Streifzüge, Heft 81
Juli
2021

Der Reiz des Autofahrens

Kinder genießen z.B. beim Schlittenfahren oder beim Schlittschuhlaufen das Gleiten und erleben Freude dabei, sich in Geschwindigkeit wahrzunehmen. Die Erfahrung der schnellen Bewegung ist das eine. Etwas anderes stellt eine kapitalistische Warenproduktion dar, in der solche Attraktionen ein wichtiges Moment der Attraktivität des Pkw ausmachen. Problematisch wird, welchen Stellenwert der Genuss an der Geschwindigkeit und am Gleiten in der Gesamtheit der Entwicklungen von Sinnen und Fähigkeiten einnimmt. Während das kapitalistische Erwerbs- und Geschäftsleben die Entwicklung von Sinnen und Fähigkeiten in vielerlei Hinsicht einengt und deformiert, bekommt das Auto als Spielzeug der Konsumenten eine Bedeutung, die es erst vor diesem Hintergrund gewinnt. Das Auto ermöglicht den Genuss an der Geschwindigkeit und an eigenen automobilistischen Fertigkeiten. Über die unmittelbare Nützlichkeit des Autos als Fortbewegungsmittel hinaus wird es als Objekt attraktiv, an dem sich Sinne, Fähigkeiten und Leidenschaften entfalten lassen. Bspw. geht es um die Freude am kraftvollen Motorengeräusch und um den Genuss am Gleiten. „Die Art, wie man die amerikanischen Schlitten anspringen lässt, wie sie dank Automatik […] sanft abheben, sich ohne Anstrengung losmachen, den Raum geräuschlos verschlingen, ohne Erschütterung dahingleiten […], stotternd, doch weich bremsen, wie auf einem Luftkissen vorwärtsgleiten […]. Die Intelligenz der amerikanischen Gesellschaft beruht gänzlich auf einer Anthropologie der Automobilgewohnheiten – die viel aufschlussreicher als politische Ideen sind.“ (Baudrillard 1987, S. 79) Das „Gleiten als Bewegung“ wird durch „das Kontinuierliche, Mühelose“ attraktiv. „Das Gleiten gibt uns Weite. Darum sind gleitende Bewegungen meist erfreulich. Sie […] geben ein Bewusstsein der vitalen Freiheit.“ (Straus 1956, S. 386)

Bei vergleichsweise teuren Autos lassen sich allerhand Extraeffekte genießen. In einem Bericht über den „Touareg Hybrid“ heißt es: „Die Luftfederung, die komfortabel einstellbare, die Verbundglasscheiben, die dicken, die Sonnenstrahlen und Schall absorbierenden, sie geben Fahrer und Mitreisenden das Gefühl zu schweben, zu gleiten. Wie ein Dampfer steuert das Dickschiff durch den Verkehr. In der Stadt fühlt man sich erhaben – nicht nur dann, wenn man in manch weniger gut angesehenen Kiezen die Federung auf ‚Sondergelände’ stellt und sich das Fahrzeug ein paar Zentimeter höher, weiter nach oben über den niederen Alltag schiebt.“ (Brock 2012, S. 4) In Bezug auf Autos des gehobenen Preissegments heißt es: „Autofahren war früher. Heute besteigt man mobile Inneneinrichtungen.“ Der „Erlebniswert“ des jeweiligen Auto-Innenraumes werde zum „Alleinstellungsmerkmal“ (Die Zeit, Nr. 40/2014, S. 44). In einer Anzeige von BMW heißt es: „Wir bauen nicht einfach nur Autos. Wir erzeugen Emotionen. Wir sind der Garant für Begeisterung, Faszination und Gänsehaut. Wir finden neue Formen der Freude, für die es keine Worte gibt. Wir sind die Freude am Fahren. […] Freude ist BMW.“

Wesentlich für die Attraktivität des Autos ist, dass der Autofahrer sich hier – im Unterschied zur Erfahrung mit der Maschinerie im Arbeitsprozess – als Subjekt der Technik erfahren kann. Die das Auto lenkende Person steigert durch einen sanften Druck auf das Gaspedal sowie durch das Schalten die Kraft des Motors und bewegt mühelos ein Vielfaches ihres Gewichts mit hoher Geschwindigkeit. Auch eine andere Kontrasterfahrung spielt für die Attraktivität des Autos eine große Rolle. Als „Unabhängigkeitsmaschine“ (Schönhammer 1991, S. 157) ermöglicht es, zwar nicht dem Stau, wohl aber der drangvollen Enge in Bahn und Bus zu entgehen und andere auf Abstand zu halten. Der damalige Vorstandsvorsitzende der Audi AG, Rupert Stadler, wirbt dafür anzuerkennen, „dass das Automobil und der Individualverkehr Freiheitsgüter sind, die uns Lebensqualität sichern“ (Der Tagesspiegel 11.5.2011, S. 17). Kurz: „Auto ist Freiheit“. (Ebd.)

Selbst eine Berufspendlerfahrt im eigenen Pkw ist mehr als eine reine Beförderungsfahrt. Die These „Die Emotionen entfalten sich jenseits des Gebrauchswertes. So eröffnen sie ein neues, unendliches Konsumfeld“ (Han 2016, S. 65) übersieht: Der Gebrauchswert des Autos besteht zu einem großen Anteil gerade in den Emotionen, die das Fahren mit ihm ermöglicht. Die „Autokultur“ steht in einer Reihe mit vielen anderen Konsumangeboten. Die an ihnen genossenen Sinne und Leidenschaften sind vom Mangel an menschlichem Bezug auf andere Menschen, vom Mangel an Gestaltung einer gemeinsamen Welt und durch die Vorherrschaft selbstbezogener Empfindungen gekennzeichnet. (Vgl. dazu Creydt 2017, 92-98). Diese Fehlentwicklung der Subjektivität und die vieler Gebrauchswerte in der modernen bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie verstärken sich gegenseitig.

Literatur:

  • Baudrillard, Jean 1987: Amerika. München
  • Brock, Peter 2012: Gleitendes Dickschiff. In: Mobile Welten. Eine Verlagsbeilage der Berliner Zeitung, Ausgabe Oktober
  • Creydt, Meinhard 2017: Die Armut des kapitalistischen Reichtums und das gute Leben. München
  • Han, Byung-Chul 2016: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt M.
  • Schönhammer, Rainer 1991: In Bewegung. Zur Psychologie der Fortbewegung. München
  • Straus, Erwin 1956: Vom Sinn der Sinne. 2. Aufl. Berlin
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