Internationale Situationniste, Numéro 3
 
1976

Der Film nach Alain Resnais

Die „Neue Welle“ der Regisseure, die den jetzigen Nachwuchs im französischen Film bildet, lässt sich zuerst durch ihren offenkundigen und vollständigen Mangel an künstlerischer Neuheit definieren, auch schon was die Absicht betrifft. Von einem weniger negativen Standpunkt aus betrachtet, wird sie durch einige besondere ökonomische Bedingungen gekennzeichnet, deren Hauptbestandteil ohne Zweifel die Bedeutung einer gewissen Filmkritik seit ungefähr einem Jahr in Frankreich ist, die eine beachtenswerte Ergänzung für die Filmwirtschaft ist. Diese Kritiker haben es jetzt so weit gebracht, dass sie diese Kraft direkt für sich selbst als Filmautoren gebrauchen — was ihre einzige Einheit ausmacht. Die ehrfurchtsvollen Anerkennungen, mit denen sie ein Werk belegten, das ihnen vollständig unbegreiflich blieb, benutzen sie jetzt für ihre eigenen Werke, deren Produktion in dem Masse billig geworden ist, wie dieses Anerkennungsspiel die kostspielige Anziehungskraft des star-systems für ein breiteres Publikum ersetzen kann. Die „Neue Welle“ drückt vor allem die Interessen dieser Kritikerschicht aus.

In der Konfusion, in der diese immer als Kritiker und als Filmregisseure gelebt haben, geht Alain Resnais’ Film Hiroshima mon amour mit den übrigen Filmen der berühmten Welle konform und wird mit derselben Bewunderung aufgenommen. Es ist zwar leicht, seine Überlegenheit zu erkennen, aber nur wenige kümmern sich anscheinend darum, die Natur dieser Überlegenheit zu bestimmen.

Resnais hatte schon mehrere Kurzfilme (wie z.B. Nacht und Nebel) mit dem größten Talent gedreht, erst mit Hiroshima geschieht aber ein qualitativer Sprung in der Entwicklung seines Werkes wie auch in der Weltfilmkunst. Lässt man gewisse Experimente beiseite, die bisher am Rande des Films geblieben sind (wie z.B. bestimmte Filme von Jean Rouch, was ihren Inhalt betrifft, oder die der lettristischen Gruppe um 1950, was die Formversuche betrifft, mit Isou, Wolman, Marco — wobei seltsamerweise keiner auf die Ähnlichkeiten besonders des erstgenannten mit Resnais aufmerksam macht), stellt sich Hiroshima als der originellste Film dar, der mit den meisten Neuerungen seit der Zeit der Durchsetzung des Tonfilms. Ohne auf die Wirkungskraft des Bildes zu verzichten, basiert Hiroshima auf dem Vorrang des Tons: die Wichtigkeit des Wortes geht nicht nur von seiner ungewöhnlichen Quantität — und sogar Qualität —, sondern auch davon aus, dass der Ablauf des Films viel weniger durch die Gestik der gefilmten Personen als durch deren Rezitativ dargestellt wird (wobei der letztere sogar den Sinn des Bildes selbst ausmachen kann, wie z.B. bei der langen Straßeneinstellung am Ende der ersten Szene).

Der konformistische Zuschauer weiß, dass es erlaubt ist, Resnais zu bewundern — so bewundert er ihn genau wie einen Chabrol. Durch verschiedene Erklärungen hat Resnais gezeigt, dass er einer reflektierten Linie auf der Suche nach einem auf die Tonautonomie gegründeten Film gefolgt war — indem er Hiroshima als einen „langen Kurzfilm“ bezeichnet, sein Interesse für einige von Guitrys Filmen bekundet hat und von seiner eigenen Neigung zu einer Filmoper gesprochen hat. Seine persönliche Zurückhaltung bzw. Bescheidenheit hat jedoch dazu beigetragen, die Problematik des Sinns der durch ihn repräsentierten Entwicklung zu verschleiern. So teilte sich die Kritik in gleichermaßen unpassende Lob- und Vorbehaltsprüche.

Der banalste und falscheste Einwand besteht darin, Resnais von Marguerite Duras zu trennen, indem man das Talent des Regisseurs hervorhebt, um dann die literarische Übertreibung des Dialogs zu tadeln. Gerade durch diesen Gebrauch der Sprache, der von Resnais gewollt und seiner Drehbuchautorin gelungen ist, ist der Film das, was er ist. Jean-Francois Revel, der in der Zeitung Arts (vom 26.8.59) sehr richtig die durch den Pseudomodernismus der „Neuen Welle“ im Roman und im Film geführte „retrospektive Revolution“ entlarvt, begeht den Fehler, Resnais wegen seines Kommentars, „Nachahmung von Claudel“, dort miteinzubeziehen.

So zeigt Revel, der seit langem wegen seiner klugen Angriffe geschätzt wurde, ohne je zu definieren, was er schätzt, eine plötzliche Schwäche, wenn es sich darum handelt, eine echte Neuheit von modischem Schund zu unterscheiden. Seinem Artikel gemäß zieht er nur wegen des sympathischen Inhalts Bernard-Auberts armseligen konventionellen Film Eingeweide in der Sonne vor.

Resnais Anhänger sprechen freigebig von dessen Genie, da die blendende Unbegreiflichkeit des Wortes es möglich macht, Hiroshima’s objektive Bedeutung nicht zu erklären — und zwar das Auftreten der Selbstzerstörungsbewegung im „kommerziellen“ Film, die die gesamte moderne Kunst beherrscht.

Hiroshimas Bewunderer bemühen sich, die bewunderungswürdigen kleinen Seiten im Film zu finden, durch die sie sich ihm anschließen könnten. So spricht jeder von Faulkner und seiner Zeitlichkeit. Daraufhin sagt uns Agnès Varda — die gar nichts hat — dass sie alles Faulkner verdankt. Eigentlich legt jeder die Betonung auf die zerrüttete Zeit in Resnais’ Film, um seine übrigen destruktiven Aspekte nicht sehen zu müssen. Gleichfalls wird von Faulkner als von einem gelegentlichen Spezialisten der Zeitzersplitterung gesprochen, an den Resnais zufällig geraten wäre, um zu vergessen, was der Zeit und allgemeiner dem Roman durch Proust und Joyce geschehen ist. Hiroshimas Zeit, Hiroshimas Verwirrung stellen nicht nur eine Einverleibung des Films durch die Literatur dar — sie setzen im Film die Bewegung fort, die das gesamte Schrifttum — und zuerst die Dichtung, in ihre Auflösung getrieben hat.

Man ist geneigt, Resnais — wie durch außerordentliche Talente — auch durch persönliche psychologische Motivierungen zu erklären — beides spielt selbstverständlich eine Rolle, die wir hier nicht näher betrachten wollen. So hört man z.B., das Thema aller Alain Resnais Filme sei die Erinnerung, wie es bei Hawks’ Filmen die männliche Freundschaft ist usw. Dabei will man ignorieren, dass die Erinnerung als Thema zwangsläufig die Erscheinung der Phase der internen Kritik einer Kunst bedeutet; deren Infragestellung und auflösender Anfechtung. Die Frage nach dem Sinn der Erinnerung ist immer mit der nach dem Sinn einer durch die Kunst überlieferten Fortdauer verbunden.

Der einfachste Zugang des Films zu einem Mittel des freien Ausdrucks beinhaltet zugleich schon die Perspektive der Zerstörung dieses Mittels. Sobald sich der Film um die Möglichkeiten der modernen Kunst bereichert, schließt er sich an deren globale Krise an. Dieser Schritt nach vorn bringt ihn zugleich seinem Tod und seiner Freiheit näher: dem Beweis seiner Unzulänglichkeit.

Beim Film bemäntelt die Forderung nach einer wie bei den anderen Kunstrichtungen gleichen Ausdrucksfreiheit den allgemeinen Konkurs des Ausdrucks am Ende aller modernen Kunstrichtungen. Der künstlerische Ausdruck ist keineswegs ein wirklicher Selbstausdruck („self-expression“), mitnichten eine Verwirklichung des Lebens eines jeden. Die Proklamation des „Autorenfilms“ ist ungültig geworden, schon bevor sie über den Anspruch und den Traum hinaus ist. Der Film, der potentiell eine größere Wirkungskraft als die herkömmlichen Künste hat, ist mit allzu vielen ökonomischen und moralischen Ketten belastet, um je unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen frei sein zu können; so dass sein Prozess immer widerrufbar sein wird.

Wenn die voraussehbare Niederwerfung der kulturellen und sozialen Bedingungen einmal einen freien Film erlaubt, sind zwangsläufig viele andere Aktionsbereiche eingeführt worden. Dann ist wahrscheinlich die Freiheit des Films in der allgemeinen Entwicklung einer Welt, in der das Spektakel nicht mehr vorherrscht, weit überholt und vergessen. Der grundsätzliche Charakter des modernen Spektakels ist die Inszenierung seines eigenen Verfalls. Gerade deswegen ist Resnais Film, der bestimmt außerhalb dieser historischen Perspektive aufgefasst wurde, wichtig, weil er das noch einmal bestätigt.

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