) vermerkte der damalige Vorsit­zende des Rates der Volkskommissare, Rykow, in seinem Referat, daß die Prei­se der von der Industrie hergestellten Konsumgüter bezogen auf die Preise von landwirtschaftlicher Produktion doppelt so hoch seien, wie vor dem er­sten Weltkrieg.

Um die Preise für Konsumgüter hoch zu halten, darf man nicht viel da­von produzieren. Große Produktionsmengen, die in die Nähe einer guten Bedarfsdeckung kommen, drücken die Preise in die Nähe der Produktionsko­sten, da bleibt nicht viel für Gewinne übrig.

Schattenwirtschaft

Viele Analytiker des Untergangs des Sowjetsystems sind sich darüber einig, daß die Ursache in der Schattenwirtschaft liegt. Die Pläne zwischen Produktion und Handel waren nicht abgestimmt. Der gesamtstaatliche Plan für den Handel mit Konsumgütern lag wesentlich unter dem Produktionsplan. Wenn ein Geschäft seinen Plan überer­füllte, erhielt es den darauffolgenden Plan auf dem Niveau des Erreichten (po dostignutome). Daher erfüllten alle den Plan nur zu 100,1 bis 100,2 Pro­zent. Wenn alle Geschäfte den Umsatzplan erfüllten, blieben noch Unmengen an Waren für die Schattenwirtschaft übrig. Diese Waren wurden dann zu weit überhöhten Preisen verkauft und die Preisdifferenz bildete das „Kapi­tal“ der Schattenwirtschaft, aus dem unter anderem dann die sogenannte russische Mafia entstand, wobei dies eine vollkommen andere Erscheinung ist, als etwa die italienische Mafia. Die Schattenwirtschaft gab es schon in der Zeit von 1931 bis 1938, die ich in der Sowjetunion verbrachte.

Übrigens gibt es Anzeichen, daß Breschnew bereits 1962, als er Präsi­dent der Sowjetunion, aber noch nicht Generalsekretär der Partei war, Kon­takte zu dunklen Kreisen hatte und diese unterstützte. Daher ist anzunehmen, daß Chruschtschow (der vorletzte Sozialist vor Andropow, dem letzten der Parteiführer, der noch für den Sozialismus war) von der Schattenwirt­schaft gestürzt wurde und Breschnew ein Kandidat eben dieser Schatten­wirtschaft war.

Warum ist eine Analyse der Ursa­chen des Zusammenbruchs des sowjeti­schen Systems notwendig? Wir leben im Kapitalismus. Die Arbeitsprodukti­vität steigt ständig. Das bedeutet, daß es den Werktätigen von Jahr zu Jahr besser gehen müßte. Aber seit dem Zu­sammenbruch des sowjetischen Sy­stems wird das Kapital in den entwickelten kapitalistischen Ländern immer frecher und versucht, die Einkommen der Werktätigen zu kürzen. Der ameri­kanische Politökonom John Kenneth Galbraith meint in dem Kapitel „Die Eigenständigkeit des Geldes“ in seinem Buch „Die Entmythologisierung der Wirtschaft“, das liege daran, daß das Geld seit dem 17. Jahrhundert zu seiner ursprünglichen Rolle als Vermittler im Handel eine zweite Rolle als Zinsträger erhalten hat. Die Budgets der Regie­rungen dienen der Umverteilung von unten nach oben. Mehr als dreißig Pro­zent der Steuereinnahmen, also etwa 200 Milliarden Schilling, dienen dem Schuldendienst (100 Milliarden für Zinsen, 100 Milliarden für die Tilgung), das heißt sie werden bei den Steuerzah­lern eingenommen und an das parasitä­re Kapital weitergeleitet. Während der japanische Zinsfuß seit Jahren bei einem halben Prozent liegt, sind wir, dem deutschen Beispiel folgend, bei sechs Prozent. Vor 30-40 Jahren kauften die Japaner massenhaft Lizenzen für Pro­duktionen auf, heute sind sie bei vielen Produkten Weltspitze. Bei uns herrscht das parasitäre Kapital.

Sozialismus ist in der Ökonomie

Die Erfahrung der letzten 80 Jahre in der Sowjetunion besagt: Sozialismus ist in der Ökonomie: Rechnungsfüh­rung und Kontrolle (Lenin), also Ko­stenstellenrechnung in der gesamten Wirtschaft, Buchhalter sind unabhän­gig von der Direktion und sind Kon­trollorgane über die wirtschaftliche Tätigkeit, Betriebe erhalten eine zweite Leitungsebene, die sich in den Tages­ablauf nicht einmischt, aber über Prä­mien dafür zuständig ist, daß die tech­nische Ausführung der Erzeugnisse immer besser wird, daher aus Vertre­tern der Verbraucher und der Wissen­schaft besteht, dieser Aufsichtsrat be­stimmt auch die Zusammensetzung der Direktion, die alle drei Jahre neu ge­wählt wird, wobei nicht mehr als ein Direktionsposten neu zu besetzen ist, auch die unteren Ebenen werden nicht „politisch“, sondern fachmännisch ge­wählt.

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