MOZ, Nummer 57
November
1990
Nach der Ostsee

Die Barentssee — ein zweites totes Nordmeer?

Dem nordpolaren Meer vor dem einzigen eisfreien russischen Hafen, Murmansk, droht der ökologische Kollaps.

Abfall, Chemie und „Bio-Dreck“. Kaum daß die Regierungschefs und Umweltminister der Ostseeanrainer, Norwegens und der Tschechoslowakei sich Anfang September im schwedischen Ronneby endlich auf erste Maßnahmen zur Sanierung dieses nordeuropäischen Binnenmeeres einigten, droht nun auch der nordpolaren Barentssee der biologische Kollaps. Das jedenfalls behauptet der sowjetische Meeresbiologe Dr. Gennadij Matishov.

In seiner jüngsten Untersuchung warnt der Leiter des „Meeresbiologischen Instituts“ in Murmansk vor einer weiteren Zuspitzung der ökologischen Situation im Norwegischen Meer und insbesondere in der Barentssee.

Matishovs Einschätzung, der in seiner Arbeit von einer „im Grunde unwiderruflichen biologischen Deformation“ spricht, haben sich inzwischen weitere Mitglieder der sowjetischen „Akademie der Wissenschaften“ angeschlossen. Sie fordern Hilfsmaßnahmen, die der Wiederherstellung des ökologischen Gleichgewichts in dem Polarmeer dienen. Dazu, so die Wissenschaftler, müßten multilaterale Abmachungen her.

Überfischen, seismische Verschiebungen, Abfälle von Schiffen und Bohrinseln, Verunreinigungen durch den Golfstrom, chemische und radioaktive Emissionen sowie seit kurzem auch biologische Verschmutzungen nennt der Murmansker Meeresbiologe in der Studie als Hauptursachen für die „ökologischen Deformationen“ der nördlichen und polaren Gewässer. Für die Zukunft der vor knapp 400 Jahren von dem niederländischen Polarforscher Willem Barents friedlich eroberten Barentssee sieht Dr. Matishov schwarz: Durch Fangquoten, für die es keine ökologische Grundlage gab, wurden die Bestände an Heringen, Dorschen, Flundern und Lachsen abgefischt. „In der Barentssee haben wir die tragische Situation, daß ganze Fischarten über Jahrzehnte hinweg die Fähigkeit verloren haben, wieder zu wachsen. Das trifft insbesondere auf Hering und Kabeljau und in gewisser Weise auch auf den Polardorsch zu“, schreibt der sowjetische Forscher.

Wie es trotz staatlicher und internationaler Kontrollen geschehen konnte, daß jährlich bis zu einer Million Tonnen Fisch in die Maschen der Netze schlüpfte, schildert Matishov so: Bis zu 30, 40 Tonnen könne ein Hochseetrawler pro Tag in seinen Kühlräumen bunkern. Da die Fänge oftmals 50 bis 80 Tonnen erreichten, würden die Überschüsse entweder zu Fischmehl verarbeitet oder wieder ins Meer gekippt. Während einer Fahrt landeten auf diese Weise bis zu 1.500 Tonnen toter Fische im Meer, die somit aus der offiziellen Statistikfallen.

Die Folge des Raubbaus: Die Nahrungskette der Barentssee reißt. Denn seit der Kabeljau verschwunden ist, hat sich auch der Dorschbestand kräftig verringert. Berechnungen Dr. Matishovs ergaben, daß Dorsche rund zwei bis drei Millionen Tonnen Kleinstlebewesen im Jahr fressen. Diese Planktonstoffe verrotten nun und stellen eine neue, gefährliche Quelle biologischer Verunreinigungen dar.

Nach Auffassung des Murmansker Meeresforschers bedroht die intensive Ölfördertätigkeit Großbritanniens, Norwegens und der Sowjetunion ebenfalls das ökologische Gleichgewicht der polaren Gewässer. Wie er unter Berufung auf internationale Statistiken anführt, haben allein die britischen Bohrinseln innerhalb von fünf Jahren 1.430 Tonnen mit Öl vermischten Bohrwassers in die Nordsee geleitet, die die Strömungen schließlich in die Barentssee trugen.

Gefahr drohe gleichfalls durch sowjetische Bohrungen auf der Kolgujewinsel. Daß sich der Meeresvogelbestand Jahr für Jahr minimiere, könne auf diese Aktivitäten zurückgeführt werden.

Der warme Golfstrom, der die Temperaturen der Barentssee nie unter plus vier Grad Celsius sinken läßt und der UdSSR ihren einzigen Nordmeerhafen eisfrei hält, bereitet den Murmansker Meeresforschern schon seit längerem Kopfzerbrechen. Mit ihm gelangen beachtliche Mengen Hydrokarbonate, sogenannte doppelt kohlensaure Salze, die bei der Ölgewinnung vor Norwegen anfallen, in das Polarmeer. Wegen der relativ niedrigen Wassertemperaturen bauen sie sich dort nur langsam ab. Gut sichtbar trage die mächtige Meeresströmung überdies einen zehn bis zwölf Meter breiten Gürtel aus Unrat nordwärts: Plastiktüten, Dosen, Stahlnetze. Das meiste, so Gennadij Matishov stamme aus dem nahen Norwegen. Aber auch spanische Etiketten seien im Treibmüll gefunden worden.

Die Barentssee steht vor der ökologischen Katastrophe

Zu schaffen mache dem Meer ferner die wachsende Menge niedrig strahlenden radioaktiven Abfalls, den sowohl zivile als auch Kriegsschiffe dort versenken. Die Abgase der nahen Nickelhütten auf Kolas hielten sich dagegen noch in den Grenzen tolerierbarer Werte.

Die Barentssee — eine weitere maritime Müllkippe in Europa? Der sowjetische Wissenschaftler bejaht dies. Und: Wenn nicht bald etwas geschieht, droht der Barentssee die ökologische Katastrophe.