Radiosendungen 2000
Dezember
2000

Die Arbeit, der Wert, die Krise II

voriger Teil: Die Arbeit, der Wert, die Krise I
Im ersten Teil dieser Sendung haben wir die Vorträge dokumentiert, die Moishe Postone von der University Of Chicago, Ernst Lohoff von der Zeitschrift Krisis und Joachim Bruhn von der Initiative Sozialistisches Forum bei der Veranstaltung Was ist der Wert der Arbeit? am 18. Juli in der Berliner Humboldt-Universität gehalten haben. Im Folgenden bringen wir in leicht gekürzter Fassung die sich an die Vorträge anschließende Diskussion, die von Clemens Nachtmann von der Zeitschrift Bahamas moderiert wurde.

Zu Beginn der Diskussion auf dem Posium antworten Lohoff und Postone auf Bruhns Einwand, daß bei ihnen die Unterscheidung zwischen Theorie und Kritik zu kurz komme:

Ernst Lohoff: Also mir kommt ein bißchen jetzt, was Joachim an Anwürfen hatte, teilweise etwas als Popanz-Konstruktion vor. Also wenn er uns darüber belehrt, zum Beispiel, daß man den Marx nicht einheitlich nehmen kann, dann läuft er da erst mal offene Türen ein. Der Moishe hat ja selber auf die Notwendigkeit der Historisierung hingewiesen, auf eine Differenzierung auch im Marx’schen Werk — er sieht diese Differenzierung zwischen dem späten und dem frühen Marx. Ich bin nicht so sicher, ob man diese Differenzierung in diesem Sinne ziehen kann. Ich denke eher, daß man Momente findet im sogenannten reifen Werk von Marx, die durchaus die Leseweise der Arbeiterbewegung legitimieren und ihr Vorschub geleistet haben. Insofern lese ich weder Moishe Postones Versuch noch unsere eigenen Sachen als Wiederherstellung des „ganzen Marx“. Ich finde es auch amüsant insofern, als, ich glaub’, wir das letzte Mal von Euch attackiert worden sind wegen dieser Einführung des „doppelten Marx“ — jetzt kommt das genau andersrum: Wir sind die, die die Einheitlichkeit des Marx’schen Werkes behaupten. Ein anderer Punkt, wo ein Gespenst aufgemacht wird, ist diese Belehrung, daß Kapitalkritik zugleich Kritik der Denkform ist. Der Gedanke ist mir nicht so ganz fremd und neu. Die Frage ist nur: Spiele ich die Erklärung der Denkformen, wo Ideologiekritik ein Teil davon ist, aus gegen die Analyse des objektivierten Prozesses oder versuche ich, das in irgend ’nem Zusammenhang zu begreifen? Ist Ideologiekritik alles oder ist Ideologiekritik ein Teil der Analyse der fetischistischen Wirklichkeit?

Moishe Postone: Es geht mir nicht um the authentic Marx. Es ist eine Frage, ob man die Kritik der Politischen Ökonomie neu rekonstruieren kann in einer Weise, die in sich konsistent sei. Und ich finde sehr verwirrend, daß man auf der einen Seite redet von dem „undenkbaren Gegenstand“ und dann aber redet von der Notwendigkeit, Erkenntniskritik und Kapitalkritik zusammen zu denken, ohne dabei zu reflektieren, daß das heißt, daß man irgendwie einen Begriff vom Kapital hat, um das überhaupt tun zu können. Und ich habe versucht, den Begriff des Kapitals neu zu denken — und anders als Sohn-Rethel. Das heißt, vieles von Sohn-Rethels Begriff vom Kapital ist mir [zu] sehr traditionalistisch. Und das heißt nicht, daß deshalb nicht dieser Anspruch [darauf berechtigt ist], daß man versucht, Erkenntniskritik und Kapitalkritik zusammen zu denken — aber man kann das nicht einfach als Forderung darstellen, zum Beispiel ohne zu [be]denken, daß vielleicht die Adornitische Position selber bezüglich ihrer historischen und theoretischen Bedingungen verstanden werden kann. Adorno steht auch nicht außerhalb der Geschichte. Die einzige Frage ist, ob man irgendwie einen Begriff dieser Formen hat, der die eigene Position auch irgendwie mit erklären kann. Und ich denke, obwohl ich sagen muß, daß ich mit Ernst Lohoffs Betonung der Zusammenbruchstheorie nicht einverstanden bin, aber lassen wir das beiseite, ich fand, er hat die Frage richtig gestellt zum Beispiel: Wenn man denkt, daß, was ich zum Beispiel traditionellen Marxismus genannt habe, wirklich nicht mehr adäquat ist, gibt es immer noch eine Frage: Warum ist das die dominante Denkform der Arbeiterbewegung — und so weiter — gewesen? Und was sind die Bedingungen [dafür], daß man es heute anders denken könnte? Und das sind historisch-erkenntnistheoretische Fragen — und ich finde sie ganz legitim. Und ich habe diese Kritikpunkte, Joachim, die du gebracht hast, als eine Metaphysik der Erkenntniskritik verstanden. Und ich versuche das jetzt ein bißchen weiter auszuführen: Du hast zum Beispiel gesagt, der Marx verwendet theologisierende Metaphern. Man kann es auch anders verstehen — das heißt [so], daß Marx versucht hat, die theologische Denkweise selbst gesellschaftlich zu begründen. Deshalb die Methaphern: Nicht, [weil] er denkt, daß es ein undenkbarer Gegenstand sei. Aber er versucht zu zeigen, wieso es eine gesellschaftliche Form gibt, die doch diesen Skandalcharakter hat und die eine bestimmte Denkweise dann ermöglicht. Das ist für mich ein gewisser Grad an Erkenntniskritik und es ist nicht [so], daß Marx plötzlich ein Kantisches Ding an sich hat und man nennt es Kapital. Weil ich denke, wenn wir so — oder vielleicht habe ich nichts verstanden [...], aber irgendwie kann die Frage von Praxis, das heißt Erkenntniskritik, nicht losgelöst werden von irgendwelchem Verständnis [dessen], was Kapital eigentlich heißt und was deshalb die Bedingungen der Möglichkeit seiner Aufhebung sind.

Bruhn erläutert noch einmal seine Kritik:

Joachim Bruhn: Ich will einmal den Standpunkt stark machen, daß das, was Marx mit den theologisierenden Metaphern im [Kapital>amazon>3320002627] [1] sagt, tatsächlich auf eine Sache verweist, die in der Struktur des Gegenstandes drin ist. Marx diskutiert ja am Anfang immer verschiedene Antinomien. Er zeigt ja, daß das gesamte ideologische Denken, die objektiv notwendigen Denkformen über das Gesellschaftliche, immer in antinomischer Form verlaufen. Wer über das Geld nachdenkt, ist entweder ein Nominalist oder er ist Anhänger einer metallistischen Geldlehre — das Eine oder das Andere. Die Marx’sche Methode funktioniert nun so, zu zeigen, daß der Gegenstand selbst einer ist, der sich in dieser Enweder-Oder-Struktur darstellt. Aber etwas, was sich sich selbst als etwas darstellt, das im Jenseits einer logischen Differenzierung ist, das muß ja an sich selbst eines besonderen Wesens sein. Es ist etwas mit sich Identisches, das sich als das an sich selbst Nicht-Identische setzt. Das ist das, was man gemeinhin mit dem Wort Dialektik irgendwie bezeichnet, aber meistens so ganz als positive nicht fassen kann. Das Kapital ist eine an sich selbst dialektische, und zwar negativ dialektische, Struktur, die sich dem erkennenden Bewußtsein darbietet in der Gestalt eines Entweder-Oder, in der Gestalt von logischen Antinomien. Diese logischen Antinomien finden wir in der Argumentation aller Marxisten wieder, wenn sie von „Risiken“ und „Chancen“ sprechen, wenn sie den Prozeß der Geschichte auf „einerseits“ und „andererseits“ reduzieren. Das ist die Unfähigkeit zum synthetischen Urteil, das diese Antinomien aufhebt. Das ist, sage ich einmal, die Basisform, [die] das Denken auf eine Logik drängt dort, wo eine Logik an sich selbst, die Sache betrachtet, gar nicht möglich ist. Ich will mich jetzt nicht groß noch irgendwie drüber verbreiten, inwieweit dieses Kapitalverhältnis wirklich eine Struktur ist, die sich an sich selbst begründet und deswegen auch in der Theologiekritik von Marx gefaßt [...] Ich möchte nochmal auf einen Satz hinweisen, der auf ein Problem hinweist, nämlich auf das mit der Realabstraktion: Wie kann gedacht werden, daß ein gesellschaftliches Verhältnis, reine Relation, sich als Ding darstellt? Da behelfen wir uns ja meist mit der Formulierung von „Naturalisierung“, „Enthistorisierung“ — auch Formulierungen, die Postone gebracht hat. Das Kapital stellt sich als sachliches Verhältnis, als ein naturales Verhältnis dar. Aber diese Darstellung ist ja nicht einfach nur ein Schein, sondern diese Darstellung ist in Geld eine handgreifliche Wirklichkeit. Hier wird wirklich das, was die Philosophie immer versucht hat zu denken, getan — nämlich: Die Totalität wird noch einmal in sich selbst repräsentiert, in Geld als Sache oder im Kapital als einer Bewegung. Das ist das Problem, das gedacht werden muß, denke ich. Und da kommen wir meines Erachtens nicht so sehr weit, wenn wir einen — finde ich jetzt — konkretistischen Begriff abstrakter Arbeit pflegen, wie er bei der Krisis-Gruppe herrscht.

Postone und Lohoff antworten Bruhn:

Moishe Postone: Ich würde nicht — zumindest sofort — wissen, wie ein Begriff von abstrakter Arbeit als gesellschaftlich vermittelte Tätigkeit „konkretistisch“ sei. Ich weiß nicht, wie man Vermittlung als „konkretistisch“ abtun kann. Ich bin mit ein paar Sachen, die du gesagt hast, total einverstanden, aber ich möchte nur darauf hinweisen, daß es nicht geht, wenn man von „objektiv notwendigen Denkformen“ redet und eine Kritik der Zeit, eigentlich, zitiert, daß beide Seiten — sagen wir der nominalistische wie auch der metallistische Begriff von Geld — einseitig seien. Das heißt, es muß irgend einen Standpunkt geben, aus dem man diese Denkformen erklären kann, sonst bleibt man selber verhaftet und man kann solche Statements über die Antinomien nicht mehr machen. Und das heißt eigentlich: Wenn man redet von Nominalismus und Metallismus und sagt, bis zu einem gewissen Grad der Kapitalentwicklung ist das notwendig [...] — nach dieser Zeit gibt es aus der widersprüchlichen Struktur des Kapitals selber die erkenntniskritische Möglichkeit, das wiederum zu relativieren und es als Antinomie zu verstehen. Und das heißt, was für mich fehlt — vielleicht habe ich es nicht verstanden — in deinen Ausführungen, ist: Wie kann jemand „objektiv notwendige Denkformen“ sagen und gleichzeit das Ganze kritisieren? Das geht irgendwie nicht. Das heißt, die Kritik muß auch die Bedingungen der Möglichkeit der Kritik mit einschließen.

Ernst Lohoff: Womit ich immer Schwierigkeiten habe — ich habe das zwar schon mehrfach gehört, aber auch noch nicht verstanden —, ist eben dieser Evergreen der Gegenüberstellung von Kritik versus Theorie, ob Marx eine Kritik geliefert hat oder eine Theorie. Die Antwort ist: eine kritische Theorie, schlicht und einfach. Und beides läßt sich nicht voneinander trennen. Also diese Dichotomie, die da aufgemacht wird, von Urteil und Erklärung, die finde ich sehr uneinleuchtend und eigentlich eher dem bürgerlichen, abstrakten Aufklärungsdenken verpflichtet, das sich jetzt hinstellt und „schlecht“ oder „gut“ urteilt. Die Verurteilung des Kapitalismus und seiner Formen ist identisch mit ihrer Erklärung.

Joachim Bruhn: Also ich weiß nicht, wir mußten ja im letzten konkret lesen, daß ihr den Zusammenbruch auf weitere 60 Jahre verschoben habt [...] — das ist mir also daraus gar nicht verständlich. Ich finde, um das mal ganz grob zu sagen: Was Krisis macht, ist einfach eine ganz arbeiterbewegungsmarxistisch-klassische Rationalisierung des Kapitalverhältnisses, nur eben ohne Arbeiterklasse — die fehlt. Ansonsten ist alles da. Die andere Frage: Wie kann die Kritik die Bedingungen ihrer eignen Möglichkeit refelektieren? Wie kann Kritik sich selber begreifen als ein nicht willkürlich an die Sache herangetragenes Geschmacksurteil? Adorno hat ja der Frage sein Lebenswerk gewidmet, das ich jetzt nicht in der Lage bin, weder geistig noch zeitlich, hier zu reproduzieren, aber immerhin ist es so, daß für ihn die Differenz zwischen Logik und Dialektik und der Unterschied, der Berührungspunkt zwischen logischem Denken und negativer Dialektik des Kapitals [...] — daß in diesem Bruchpunkt, in diesem Schnittpunkt sich das bildet, was als subjektive Erfahrung den Stachel von Erkenntnis ausmacht. Damit ist ja die Kritik gegen diese blöden Fragen von dem „Kritiker im Elfenbeinturm“, „Besserwissen“ zur Genüge verteidigt. Damit wird sozusagen die Möglichkeit von Kritik, ganz klassisch, an dem Verhältnis von Zirkulationssphäre, wo Logik gilt, und Akkumulation, wo negative Dialektik gilt — in diesem Bruchpunkt wird sie genau situiert. An diesem Bruchpunkt, an diesem Setzungspunkt, daraus erwächst sie systematisch und damit ist der Rationalisierungszwang undenkbarer Verhältnisse, der in der Form „Theorie“ automatisch gesetzt ist, beseitigt. Also ich will jetzt nicht eine Diskussion anfangen, wie sich das im Einzelnen darstellt, etwa in der Krisis-Position. Aber man muß sich selbst als Materialist davor schützen, sein eigenes bißchen Vernunft, das eventuell noch da sein sollte, in eine an sich widersinnige Sache, in eine — wie Marx sagt — „verrückte Form“ („verrückt“ ist sehr ernst zu nehmen) zu projizieren. Diese Projektionsleistung müssen wir selber, in uns, zurücknehmen. Wir müssen nicht immer so tun, als hätten wir alles verstanden.

Die weiteren Fragen wurden aus dem Publikum gestellt. [...]

Die Transkription des zweiten Teils der Sendung (Publikumsinterventionen) wird aus arbeitsökonomischen Gründen (!) hintangestellt.

[1Das Kapital ist — mit den übrigen Marx-Engels-Werken — auch online verfügbar

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