MOZ, Nummer 46
November
1989

Deutschland, Deutschland ...

oder: Vor dem Endsieg

Der propagandistische Erfolg reichte Bonner Politikern nicht. Zwar konnten sie zu den Zehntausenden, die jährlich — legal — die DDR verlassen, um fortan im Westen, im goldenen, zu leben, im heurigen Herbst nochmals 50.000 Geflohene, richtig müßte es heißen: Ausgewanderte, in der BRD begrüßen, doch sie wollen mehr.

Inspiriert von blonden deutschen Männern und Frauen, die, Victory-Zeichen formend, für westliche Kamerateams posieren, begann man in Bonn, laut über Deutschland in seinen „eigentlichen“ Grenzen, also jenen von 1937, nachzudenken.

„Großdeutschland“ oder „Deutsche Einheit“ war zwar auch vor dem Massenexodus keineswegs ein Tabu, ist doch jeder bundesdeutsche Minister darauf vereidigt, „die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“, die lautstarke Forderung nach einer ‚Wieder‘vereinigung blieb aber bis zum heurigen Herbst den Stammtischen vorbehalten.

‚Wieder‘vereinigung war und ist ein ideologischer, antikommunistischer Kampfbegriff — denn es kann nicht wiedervereinigt werden, was noch nie geeint war: werfen Sie einen Blick in einen historischen Weltatlas, und Sie werden feststellen, daß das Wesen deutscher Länder immer ihre Zersplitterung war. Einzige — historisch betrachtet: kurze Ausnahme: die Zeit von Bismarck bis Hitler.

Angesichts des Aufbruches aus und in der DDR sieht sich Bonn nun ermutigt, das Ende des Sozialismus im zweiten deutschen Staat und damit das Ende dieses Staates selbst zu proklamieren. Denn, so heißt es, anders als Ungarn oder Polen sei die DDR nur als „sozialistischer“ Staat denkbar, eine — sie von der BRD unterscheidende „nationale“ Identität gäbe es nicht.

Die SED-Führung steht deshalb vor der schlimmen Wahl, Liberalisierungen zuzustimmen und damit das Ende nicht nur der eigenen Cliquenherrschaft, sondern auch des zweiten deutschen Staates zu riskieren oder aber die innenpolitischen Repressionen zu verschärfen. Nur: Was China sich leisten konnte, kann sich die DDR, die in einem solchen Fall kaum auf Unterstützung aus Moskau rechnen darf, vermutlich nicht leisten.

Bonner Politiker sind somit zuversichtlich, daß Honecker und seinen Mannen Reformen nicht erspart bleiben werden und damit die deutsche Bourgeoisie ihr Ziel „Wiedervereinigung“ oder „Zusammenführung“, wie Hans Dietrich Genscher weniger im Ton des Kalten Krieges formuliert — erreichen kann.

Der Westen hat auch allen Grund, siegessicher zu sein: Der polnische und der ungarische Markt sind für investitionshungriges Kapital geöffnet, die Kommunisten haben sich auch politisch aus dem Staat zurückgezogen. In Warschau wurden sie abgewählt, ein Schicksal, dem sie in Budapest durch Selbstauflösung und Umbenennung zu entrinnen versuchen. In der Sowjetunion ist zwar ein Machtverzicht der KPdSU (noch) unvorstellbar, aber wozu sollte der auch nützen? Gorbatschow selbst ist doch der Garant der kapitalfreundlichen Umgestaltung.

In seiner 500jährigen Entwicklung hat der Kapitalismus immer neue Regionen und Staaten in seinen Bann gezogen und letztlich unterworfen, nun schickt er sich an, die letzten Fremdkörper aufzusaugen — „eine Art gewaltloser Imperialismus“, so nennt Oskar Lafontaine, stellvertretender SPD-Chef, diesen „globalen Sieg des Industrialismus“ „Industrialismus“ deshalb, weil Sozialdemokraten das Wort „Kapitalismus“ ja schon lange aus ihrem Vokabular entfernt haben.

Einzig ein Sturz Gorbatschows oder eine Destabilisierung Osteuropas könnten den Siegeszug gefährden. Und die Reformer in Budapest, Warschau und Moskau signalisieren, daß allzu großes Getöse um die deutsche Einheit ihren Weg gefährden könnte.

Deshalb auch mahnen SPD und FDP zur Besonnenheit.

Noch gibt es Wichtigeres als die politische Vereinigung. Da begnügt man sich zunächst schon mit dem Spatz in der Hand, nach der Taube kann immer noch gegriffen werden: „Können die Menschen in der DDR erst einmal frei und demokratisch entscheiden, was spielt es dann noch für eine Rolle, mit welchem Nummernschild am Auto sie nach Spanien auf Urlaub fahren“, bringt Lafontaine das Streben des moderneren Teils der Bourgeoisie auf den Punkt.

Natürlich: Die ständige Gängelei der Menschen durch die SED-Führung ist grauslich, Demokratisierung tut not. Nur: Wenn Bonner Politiker im Zusammenhang mit kommunistischen Staaten von „Freiheit“ sprechen, dann meinen sie „Marktwirtschaft“.

Wird im „gemeinsamen Haus Europa“ erst einmal nach kapitalistischen Regeln gewirtschaftet, dann kann auch die staatliche Organisation dieser Wirtschaft nicht mehr lange „sozialistisch“ bleiben. Sind die Trotzköpfe in OstBerlin erst bekehrt oder abgesetzt, dann steht einem Zusammenwachsen Deutschlands im gemeinsamen Haus Europa nichts mehr entgegen.

Eine Vorstellung, die die westlichen Bündnispartner der BRD, insbesondere die USA, mindestens so ängstigt wie die Sowjetunion: Ein politisch und ökonomisch expandierendes deutsches Reich wäre ein ernsthafter Konkurrent im Kampf um die weltweite Vormachtstellung. Unmißverständlich maßregelnde Worte findet denn auch Henry Kissinger: die „angebliche historische Aufgabe Deutschlands in Osteuropa (ist) eine erstaunliche Behauptung, für die es historisch keinerlei Anhaltspunkte gibt“, Bonner Politiker sollten doch endlich auf „vieldeutige Rhetorik“ verzichten und die heutigen Grenzen als „endgültig“ anerkennen.

Die deutsche Einheit will der Weltmann höchstens als Konföderation — und auch dann nur mit verringerten Streitkräften — sehen.

Freilich: Auch Kissinger möchte die DDR von der Landkarte verschwunden sehen. Er schlägt ein österreichisches Modell vor — einen geopolitisch unbedeutenden, sozialpartnerschaftlich regierten Staat.

Nur: Die SED-Führung sträubt sich gegen die Umgestaltung — ein bißchen Kapitalismus, das gibt es nicht, und deshalb wird die DDR am Plan als zentralem Steuerungselement der Wirtschaft festhalten, meint etwa Cheftheoretiker Reinhold.

Noch ist die DDR ökonomisch ungleich stärker als Polen und damit vorderhand weniger leicht zu erpressen — abzusehen aber ist, daß der Westen Wünschen Ost-Berlins (wie etwa der Ausdehnung des bestehenden Handelsabkommens mit der BRD auf den gesamten EG-Raum) nur im Tausch gegen Reformen — politischen, vor allem aber ökonomischen — nachkommen wird.

Allerdings spitzt sich in der DDR selbst der Widerspruch zwischen politisch motivierter Subvention der Preise für Lebensmittel oder Mieten und einem wachsenden Konkurrenzdruck am kapitalistischen Weltmarkt zu. Schon heute ist die DDR über Kredite und Handel in diesen Markt integriert, ja sie ist gar ‚heimliches‘ 13. EG-Mitglied: Ein Abkommen erlaubt den zollfreien Warenverkehr zwischen den beiden deutschen Staaten. Und die SED-Führung wünscht, die Teilnahme am Weltmarkt noch auszuweiten.

Unter diesem Konkurrenzdruck aber kann die Subventionspolitik nur um den Preis des volkswirtschaftlichen Ruins weitergeführt werden. Wird sie fortgesetzt, wird auch der DDR das Schicksal Polens nicht erspart bleiben; wird sie nicht fortgesetzt, werden soziale Spannungen so zunehmen, daß die Legitimation der Führung vollends gefährdet ist.

So oder so: die Menschen in der DDR sehen keiner allzu rosigen Zukunft entgegen. Da sie Deutsche sind, werden sie sich im Falle einer Öffnung zwar nicht so billig verkaufen müssen wie die Polen und Polinnen, dennoch wird es für alle, die nicht zu den Leistungsträgern der 20-35jährigen zählen, ein böses Erwachen geben. Die besten Plätze im gemeinsamen Haus sind nämlich bereits belegt.

PS: Wir freuen uns, mit Jutta Ditfurth eine neue Mitarbeiterin gewonnen zu haben. Sie wird für die MONATSZEITUNG regelmäßig die politische Lage in der BRD und die Entwicklung der GRÜNEN kommentieren.

Auch die heimischen Grünen werden fortan in der MONATSZEITUNG ihre Perspektiven diskutieren. Den Anfang macht Klubobmann Andreas Wabl.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)