Grundrisse, Nummer 40
Dezember
2011

Die Bolschewiki und die Übernahme der Ministerialbürokratie

„Allenthalben fand ich da die Wurzeln der gegenwärtigen Gesellschaft tief eingepflanzt in alten Boden“, schrieb Tocqueville in seinem berühmten Werk über jene Große Französische Revolution, [1] in deren Folge sich die ganze Welt umgewälzt. So grundlegend dieser Wandel auch gewesen war, den die Revolution heraufbeschworen hatte, so wenig hatte sie Neues geschaffen, führte er weiter aus. „Die Revolution hat auf einmal, durch eine krampfhafte und schmerzliche Anstrengung, ohne Überlegung, ohne Warnung und schonungslos vollbracht, was sich nach und nach von selbst vollbracht haben würde. Das war ihr Werk.“ [2]

Eine noch größere Umwälzung der Weltgeschichte wird der Russischen Revolution des Jahres 1917 nachgesagt. Und doch fühlten sich jene, die diese Revolution verteufelten, ebenso wie diejenigen, die sie in den Himmel hoben, bemüßigt, zuerst den Nachweis zu erbringen, daß es überhaupt eine Revolution gegeben hat. [5] Hätte das allein nicht nachdenklich stimmen müssen, das Neuartige dieser Revolution mit kritischen Verstand zu untersuchen und mit Marx zu fragen: Wie kann eine neue Gesellschaft geboren werden, ohne daß ihre Bedingungen herangereift sind? Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat offenbart, daß die Revolution von 1917 den Vergleich mit der Französischen Revolution nicht aushält, daß sie zwar ein Zeitalter geprägt hat, nicht aber eine neue Zeit begründet. Um so berechtigter ist die Frage nach den Kontinuitäten, die den Wandel der revolutionären Zeit überdauerten und ihr gleichsam den Stempel aufdrückten. Nicht wenigen ist eine Ähnlichkeit zwischen der Sowjetunion unter Stalin und dem kaiserlichen Rußland aufgefallen, etwa in der Außenpolitik, in den Gepflogenheiten der Diplomatie, der Rechtlosigkeit seiner Bürger, im Heereswesen, [6] im Staat, [7] seiner Herrschaftstradition, [8] ja sogar in der Allmacht des Staatseigentums. [9] Von einem kommunistischen Blickwinkel aus betrachtet, fühlt man oder frau sich unweigerlich an eine Passage von Marx über Rußland erinnert. „Ein einfacher Austausch von Namen und Daten wird genügen, um zu beweisen, daß zwischen der Politik Iwans II. und der des modernen Rußland nicht nur Ähnlichkeit, sondern Übereinstimmung besteht.“ [10] Sollte dies auch für die Politik Stalins und der Sowjetunion gelten?

„Der Zusammenbruch des alten Staates bedeutet nicht, daß er dem Regime, das ihm folgte, nicht gewisse Deformierungen weitergegeben hätte. Diese der zaristischen Vergangenheit geschuldete Prägung der Geschehnisse zieht sich tatsächlich bis zum Zusammenbruch des sowjetischen Systems. (Moshe Lewin)“ [11] Die Andeutung einer Kontinuität ersetzt aber keine historische Erklärung, denn diese historische „Prägung aus der Vergangenheit“ bedarf selbst einer solchen. Was liegt da näher als zunächst nach dem Charakter des Staatsapparates zu fragen? Während für moderne Historiker die Kontinuität der russischen Ministerialbürokratie aus der Zeit der provisorischen Regierung in die Zeit Lenins eine Selbstverständlichkeit zu werden scheint, [12] beharrt das Gros der Autoren, die sich einem Marxismus verpflichtet fühlen, darauf, daß eine revolutionäre Umgestaltung im Sinne von Karl Marx, welcher eine Zerschlagung des Staatsapparates forderte, stattgefunden habe. [13] Daß die Frage einer Kontinutität von dieser Seite weitgehend übersehen wurde, erscheint umso erstaunlicher, wenn die Äußerungen eines berühmten Marxisten der 20er Jahre herangezogen werden, der mehrmals betont hatte, daß der Staatsapparat in Rußland nicht zerschlagen, sondern von den neuen Machthabern übernommen worden war. In seiner Rede zum IV. Kongreß der Kommunistischen Internationale Ende 1922 gesteht Lenin in der Diskussion über die Probleme Rußlands ein, daß „unser Staatsapparat schuld“ sei. „Wir haben den alten Staatsapparat übernommen, und das war unser Unglück.“ [14]

Oben haben wir, ich weiß nicht wieviel, aber ich glaube sicher, nur einige Tausend, Maximum einige Zehntausend der Unsrigen, unten dagegen haben wir Hunderttausende alter, vom Zaren, aber auch von der bürgerlichen Gesellschaft übernommener Beamter, die teils bewußt, teils unbewußt gegen uns arbeiten. [15]

Lenin hatte diese Kritik am revolutionären Staat vor einem internationalen Publikum ausgebreitet. Daran wird deutlich, welch hohen Stellenwert er dieser Angelegenheit beimaß. In seinen letzten Aufzeichnungen wird er noch deutlicher. Der „Apparat“ „ist unter aller Kritik“. „Im Grunde genommen wurde er uns vom alten Regime hinterlassen, denn es war völlig unmöglich, ihn in so kurzer Zeit, besonders während des Krieges, der Hungersnot usw. umzugestalten.“ [16] Daß der alte, mit einem anderen Wort zaristische, Staatsapparat übernommen wurde, ist ein erstaunliches Bekenntnis des großen Revolutionärs, zumal es sich in offenkundigem Widerspruch zu seinen vorrevolutionären Beteuerungen befand. Hatte Lenin nicht 1917 in Staat und Revolution, bzw. in Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten geschrieben, daß der Staatsapparat zu zerschlagen sei?

Der Marxsche Gedanke besteht darin, daß die Arbeiterklasse ‚die fertige Staatmaschine’ zerschlagen, zerbrechen [von Lenin hervorgehoben] muß und sich nicht einfach auf ihre Besitzergreifung beschränken darf. [17]

Lenin definiert dies als die „Hauptlehre des Marxismus“. [18] Es tut hier nichts zur Sache, ob Marx einer solchen Wertung zugestimmt haben würde oder nicht. Lenin hat dieses „Zerbrechen“, „Zerschlagen“ des Staatsapparats in den Mittelpunkt seiner Staatsanalyse und seiner Prinzipien für die sozialistische Revolution gestellt. Er betont dies gegenüber Auffassungen, diesen Staatsapparat nur umzuformen oder den einen Staatsapparat durch einen anderen, aber ähnlichen zu ersetzen. So bestimmte er den Gegenstand im daran anschließenden Kapitel, betitelt: „Wodurch ist die zerschlagene Staatsmaschine zu ersetzen?“: „Die zerschlagene Staatsmaschine heißt“ „…,daß in riesige[m] Ausmaß die einen Institutionen durch Institutionen prinzipiell anderer Art ersetzt“ werden. [19] Und gegen Ende seines berühmten Werkes in der Polemik gegen Karl Kautsky findet sich die Formulierung: „Die Revolution darf nicht darin bestehen, daß die neue Klasse mit Hilfe der alten Staatsmaschinerie kommandiert und regiert, …“ [20]

Was nun? Der revolutionäre Theoretiker bestimmt, daß der Staatsapparat zu zerschlagen sei, der revolutionäre Praktiker gesteht dagegen, daß die Revolution diesen übernommen habe, mit anderen Worten: die Revolution habe die Hauptlehre des Marxismus mit Füßen getreten. Hie die hehre Theorie, dort die schnöde Wirklichkeit. Nun soll uns hier nicht die öde Frage interessieren, ob der praktische Instinkt der russischen Revolutionäre nicht Marx der Utopie überführt habe. [21]

Der Staatsapparat in Rußland wurde nicht zerschlagen, wie wir aus Lenins Mund erfahren haben. Warum nicht? Das Problem, erklärt der Führer der Bolschewiki, habe darin gelegen, daß man ihn nicht habe revolutionär „umgestalten“ können, nicht, weil dies prinzipiell unmöglich sei, wie er es in Staat und Revolution ausgeführt hat, sondern weil die verfügbare Zeit damals zu kurz gewesen wäre. Lenin entschuldigt dies mit Krieg und Hungersnot. [22] Er verwischt hier Umstände mit Ursachen, denn die Akteure einer Revolution sind nicht Krieg und Hungersnot. Wenn die Aufgabe war, den Staatsapparat zu zerschlagen, so kann dessen Weiterexistenz nicht damit erklärt werden, daß für seine Umgestaltung zu wenig Zeit verblieben sei. Außer wir revidieren die „Hauptlehre des Marxismus“ dahingehend, daß wir anstelle von „Zerschlagung“ nur mehr von „Umgestaltung“ sprechen. [23]

Wir stehen vor Lenins bemerkenswertem Eingeständnis, daß der bürokratische Sumpf, in den die russische Revolution geraten war, damit zusammenhänge, daß „man“ den „alten Staatsapparat“ übernommen habe, wobei „man“ ihn selbst und die Führung der Bolschewiki meine. [24] Allerdings schließt er daraus keineswegs auf die fundamentale Frage, warum er und die Führung der Bolschewiki nicht nur die Grundsätze seiner Schriften des Jahres 1917, sondern auch die „Hauptlehre“ Marxens mißachteten und ihr entgegengesetzt handelten?

Mit dieser Frage hat es noch eine andere und theoretisch hoch brisante Bewandtnis für den Kommunismus. Einmal vorausgesetzt, Lenin habe Recht mit seiner Behauptung, die „Zerschlagung des Staatsapparates“ sei die „Hauptlehre des Marxismus", so folgt in Verbindung mit der Feststellung, wonach in Rußland dieser Staatsapparat nicht zerschlagen wurde, was sich durch die strukturelle und personelle Kontinuität der Ministerien und ihrer bestimmenden Rolle im neuen Staat beweisen läßt, daß diesem neuen Staat am bolschewistischen Selbstverständnis gemessen unmöglich sozialistischer oder kommunistischer Charakter zugesprochen werden kann. Alle Diskussion über den Charakter der Sowjetunion, sei es über „Fehler“ und „Abweichungen“, über „Degeneration“ oder „bürokratische Entartung“, erübrigen sich mit dem Nachweis einer Kontinuität der Herrschaftsstruktur, die vom Zarismus in das nachrevolutionäre Rußland reicht. Der grundlegende Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, wie er von Kritikern der Sowjetunion formuliert wurde, [25] trifft damit ebenso auf den Ursprung des Sowjetstaates zu. Allerdings kann sich eine materialistische Untersuchung nicht mit Lenins halbherziger Kritik am Ursprung des sowjetischen Regierungssystems zufrieden geben. [26] Korrekterweise ist zuerst der Nachweis zu erbringen, daß Lenins Behauptungen zutreffend sind. Hören wir hierzu den bekannten deutschen Sowjet-Historiker Helmut Altrichter:

Die Ergebnisse der historischen Studien „zeigen, wie unter neuem Namen das alte System der Fachministerien wieder entstand, neben Partei- und Räteherrschaft an Terrain gewann und als Zentrum der politischen Verwaltung bis zum Anfang der 20er Jahre unverzichtbar wurde. [27]

Und T.H. Rigby in seiner Untersuchung zu Lenins Regierung schreibt:

Even in such institutions as the courts and the armed forces, where change predominated, there were significant continuities of structure, personnel and processes. [H.v.m. S.J.] In most spheres of state activity the field units underwent little change in the aftermath of the October Revolution. [28]

Und selbst Richard Pipes, der den Bolschewiki alle Übel der Welt anlastet und für den sie die Inkorporation des Bösen schlechthin sind, entlastet sie hier vor dem historischen Gericht.

Den Bolschewiki blieb somit nichts anderes übrig, als sich auf den alten bürokratischen Apparat und andere „bürgerliche Spezialisten“ zu stützen und sich mit einer Kontrolle der Verwaltungsleute zu begnügen, wenn sie die Verwaltung schon nicht selbst in die Hand nehmen konnten. [29]

Diese Skizze der historischen Prozesse kann nur die Richtung andeuten, wie dieser Gegensatz von politischem Programm und politischer Wirklichkeit erklärt und rational verstanden werden kann. Weiter kann die Frage, weshalb die Bolschewiki den Abgrund nicht sahen, der sich zwischen ihrem Wirken und den kommunistischen Grundsätzen, auf die sie sich beriefen, auftat, erst beantwortet werden, nachdem die geschichtlichen Kräfte begriffen sind, welche die Bolschewiki zu ihrer „falschen Praxis“ trieben und treiben ließen. Alle diese Fragen können hier nur gestellt, nicht aber beantwortet werden. Hier müssen eine Skizze des historischen Prozesses, worin die bolschewistische Führung auf den zaristischen Apparat zurückgriff, und ein Anreißen der damit in Zusammenhang stehenden Fragen genügen.

Doppelherrschaft nach dem Oktober

Von der subjektiven Seite der Akteure aus gesehen ist zuerst die irrige Auffassung Lenins über Wesen und Form sozialer Revolutionen hervorzuheben. Er versteht unter sozialer Revolution vor allem einen Regierungswechsel. Die Umwälzung bestehe darin, sagt er am 25.10. 1917, „daß wir eine Sowjetregierung, unser eigenes Machtorgan haben werden, ohne jegliche Teilnahme der Bourgeoisie.“ [30] Was soll „ohne jegliche Teilnahme der Bourgeoisie“ heißen? Satzlogisch legt er den Begriff der Arbeiter- und Bauernrevolution in die Sache, daß nunmehr keine Personen an der Regierung beteiligt sind, welche personell mit den Interessen der Bourgeoisie verbunden sind oder aufgrund ihrer sozialen Position dem Bürgertum zugerechnet werden können. Nun bietet die Besetzung von Regierungspositionen mit Arbeitern und Bauern per se keine Gewähr für Arbeiterpolitik, was bereits vor dem 1. Weltkrieg bemerkt wurde. [31] Der Handlungsspielraum einer Regierung ist immer gebunden an den Apparat, über den sie verfügt, und dies ist in der jüngeren Geschichte der moderne Staatsapparat. Lenin sieht nicht, daß der Staat und sein Apparat auf bestimmten sozialökonomischen Verhältnissen ruhen, welche ihrerseits der Freiheit jeder Regierung Grenzen ziehen. Dabei hat Marx gerade hierüber zeit seines Lebens gearbeitet. Dem Staatsapparat fehlt die Macht, seine eigenen Existenzbedingungen hinwegzubefehlen. Völlig unverständlich ist darum Lenins Annahme, daß mit der Regierungsübernahme der alte Staatsapparat zerschlagen werden könne, wie es aus seinen weiteren Ausführungen am Tage der revolutionären Erhebung hervorgeht. [32]

Nun hat Lenin zwar, wie wir wissen, eine Reihe großer Schlachten gewonnen, aber es scheint, als teilte er im entscheidenden Krieg sein Schicksal mit dem Begründer des Mogulreiches, der, angetreten seine Heimat zu erobern, sich schließlich wiederfand, ein fremdes Reich unterworfen zu haben. Nur wußte Fürst Babur stets, daß er sich in Indien, nicht aber in seinem gelobten Land befand. Dem großen Revolutionär aber dämmerte wie Kolumbus sein Lebensirrtum erst auf dem Totenbett.

Der zweite Allrussische Sowjetkongreß

Die neue Regierung bestellte der Sowjetkongreß gegen Ende seiner zweiten und letzten Sitzung, als der Kongreß, wie der Zeitzeuge Suchanow berichtet, bereits auseinanderzufallen drohte. Es wird ihr der Name „Rat der Volkskommissare“ gegeben und, nachdem die linken Sozialrevolutionäre ihre Mitarbeit abgelehnt hatten, fanden sich darin ausschließlich Mitglieder der bolschewistischen Partei. Diese Regierung, bemerkte Suchanow hellsichtig, habe sich in nichts außer dem Namen von ihrer Vorgängerin unterschieden.

Es ist diese Kontinuität, die von einigen Historikern bemerkt und zu Recht hervorgehoben wurde. Trotz des Auszuges der menschewistischen Delegierten, der rechten Sozialrevolutionäre und anderer Gruppierungen aus dem 2. Sowjetkongreß wurde ein Gegenantrag eingebracht, welcher verlangte, daß die Regierung aus dem Zentralen Exekutivkomitee des Rätekongresses hervorzugehen hätte.

Indem der Kongreß „anerkennt, daß für die Rettung der Errungenschaften der Revolution die sofortige Bildung einer Regierung notwendig ist, die sich auf die in den Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten organisierte revolutionäre Demokratie stützt, indem er weiterhin anerkennt, daß es Aufgabe dieser Regierung ist, möglichst bald einen demokratischen Frieden zu erwirken, das Land den Landkomitees zu übergeben, die Kontrolle über die Produktion zu organisieren und in der bestimmten Frist die Konstituierende Versammlung einzuberufen, ordnet der Kongreß an: ein vorläufiges Exekutivkomitee zu wählen zur Schaffung einer Regierung in Übereinstimmung mit den Gruppen der revolutionären Demokratie, die auf dem Kongreß wirken. [33]

In diesem Gegenantrag findet sich der Rätegedanke wieder. Die Stufenpyramide der Sowjets schloß jeweils ein Exekutivkomitee oder ein Präsidium an der Spitze ab. Dies läßt sich an den großen Räteorganisationen wie den Sowjets von Petersburg oder Moskau zeigen. [34] Anstatt nun das Präsidium oder Exekutivkomitee des Sowjetkongresses mit der Bildung eines zentralen Vertretungskörpers (Regierungsapparates) zu beauftragen, wurde durch die Gründung des Rates der Volkskommissare eine Parallelinstitution geschaffen. Genaugenommen hat der Sowjetkongreß zwei Regierungen bestellt. Wie sich in den nächsten Tagen zeigte, fühlte sich der Rat der Volkskommissare nicht dem Zentralen Exekutivkomitee unmittelbar verantwortlich, sondern dem Rätekongreß, aus dem er seine Legitimation bezog. Dies machte Lenin bereits in der Auseinandersetzung mit den Parteikräften klar, welche auf eine Regierung unter Einschluß aller sozialistischen Parteien zielte. Der gesamtrussische Rat der Eisenbahnarbeitergewerkschaft (Wikschel) [35] hatte bereits auf dem 2. Sowjetkongreß verdeutlicht, daß er eine rein bolschewistische Regierung mißbillige und für eine Regierung aller sozialistischen Parteien votiere, die in den Sowjets vertreten sind. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, drohte er mit allgemeinen Streiks. Die Bedeutung von Wikschel wird daraus ersichtlich, daß diese Vertretung der Eisenbahner tatsächlich Verhandlungen über eine Neubesetzung der Regierung erzwingen konnte. Nicht wenige Mitglieder des bolschewistischen Zentralkomitees unterstützen den Gedanken einer solchen gesamtsozialistischen Regierung, entstammte der Gedanke der an sich richtigen Überlegung, daß das Proletariat nur in seiner Gesamtheit seine Selbstbefreiung durchsetzen könne. Dagegen schleuderte Lenin am 2. November seine Kriegserklärung:

Das Zentralkomitee stellt fest, daß man, ohne Verrat an der Losung der Sowjetmacht zu üben, auf eine rein bolschewistische Regierung nicht verzichten kann, nachdem die Mehrheit des II. Gesamtrussischen Sowjetkongresses, ohne irgend jemanden vom Kongreß auszuschließen, dieser Regierung die Macht übertragen hat. [36]

Und in seinem Ultimatum tags darauf, mit dem er den Abbruch der Verhandlungen mit Wikschel erzwang, schrieb er:

Diese Resolution erklärt jeden Versuch, unserer Partei den Verzicht auf die Macht aufzuzwingen, für Verrat an der Sache des Proletariats, nachdem der Gesamtrussische Sowjetkongreß, auf der Grundlage unseres Programms, diese Macht im Namen der Millionen Arbeiter, Soldaten und Bauern den Vertretern unserer Partei übergeben hat. [37]

Lenins Argumentation – die übrigens hier mit Trotzkis völlig konform geht – besagt, daß die Mehrheit des Sowjetkongresses die Bestellung der Regierung entschieden habe. Darum vertrete die Partei, welche der Kongreß mit der Bildung der Regierung beauftragt hat, bzw. gewählt hat, die Interessen der proletarischen Gesamtheit. Lenin und Trotzki irren. Bürgerliche Politiker des 20. und 21. Jahrhunderts argumentieren in dieser Weise auf der Grundlage des Repräsentationsprinzips. Das Prinzip der Selbstemanzipation des Proletariats hingegen verlangt, daß alle Vertretungen der Arbeiterklasse an den Entscheidungen beteiligt sind. Wie anders könnte die Einheit der Arbeiterklasse verwirklicht werden? „Verrat" an der Sache des Proletariats war darum nicht die Forderung nach einer Regierung aller revolutionärer sozialistischer Parteien, sondern vielmehr die Spaltungsstrategie, die Lenin betrieben hat. Außerdem hatte – ganz im Gegensatz zu seiner Argumentation - das vom Rätekongreß eingesetzte Zentrale Exekutivkomitee (VCIK) jederzeit das Recht, die Zusammensetzung dieser Regierung zu ändern. Der Rätekongreß hatte bestimmt, daß der Rat der Volkskommissare (Sovnarkom) dem Zentralen Exekutivkomitee (VCIK) gegenüber verantwortlich ist und die Kongreßvertretung die Regierung absetzen kann. [38] Nun wurden die Verhandlungen mit den anderen sozialistischen Parteien gerade unter der Ägide des Zentralen Exekutivkomitees (VCIK) geführt, das, legitimatorisch gesehen, sehr wohl über eine Umbesetzung der Regierung befinden konnte - trotz des Votums des Rätekongresses für den bolschewistisch besetzten Rat der Volkskommissare (Sovnarkom). Daß sich an diesen Verhandlungen namhafte Mitglieder des ZKs der Bolschewiki beteiligten, lag in der Natur der Sache, da die Mehrheit der VCIK-Mitglieder selbstredend Bolschewiki waren. Mit der faktischen Weigerung, sich dem VCIK unterzuordnen, stellten sich Lenin und Trotzki explizit gegen das von ihnen verbal vertretene Rätesystem und auch gegen den expliziten Beschluß und Willen des Sowjetkongresses. Dabei stammte die Resolution, die dem Beschluß zugrunde lag, aus Lenins eigener Feder.

Was ist daraus zu schließen? Bereits wenige Tage nach seiner Gründung hatte der Rat der Volkskommissare (Sovnarkom) seinen Machtanspruch gegenüber dem Rätesystem erhoben und den historischen Prozeß eingeleitet, worin sich die vom Rätekongreß eingesetzte Regierung ihrer eigenen Voraussetzung entgegensetzt. Es trieb zur Entscheidung der Machtfrage hin, wer an der Spitze des Staates zu stehen habe: der Rat der Volkskommissare (Sovnarkom) oder das Exekutivkomitee des Rätekongresses (VCIK). Bereits am 30. Oktober 1917 hatte der Rat der Volkskommissare in einem denkwürdigen Dekret sich selbst alle Gesetzgebungsgewalt übertragen, wenngleich zunächst befristet bis zur Einberufung der verfassungsgebenden Versammlung. [39] Was aber war dieser Rat der Volkskommissare, der aus dem Rätesystem herausfiel und sich bereits Anfang November gegen die Rätestruktur stellte?

Der Rat der Volkskommissare glich in seiner Ressortaufgliederung den früheren Regierungen, die Lenin als bürgerlich tituliert hatte, obwohl Vertreter der Arbeiterparteien darin wirkten. Lenin übernahm diese Ressortaufteilung ohne zu problematisieren, ob diese für eine proletarische Politik tauglich sei. Aber noch in einem anderen Punkt nähert er sich bürgerlichem Demokratieverständnis. Er gründet das legitimatorische Selbstverständnis der Regierung auf das Mehrheitsvotum des Rätekongresses, nicht aber auf die Feststellung eines Gesamtwillens, wie ihn eine gesamtsozialistische Regierung hätte beanspruchen können. Nicht die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit ist ihm der Maßstab, sondern das Mehrheitsverhältnis der Arbeiterparteien im Arbeiterparlament. Die Arbeiterregierung vertritt die Arbeiter, sprich ihre Mehrheit, ist aber nicht Ausdruck des Willens der Arbeiterschaft. Durch dieses bürgerliche Repräsentationsprinzip scheidet Lenin die Arbeitervertretung von der Arbeiterschaft und schafft zwei Regierungen mit unterschiedlicher Legitimation: die eine repräsentiert die Arbeiterschaft, während die andere sie vertritt. Was Lenin mit Doppelherrschaft aus der Zeit der Provisorischen Regierungen beschrieben hatte, ist mit dieser Konstruktion in die Zeit nach dem Oktober hinübergerettet worden. [40] Der Kampf war vorprogrammiert. Und in der Tat führte der Rat der Volkskommissare bis Mitte November gegenüber den Sowjetorganisationen und den Resten der alten Staatsmacht nur eine Art Schattendasein.

Verweilen wir noch ein wenig bei dieser Konstruktion, die so sehr aus der Logik des Sowjetsystems herausfällt. Der Gegenantrag Glebow-Avilows, der den Gedanken des russischen Sowjetsystems zum Ausdruck brachte, war, wie bereits gesagt, auf dem Sowjetkongreß unterlegen. Daß Sowjetkongresse Beschlüsse fassen, welche dem Rätegedanken zuwiderlaufen oder der Logik eines Rätesystems nicht entsprechen, ist in der Geschichte der modernen Revolutionen nicht ungewöhnlich und Teil eines umfangreichen Erfahrungsprozesses. Dies sollte uns nicht weiter aufhalten, zeugt aber doch von einer mangelnden Durchdringung des Sowjetgedankens innerhalb des russischen Sowjetsystems. Andererseits aber war der Rätegedanke soweit gereift, daß der Widerspruch zur Konstruktion des Rats der Volkskommissare noch während des Kongresses gefühlt, bemerkt und artikuliert wurde.

In der Form, wie der Rat der Volkskommissare bestellt wurde, unterscheidet sich seine Wahl nicht von dem Vorgang, wie eine bürgerliche Versammlung ihre Regierung bestimmt. Selbst die einzelnen Minister wurden nicht jeder für sich durch den Kongreß bestellt, sondern an Hand einer gemeinsamen Liste. Diese Listenwahl entspricht ganz und gar nicht dem Modus einer Rätevorstellung, welche die Kontrolle und ständige Rückrufbarkeit der Delegierten in den Vordergrund stellt. Eine solche Listenwahl würde das Recht der Rückrufbarkeit der Delegierten auf eine Listenabwahl reduzieren und damit ad absurdum führen. Daß die Partei der Sozialrevolutionäre sich der Teilnahme an der Regierung enthalten hatte und darum die bolschewistische Partei als Mehrheitspartei allein die Regierung stellte, ist ein weiteres Merkmal für die Ähnlichkeit zu parlamentarischer Regierungsbildung. Wir stehen hier vor dem Phänomen, daß die bolschewistischen Führer im Rat der Volkskommissare ein abgewandeltes bürgerliches Regierungsmodell vertreten gegenüber einer Rätekonstruktion im Zentralen Exekutivkomitee, das sich seiner Rolle nur bedingt bewußt ist. Warum entsteht unmittelbar nach der Machtkonzentration im Sowjetkongreß an der Spitze Rußlands ein der bürgerlichen Repräsentation entlehntes Regierungsmodell? Dies ist der politische Teil der Frage.

In dem Dekret über die Bildung des Rats der Volkskommissare findet sich der bereits erwähnte Passus.

Die Kontrolle über die Tätigkeit der Volkskommissare sowie das Recht, sie abzusetzen, steht dem gesamtrussischen Kongreß der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten und seinem Zentralexekutivkomitee zu. [41]

Das rätedemokratische Geklingel täuscht. Auch die Parlamente bürgerlicher Regierungssysteme beanspruchen für sich das Recht der Regierungskontrolle, unabhängig davon, ob es sich um ein parlamentarisches oder präsidiales Regierungssystem handelt. Ferner werden in dem Beschluß die Kontrollbefugnisse nicht näher bestimmt, über welche der Rätekongreß bzw. sein Exekutivkomitee verfügen. Gerade das Recht, die Regierung abzuberufen, bleibt denkbar unbestimmt. Es geht aus der Formulierung nicht hervor, ob es sich auf die Regierung in ihrer Gesamtheit oder auch auf einzelne Volkskommissare bezieht. Und bedeutsamer noch erwies sich der Mangel einer Bestimmung der Kontrollrechte besagter Organe gegenüber den ministeriellen Apparaten der Volkskommissariate. Eine solche Kontrolle war weder über ihre personelle Besetzung noch über die Arbeitsabläufe vorgesehen. Mit anderen Worten: Aus dem Wortlaut des Beschlusses ergeben sich keinerlei Kontrollrechte, geschweige denn Eingriffsrechte der Räteorgane in die Tätigkeit der Staatsorgane, welche der Regierung unterstellt sind. Allein die Spitzen der Staatsverwaltung werden einer unbestimmten Kontrolle unterworfen. Wollte das Exekutivkomitee gegen eine bestimmte Abteilung der Staatsverwaltung ihr Mißtrauen aussprechen, mußte es der Gesamtregierung ihr Mißtrauen aussprechen, in der Hoffnung, daß eine neue Regierung, die geforderten Veränderungen und Maßnahmen erwirkt. Die Absurdität einer solchen Konstruktion ist offenbar. Ein direkter Eingriff in die Zentralverwaltung stand dem obersten Kontrollorgan des Rätekongresses nicht zu. Die Teilung zwischen Regierung und Verwaltung, welche Marx in seiner Kommuneschrift für tendenziell aufgehoben bestimmte, blieb hier grundsätzlich erhalten.

Weiterhin unterscheidet der Kongreß nicht hinsichtlich der Kontrollrechte zwischen dem Rätekongreß und seinem Exekutivorgan. Letzteres wird darum dem Kongreß gleichgestellt, was darauf hinausläuft, den Rätekongreß gegenüber seinem Exekutivkomitee abzuwerten. Der Rätekongreß wird zu einer Veranstaltung für Personalwahlen degradiert, woraus gefolgert werden könnte, daß nicht ihm das Recht, die Dekrete des 26. Oktober zu beschließen, zugekommen wäre, sondern allein dem von ihm bestellten Exekutivkomitee. In der Logik des Rätegedankens beansprucht der nationale Rätekongreß eine allseitige Kontrolle des von ihm bestellten Exekutivkomitees, das selbst oder in Gestalt eines Präsidiums der Regierung vorsteht. Hier aber wird diese Kompetenz des Rätekongresses auf eine rein personelle Kontrolle seines Exekutivkomitees zurechtgestutzt, weil des Exekutivkomitee (VCIK) als reines Kontrollorgan und nicht als Gesetzgebungsorgan fungiert. Fernerhin ist diese Kontrolle mit dem Auseinandertreten des Sowjetkongresses von ihm auf sein Exekutivorgan übergegangen. Wir stehen vor der eigenartigen Konstruktion eines Rätesystems, das sich an seiner Spitze in eine parlamentsähnliche Kontrollveranstaltung verwandelt. In diesem eigenartigen Zwitterverhältnis zwischen Rätedasein und pseudoparlamentarischer Beziehung zum Rat der Volkskommissare ist das unbestimmte Kontrollrecht des Exekutivkomitees ziemlich bedeutungslos, denn es verbleibt ihm kein positiver Inhalt außer der Möglichkeit, die Regierung abzusetzen. Aber auch diesem Absetzungsrecht kommt keine reale Bedeutung zu, denn weder ist der Modus bestimmt, nachdem eine solche Absetzung vonstatten gehen könnte, noch ist die Rede von einer jederzeitigen Absetzbarkeit einzelner Volkskommissare, wie es rätedemokratische Vorstellungen fordern.

Anscheinend wurde zu diesem Zeitpunkt nicht die Notwendigkeit verspürt, die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten gegenseitig zu klären. Aber dieser Mangel sollte nicht überbewertet werden, denn diese Bestimmungen können sich im historischen Prozeß mit Inhalt füllen. Allerdings weist dies darauf hin, daß es eines historischen Prozesses bedarf, mit anderen Worten eines Klärungsprozesses innerhalb divergierender Interessen. Die korrekte historische Frage lautet darum nicht, wieso der Rätekongreß die Klärung und Bestimmung der von ihm bestellten Organe unterlassen habe, sondern warum sich die Klärung dieses Verhältnisses zuungunsten des Rätekongresses und seines Exekutivorgans entwickelt habe. Welche Institution sich in der Konkurrenzsituation durchsetzen und die tatsächliche Regierungsgewalt übernehmen konnte, lag außerhalb der Macht der Partei der Bolschewiki. Darüber entschieden die Fähigkeiten der jeweiligen Institutionen, die wichtigsten aktuellen Aufgaben des Landes und der Revolution zu lösen.

Dem aufmerksamen Leser ist bereits die Merkwürdigkeit aufgefallen, daß dieser Kongreß von welthistorischer Bedeutung gerade zwei Mal tagte und noch dazu des Nachts. Die Delegierten waren hungrig, müde und erschöpft, und gerade darum verwundert es, daß sich die Versammlung nicht in Permanenz erklärte. Nur dadurch hätte sie Zeit gewonnen, nicht nur die Müdigkeit ihrer Delegierten zu überwinden, sondern auch die drängenden Fragen und Probleme einer allgemein akzeptierten Lösung zuzuführen und zu erklären, daß sie nicht nur die gesamte politische Macht für sich reklamiere, sondern auch den Willen habe, diese durchzusetzen.

Und noch ein weiteres rätedemokratisches Problemfeld erscheint bei näherer Betrachtung dieser quasiparlamentarischen Gewaltenteilung zwischen Exekutivkomitee und dem Rat der Volksbeauftragten (Regierung). Wenn dem Exekutivkomitee keine Regierungsgewalt zukommt, beschränkt sich das Kontrollrecht des Rätekongresses gegenüber seinem Exekutivorgan auf rein personelle Kontrolle der Regierungskontrolleure. Die Demokratie reduziert sich hier auf die Kontrolle der Kontrolleure. Wie verhält es sich aber mit dem gebundenen Mandat, von dem Marx in seinen Ausführungen zur Pariser Kommune gesprochen hat? Es gibt den Wahlkörpern die Macht, auch auf die Inhalte des Regierungshandelns Einfluß zu nehmen. Hier in der profanen russischen Wirklichkeit der Revolution entbehrt es jeglicher materieller Substanz, weil dem Exekutivkomitee nicht die ausschließliche legislative Kompetenz zukommt. Soweit zur politischen Analyse der obersten Organe des Staates, der sich der erste Sowjetstaat nannte.

Die Übernahme des vorrevolutionären Staatsapparates

I.

Eine der großen Überraschungen, welche die russische Revolution offenbart, ist die Übernahme des alten Staatsapparats durch die Führung der Revolution.

Daß dies, vom ideologischen Standpunkt des ’revolutionären Marxismus’ aus gesehen, ein eklatanter Theorieverstoß war, ist bereits gesagt worden. Mit dieser Feststellung ist aber nichts erklärt, außer es wolle behauptet werden, die Bolschewiki seien schuld am Scheitern der sozialen Revolution, sie hätten die Revolution verraten und letztlich dem Stalinschen Terror den Weg geebnet. Ob dies daher rühre, daß sie die Verkörperung des Bösen schlechthin seien oder nur scheinheilige Marxisten, ist einerlei, denn diese Auffassungen basieren auf der falschen Grundannahme, Geschichte könne nach Belieben der Mächtigen geformt werden. Mit der materialistischen Methode, von der Marx und Engels sprechen, haben solche Erklärungen nichts gemein. [42]

Was war geschehen? Die Mitglieder des Rats der Volksbeauftragten standen alle mit Ausnahme von Lenin und dem Komitee für militärische und Marineangelegenheiten einem Ressort vor. Außer des Namens gab es kaum einen Bruch mit der Tradition der Regierungsorganisation. Von 20 vorrevolutionären Ministerien finden sich 16 in der Organisation der bis zum Dezember eingerichteten Volkskommissariate. Vier neue Ministerien schuf der Rat der Volkskommissare: für Gesundheit, für Nationalitätenfragen, für Vermögenswerte und nach dem Eintritt der linken Sozialrevolutionäre in die Regierung das Kommissariat für örtliche Selbstverwaltung. Genaugenommen müßte hier noch die im Dezember gegründete Außerordentliche Kommission (Tscheka) mit hinzugerechnet werden. [43]

Fachbehörden wie das Finanzministerium wurden nahezu vollständig übernommen. Von der höheren Beamtenschaft der Volkskommissariate waren (im August 1918) 80-90% schon vor der Oktoberrevolution im öffentlichen Dienst tätig gewesen, nur 8% von ihnen waren Bolschewiki. Allein im Volkskommissariat für ‚Auswärtige Angelegenheiten’ und für ‚Nationalitätenfragen’ sowie der ‚Außerordentlichen Kommission’ lag es etwas anders. [44] Pipes, in der ihm eigentümlichen Übertreibung, betont: „Das neue Kabinett hatte dieselbe Struktur wie das alte, erweitert lediglich um einen neues Amt, das des ‚Volkskommissars für Nationalitätenfragen‘.“ [45]

Mit der Übernahme der alten Ministerialbürokratie verkümmerten die Fachabteilungen des Exekutivkomitees (VCIK). Zum Aufbau einer eigenständigen zentralen Räteadministration fehlten ihm wohl die Mittel und das Personal. [46] Das Exekutivkomitee (VCIK) hatte auch nicht versucht, sich den alten Behördenapparat untertan zu machen. Dafür hatte es begonnen, einen eigenen Apparat aufzubauen, aber schließlich im Dezember darauf verzichtet. Es entwickelte sich nicht zu einem Nervenzentrum, in dem die entscheidenden Informationen zusammenliefen und das sich fähig zeigte, diese in Gesetze und Verordnungen zu fassen. Die im Dezember 1917 gegründeten Organisationen Tscheka und Oberster Volkswirtschaftsrat wurden daher nicht mehr der Rätespitze, dem Exekutivkomitee (VCIK), sondern der Regierung (Sovnarkom) unterstellt. Von den 184 Gesetzen und Dekreten, die vom Oktober bis zum Ende des Jahres 1917 erlassen wurden, gingen auf das Konto des VCIK gerade neun, 88 zeichnete Sovnarkom, 62 ergingen aus den Fachministerien. Das VCIK konnte selbst seine Kontrollfunktionen nicht mehr erfüllen, löste konsequenterweise Ende Dezember seine Fachabteilungen auf und stellte sie in den Dienst der Volkskommissariate. Bis dahin hatte es vergeblich versucht, eine eigene, auf die Sowjets gegründete Verwaltung, zu schaffen.

Selbst in den Bereichen der Gerichtshöfe und der bewaffneten Kräfte, wo Veränderungen am stärksten waren, blieb die Kontinuität der Struktur, des Personals und der Abläufe erhalten. Innerhalb von wenigen Monaten verschmolzen die Kommissare mit der alten Verwaltungsmaschinerie und der Rat selbst entwickelte seine Entscheidungsstrukturen entlang traditioneller Linien. [47]

In den meisten Bereichen der Staatsaktivitäten wurden die unteren Fachbereiche kaum einer Veränderung unterzogen. Das Verhältnis der Regierung zu den Ministerien bestimmte ein Dekret vom 9. November. Darin wird das Ministerium für Erziehung als der exekutive Apparat unterhalb der Staatskommission für Erziehung genannt. Mit anderen Worten: das Selbstverständnis der Kommissariate bestand nicht darin, einen eigenen Apparat mittels der Sowjets aufzubauen, sondern sich den alten Apparat untertänig zu machen! [48] Mit diesem Konzept im Kopf besuchten die Kommissare, gewöhnlich begleitet von einer Abteilung Rotgardisten, „ihre“ Ministerien. [49] Allerdings stießen sie in den Ministerien auf Ablehnung und erbitterte Feindseligkeit. Die Angestellten erkannten nicht die Legitimität der neuen Herren an und verweigerten Ihnen ihre Mitarbeit. Doch gelang es, diesen Widerstand zu brechen. Schließlich übernahmen die Volkskommissariate die alten Ministerien und gingen in ihnen auf. Selbstverständlich brachten die Kommissare auch eigene Leute mit, wie aus dem Militärischen Revolutionskomitee und ab Dezember auch aus dem Apparat des Exekutivkomitees.

Es sind nicht die Sowjets welche die Verwaltung ausüben oder kontrollieren, wie Lenin es wenig vorher geschrieben hatte. Es ist die nämliche Verfahrensweise wie in einem bürgerlichen System, worin die Exekutive, die Regierung, der Staatsverwaltung vorsteht, nachdem jene aus dem Parlament hervorgegangen ist. Allein daß das Parlament legislative Funktionen erfüllt und mehr oder minder kontrollierende Befugnisse gegenüber der Exekutive hat, fehlt im Verhältnis des Zentralen Exekutivkomitees (VCIK) zum Rat der Volkskommissare (Sovnarkom). Andrerseits hat sich der Rat der Volkskommissare einer quasi parlamentarischen Legitimation bedient, darin nicht unähnlich der Plebiszite verschiedener populistischer autoritärer Regime. Der Gedanke, wie das Kommuneprinzip umzusetzen sei, blieb unerwähnt.

Am 15. November hatte der Rat beschlossen, daß sich seine Volkskommissare in die jeweiligen Ministerien begeben sollten. Der Rat selbst tagte weiterhin im Smolny. Nun vergrößerte sich der Bedarf an regulären Treffen, da die informellen Strukturen versiegten. Ab Mitte November hielt Sovnarkom täglich seine Sitzungen, 77 Sitzungen sind es bis zur Verlagerung des Regierungssitzes nach Moskau (zum 10.3.1918), 25 allein im Dezember 17. Die Vielzahl der Aufgaben wurde zum Problem, ad hoc Kommissionen waren zu bilden. Aus diesen wiederum entstand ein Subkomitee für weniger wichtige Angelegenheiten, wohl nicht zufällig nach dem Vorbild einer Einrichtung von 1905, für die auch der damalige Begriff (vermicelli – Vermischtes) Verwendung fand.” [50] Zwischen Dezember 1917 und Februar 1918 begann die Staatsmaschine bestehend aus alten Beamten und Angestellten, denen eine Handvoll Bolschewiken vorstand, anzulaufen. [51] Die strukturellen Veränderungen, so der Historiker Rigby, waren kaum größer als in westlichen Ländern bei einem Regierungswechsel. Selbstredend beeinflußte der hohe Grad der Kontinuität der zentralen Verwaltungsmaschine die Regierungsarbeit und die internen Abläufe der Regierungsmaschinerie. Im März 1918 zog die Regierung mit ihren rudimentären Apparaten nach Moskau. Die revolutionären Führer und die alten Bürokraten fanden angesichts der gemeinsam zu meisternden Situation rascher zueinander.

Warum griffen die Bolschewiki auf diesen alten Staatsapparat zurück. Richard Pipes, in seinem Machwerk über die Revolution bezweifelt gar, ob sich den Bolschewiki überhaupt eine Alternative bot, „als sich auf den alten bürokratischen Apparat und andere ‚bürgerliche Spezialisten‘ zu stützen und sich mit einer Kontrolle der Verwaltungsleute zu begnügen, wenn sie [d.h. die Sowjets, S.J. ] die Verwaltung schon nicht selbst in die Hand nehmen konnten.“ [52]

II.

Das Personal der zentralen Staatsministerien wies eine überraschende Beharrlichkeit auf. So berichtet der sowjetische Historiker M.P. Irošnikow, daß von der höheren Beamtenschaft im August 1918 80 – 90% bereits vor der Oktoberrevolution im öffentlichen Dienst tätig gewesen waren. [53] Dieser Prozentsatz überrascht angesichts dessen, daß die Zentralisierung der Staatsverwaltung, sowohl in der nationalisierten Industrie, als auch in Bereichen für welche sich die zaristische Bürokratie nicht zuständig gefühlt hatte, einen wachsenden Personalbedarf entwickelte.

Wie Umfragen zeigten, stammten noch im Frühjahr 1918 über 60 Prozent von circa 1000 Angestellten des Versorgungsressorts, die auf eine entsprechende Anfrage antworteten, aus vorrevolutionären Staatsbehörden, 21,6 Prozent sogar aus dem ehemaligen Ministerium. In anderen Kommissariaten sah es wenig anders aus, wie eine andere Untersuchung zeigte. Für Mitarbeiter im innenpolitischen Ressort konnten neben Arbeitern der Putilov-Werke zwar auch Studenten des elektrotechnischen Instituts in Petrograd und von der Universität herangezogen werden, doch waren im Herbst 1918 von 312 auskunftsbereiten Angestellten noch 14 hohe zaristische Beamte, davon 9 aus dem alten Ministerium, Menschewiki und Sozialrevolutionäre eingeschlossen. Beim Volkskommissariat für Finanzen, das sich auf politisch neutrales ‚technisches’ Personal der unteren Beschäftigungsränge stützten konnte, arbeiteten sogar 189 ehemals hohe Beamte neben 20 weiteren auskunftsbereiten Angestellten mit Leitungsfunktionen; zu fast 90 Prozent waren sie im Vorgängerministerium tätig gewesen. Das im November gebildete Kommissariat für Verkehrswesen sah sich infolge akuten Personalmangels genötigt, 163 hohe alte Funktionäre (oder gut 53 Prozent von insgesamt mindestens 304 Mitarbeitern), davon 161 aus dem ehemaligen Ministerium, einzustellen. Im personalintensiven Landwirtschaftsressort, dessen gesamtes Führungskollektiv die linken Sozialrevolutionäre stellten, wies die Statistik 1918 bei einer Belegschaft von mindestens 1159 Angestellten 330 Beamte aus dem alten Ministerium nach. Selbst im Marineressort stellten die alten hohen Funktionäre noch 288 von wenigstens insgesamt 397 Mitarbeitern; 254 von ihnen blickten auf eine Tätigkeit im früheren Ministerium zurück. J. W. Stalin, als Kommissar des neugeschaffenen Ressorts für Nationalitätenfragen mußte neben altgedienten Bolschewiki, die zum Teil schon vor der Revolution hohe Parteiposten bekleidet hatten, 81 alte Funktionäre (d.h. gut 36 Prozent der mindestens 222 Mitarbeiter) beschäftigen. General Bontsch-Brujewitsch gelang es bereits in der ersten Hälfte des Jahres 1918 mehrere Tausend ehemaliger zaristischer Offiziere für die Rote Armee zu gewinnen, welche selbstredend bald nicht mehr nach rätedemokratischen Grundsätzen, wie Wählbarkeit der Offiziere oder einem Milizsystem organisiert war. [54]

Das Ministerium der Staatskontrolle wurde völlig vom zaristischen Staat und den Provisorischen Regierungen geerbt. Obwohl seine Arbeit bis Februar 1918 wegen des Streiks der Angestellten brach lag und daraufhin einige Korrekturen vorgenommen wurden, blieb es im Wesentlichen unangetastet. Über 90% der früheren Angestellten waren verblieben. Kein anderes Ministerium genoß solche geringe Veränderungen in der Struktur, der Funktion und der Zusammensetzung während der ersten Revolutionsmonate. [55] Und es war Stalin, der im April 1919 bemerkte, daß allein das Kommissariat für Staatskontrolle die einzige Sowjetbehörde war, welche keiner ‚Säuberung’ unterzogen wurde. [56]

III.

Trotz der verbalen Beteuerungen, einen nichtbürokratischen Apparat aufbauen zu wollen, galt die Hauptsorge der bolschewistischen Führung dem Aufbau einer funktionsfähigen Bürokratie. Dies erforderte, sich den bestehenden Behördenapparat gefügig zu machen und für die eigenen Zwecke in Bewegung zu setzen, sollten sich die Sowjets dieser Aufgabe nicht gewachsen zeigen. Allerdings bedurfte es mehrerer Wochen, bis die öffentlichen Funktionen in Petrograd in die Dienste der Arbeiter- und Bauernregierung gestellt werden konnten. Viele Angestellte verweigerten der neuen Regierung ihre Gefolgschaft und bestritten deren Legitimität. Erst massiver Druck, die Sperrung der Pensionen und die schwindende Aussicht auf die Rückkehr der alten Regierung bewogen das Gros der Staatsangestellten, für die neuen Machthaber tätig zu werden. Die Übernahme des alten Staatsapparates erwies sich als ein hürdenreicher Weg. Es ist darum zweifelhaft, ob vor Dezember 1917 oder Januar 1918 von einer auch nur ansatzweise ordentlichen Staatsverwaltung geredet werden kann: Das öffentliche Leben mußte darum anderweitig organisiert werden: als deren Akteure kommen nur die Selbstorganisationen der Arbeitenden, die verschiedenen Sowjets, Fabrikkomitees etc. in Frage. Damit perpetuierten die Bolschewiki die Zwitterkonstruktion, die Lenin im Frühjahr als Doppelherrschaft bezeichnet hatte. Auf der einen Seite stand der Rätekongreß mit seinem Exekutivkomitee, welches die Spitze eines embryonalen Rätesystems verkörperte. Auf der anderen der Rat der Volkskommissare, welcher anhob, sich der Mitarbeit der alten ministeriellen Exekutive zu bemächtigen. Obwohl der Behördenapparat mit seinem Widerstand gegen die bolschewistische Führung, den Sowjets geradezu die Karten zuspielte, gelang es diesen nicht, eine eigene Verwaltung zu organisieren, welche die Regierung gezwungen hätte, auf den alten, hierarchisch organisierten Behördenapparat zu verzichten.

Dieser Apparat war sich seiner Unabkömmlichkeit nur zu sehr bewußt und die Staatsangestellten konnten zuweilen ihre Vorstellungen gegen den Willen der Kommissare durchsetzen. Nehmen wir ein Beispiel.

Die Angestellten der Versorgungsbehörden erklärten sich – im Unterschied zu anderen Behörden, welche den Bolschewiki zunächst den Gehorsam verweigerten – für neutral und beschlossen, auf ihrem Posten zu bleiben. Teodorovič aus dem Rat der Volkskommissare billigte diese „Neutralität“. Die Mitglieder seines Kollegiums aber setzten am 18. November bei Lenin durch, daß er durch A.G. Šlichter ersetzt wurde. Zur gleichen Zeit versammelte sich der noch unter der provisorischen Regierung einberufene Allrussische Versorgungskongreß in Moskau und bestimmte einen Versorgungsrat aus 10 Personen mit dem Menschewiken Groman als Vorsitzenden. Dieser neugegründete Versorgungsrat stützte sich vornehmlich auf die örtlichen Versorgungsapparate, worin Menschewiki und Sozialrevolutionäre tonangebend waren, welche dadurch eine für die Machtposition der Bolschewiki bedrohliche Stellung hielten. So berichtete Zelikson, ein Mitglied der Sozial- und Wirtschaftskommission der bereits Ende November 1917 neugewählten und bolschewisierten Stadtduma, daß wegen der Streiks der Angestellten nur mit Hilfe der Soldaten und Verwundeten die Lebensmittelrationen ausgegeben werden konnten. Daher verlangte Šlichter, daß sich der Versorgungsrat seinem Willen beuge und die Unterordnung dieses Gremiums unter sein Volkskommissariat. Als der Versorgungsrat sich weigerte, verfügte er dessen Verhaftung. Dieser Konflikt löste eine Boykott- und Sabotagebewegung aus, welche den Rat der Volkskommissare zwang, mit dem Allrussischen Versorgungsrat Verhandlungen aufzunehmen. Schließlich wurde eine Kommission eingesetzt, welche die Frage entscheiden sollte: Übernahme oder Bruch mit dem alten Beamtenapparat. Die Kommission entschied sich für die harte Haltung Šlichters, den Lenin am 18. Dezember zur Nachfolge von Teodorovic ernannte. [57] Mit Gewalt aber konnte der Rat der Volkskommissare die Affäre nicht beilegen und mußte am 28. Dezember das Zusammentreten des Allrussischen Versorgungsrates gestatten. Dieser verlangte nichts Geringeres als die Auflösung des Volkskommissariats für Versorgung (Ernährung). Die Verhandlungen zogen sich bis Mitte Januar hin, so daß Lenin einen Kompromißvorschlag erarbeitete. Schließlich mußte Šlichter, dem es nicht gelang die alten Kader in seinem Ministerium zu ersetzen, gehen. Dies kam einer Kapitulation vor dem alten Staatsapparat gleich, weil die revolutionäre Führung glaubte, ohne dessen Hilfe nicht die Versorgung der Stadt gewährleisten zu können. Die Spitzenposten des Versorgungsapparates waren zwar von Bolschewiki besetzt, in den niederen Rängen und in den örtlichen Behörden blieb jedoch die alte Beamtenschaft bestimmend und konnte durch ihre Opposition sogar die Entlassung eines Volkskommissars erzwingen. [58]

An diesem Beispiel wird deutlich, daß es dem übernommenen Behördenapparat bereits in der Anfangsphase möglich war, seine Personalvorstellungen durchzusetzen und den neuen Machthabern seinen Stempel aufzudrücken. Und dies gelang dem Behördenapparat in einem Konflikt zwischen dem Rat der Volkskommissare und einer Räteorganisation, worin sich die Regierung auf den Behördenapparat stützte, weil ihr die Gefolgschaft der Räteorganisation aufgrund des Parteienkonflikts unsicher erschien.

Das ehemalige Kriegsministerium konnte nur mit militärischer Gewalt besetzt werden; die neuen Kommissare für Kriegswesen und Marine fühlten sich genötigt, den zaristischen General Manikovskij unter jeder Bedingung um Unterstützung anzugehen, da sie mit der Versorgung der Armee nicht zurecht kamen.

IV.

Es war eine Reihe von Hürden zu überwinden bis es der bolschewistischen Führung gelang, den bürokratischen Widerstand zu brechen. „Der Streik der Regierungsbeamten war glänzend organisiert und von den Banken und Handelshäusern finanziert. Jede Handlung der Bolschewiki zur Übernahme des Regierungsapparates stieß auf Widerstand“, berichtet John Reed. Sein Buch wurde bereits 1919 veröffentlicht und in alle wichtigen Sprachen der Welt übersetzt. Er schreibt völlig unbekümmert von der „Übernahme des Regierungsapparates“.

Trotzki ging ins Außenministerium; die Beamten weigerten sich, ihn anzuerkennen. Sie schlossen sich ein, und als die Türen gewaltsam geöffnet wurden, legten sie ihre Posten nieder. Trotzki verlangte die Schlüssel zu den Archiven, und erst als Arbeiter herbeigeholt wurden, um die Schlösser mit Gewalt zu öffnen, wurden sie ihm ausgehändigt. Dann stellte man fest, daß Neratow, der ehemalige stellvertretende Außenminister, mit den Geheimabkommen verschwunden war. [59]

Von einem Willen, den „Staatsapparat zu zerschlagen“ kann hier nicht die Rede sein, selbst dann nicht, wenn unter „Zerschlagung“ nur der Austausch von Personen verstanden wird. [60]

Nichts lag näher, als daß der Kampf zuerst um die Kontrolle der Regierungsgelder entbrannte. Anfänglich fehlte dem Rat der Volkskommissare sogar das nötige Geld, um die täglichen Staatsausgaben zu begleichen. Mitte November ließen sie leitende Angestellte der Banken verhaften, bzw. zwangen sie mit Gewalt, Tresore und Safes zu öffnen. Dadurch trennten sie die leitenden Angestellten von ihren Untergebenen. Weder Streik, passiver Widerstand, noch der Personalbestand konnte die leitenden Angestellten vor der neuen Gewalt schützen. Dies verfehlte nicht die Wirkung auf die niederen Angestellten für die sich unter den neuen Machthabern auch neue Aufstiegschancen abzeichneten.

Schließlich wird die Petrograder Duma aufgelöst, womit ein organisches Zentrum des Widerstands beseitigt war. In der ersten Januarwoche startete die organisierte Opposition ihren letzten Versuch mittels eines nationalen Streiks der Staatsangestellten. Ende Januar setzte eine große Verhaftungswelle ein, die in Verbindung mit der Auslösung der verfassungsgebenden Versammlung stand, was letzten Hoffnungen ein Ende setzte, die Herrschaft der bolschewistischen Regierung würde in sich zusammenfallen. Die bolschewistische Führung hatte sich auf ganzer Linie als Sieger behauptet. [61]

Der Umzug der Regierung (Sovnarkom) nach Moskau

Um der Gefahr einer deutschen Einnahme Petersburgs zuvorzukommen, welche die Revolution im Verständnis von Lenin und der Bolschewiki gefährdet hätte, verlegte die Regierung im März 1918 ihren Sitz nach Moskau. Sovnarkom hatte sich bereits als Zentrale der Entscheidungen behauptet. Die neue Regierung etablierte sich in den Verwaltungszimmern des 18. Jahrhunderts innerhalb der Kremlmauern. Mit dem Umzug nach Moskau verband Sovnarkom auch die Ausdehnung seiner Macht über die exekutiven Organe der lokalen Sowjets und damit die Konsolidierung des Staatsapparates. [62]

Es erforderte einige Zeit, bis die Regierungsmaschine halbwegs ins Laufen kam. Zusätzliches Personal war zu beschaffen. Nun, getrennt von Familie und Freundeskreis, kamen sich Personal von alter Verwaltung und Anhänger der neuen Regierung näher. In dieser Moskauer Zeit liegt vermutlich ein wesentliches Element für die Bewahrung der Kontinuität des russischen Regierungsapparates. Alte und neue Ideen verschmolzen im Getriebe der politischen Alltagsgeschäfte. Dabei sollte nicht der Fehler begangen werden, Kontinuität mit Gleichförmigkeit zu verwechseln. Wie Marx die Kontinuität des russischen Herrschaftssystems seit Ivan Kalita in den geradezu revolutionär anmutenden Perfektionierungen der einmal entwickelten Herrschaftsmethode fand, so bewahrte sich die traditionelle Regierungsstruktur in einem Staatsapparat, der sich über ein bis dahin unbekanntes Maß ausdehnte. [63]

In vielen Teilen Rußlands hatten sich in den Wochen, welche dem Oktober folgten, unabhängige Sovnarkoms nach dem Petrograder Vorbild etabliert. Sie in ein gesamtnationales Gebilde einzugliedern und der Regierung unterzuordnen, erwies sich als nicht ganz einfach. „Autarke Bestrebungen und ein bestimmter lokalpatriotischer Geist blieben mächtig, besonders im regionalen Sovnarkom Moskaus“ [64] Der Moskauer Sovnarkom lieferte sich über mehrere Wochen heftige Auseinandersetzungen mit Lenins Zentralregierung. [65]

Dzerzhinsky etablierte die Tscheka in Moskau. Im März verbreitete er eine Proklamation, in welcher er die Übergabe aller unlegitimierten Waffen verlangte und bei Zuwiderhandlung mit sofortiger Erschießung drohte. Dies bedeutete das Ende des Milizsystems, eines der Grundelemente des Kommuneprinzips. Die leidenschaftlichen Proteste der lokalen Sowjetautoritäten über diese willkürlichen Akte von Außenstehenden blieben folgenlos. Eine neue Herrschaftsordnung etablierte sich.

Im Zuge der Nationalisierung im Frühjahr und Sommer 1918 entwickelte sich der Bedarf nach Tausenden neuer Angestellter. Lenin und Trotzki verteidigten vehement die Inkorporierung von „Spezialisten“ gegen die Opposition innerhalb der Partei. In diesen Monaten wurde über ein Drittel der alten Staatsangestellten wieder in Dienst genommen. [66]

Nun mag diese Moskauer Zeit unter vielen Gesichtspunkten diskutiert werden, nie und nimmer aber unter dem Gesichtspunkt der Etablierung eines Sowjetsystems, das sich dem Kommuneprinzip, wie es sich bei Marx findet, verpflichtet fühlt. [67]

Exkurs: Karl Marx und die „Zerschlagung des Staatsapparates“

Der kurze Überblick veranschaulichte die institutionelle, personelle und strukturelle Kontinuität des vorrevolutionären zentralen Regierungs- und Verwaltungsapparates mit dem Staatsapparat Rußlands nach der Oktoberrevolution. Das Ziel Lenins, einen zentralistischen Regierungsapparat für ganz Rußland zu etablieren, wurde offenbar. Dabei waren sich die Bolschewiki nicht bewußt, daß sie sich hierin im Gegensatz zu den Imperativen einer proletarischen Politik befanden, wie sie Marx insbesondere im Anschluß an seine Auseinandersetzungen mit der Erhebung in Paris 1870/71 formuliert hat.

Die Übernahme der Staatsmaschinerie durch das siegreiche Proletariat sei im Anschluß an Marx, dies hatte Lenin in Staat und Revolution mehrmals betont, für eine proletarische Revolution unmöglich. [68] Allein die Praxis der Russischen Revolution nach dem Oktober scheint dies widerlegen zu wollen. Zwei Überlegungen sind hier zu verfolgen: Entweder ist der Marxsche Imperativ, wonach der Staatsapparat zu zerschlagen sei, falsch, oder es ist Sowjetrußland bzw. der 1922 gegründeten Sowjetunion jeglicher sozialistischer Charakter abzusprechen.

Auf zwei begriffliche Unklarheiten in Lenins Ausführungen muß trotzdem hingewiesen werden. So reduziert Lenin den Begriff „Staat“ auf „Staatsapparat“, entsprechend dem Verständnis seiner Zeit und erkennt nicht ihren unterschiedlichen Gehalt in Marxens Kommuneschrift. Außerdem unterlegt er dem Begriff der „Diktatur des Proletariats“ einen der Marxschen Konzeption geradezu gegenteiligen Inhalt. Während Marx von einer Klassendiktatur spricht, worin sich die „Diktatur“ auf dem Hintergrund, daß die „diktatorische“ Klasse die Mehrheit der Bevölkerung stellt, in ihr Gegenteil verwandle, versteht Lenin die „Diktatur des Proletariats“ gerade in jenem Sinn, gegen den Marx diesen Begriff erschaffen hat, nämlich als Diktatur einer revolutionären Elite. [69] Wir würden heute den Marxschen Begriff mehr als soziologischen, denn als politischen verstehen: Die Interessen der arbeitenden Klassen setzen sich in der sozialistischen Revolution als die herrschenden Interessen der Gesellschaft. Das Ende einer auf Profit und der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft basierenden Produktionsweise ist eingeläutet. Lenin hingegen versteht „Diktatur des Proletariats“ politisch, d.h. als eine wirkliche Diktatur, die ihm nur als eine Regierungsform erscheinen kann, allerdings mit dem Anspruch im Interesse der Mehrheit zu handeln. Aber welche Regierung heutzutage behauptet dies nicht von sich? Marx verlangte von der Arbeiterrevolution, daß sie jene politischen und sozialen Verhältnisse radikal beseitige, welche es wenigen erlauben, ihren Willen der Gesellschaft aufzuzwingen. Mit anderen Worten: er forderte die Beseitigung des staatlichen Zwangsapparates schlechthin und nicht seine Ersetzung durch einen anderen. Aber was versteht Marx unter diesem Zwangsapparat? Hören wir ihn selbst aus seiner vielzitierten und auch von Lenin herangezogenen Kommuneschrift:

Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung; sie sollte eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab [das ist die Regierung!], aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war. [70]

Die „state power“ des Marxschen Entwurfs hat Engels mit ‚Staatsmacht’ wiedergegeben. In der von Marx selbst durchgesehenen französischen Ausgabe ist diese Stelle mit „destruction du pouvoir central“, der Zerstörung der Zentralmacht, [71] übersetzt. In seinem ersten Entwurf, der Lenin allerdings nicht vorgelegen hatte, drückt Marx seinen Gedanken noch deutlicher aus und faßt in einer Klammer die Konsequenzen zusammen. Zustimmend zitiert er aus einer Proklamation des Zentralkomitees der Nationalgarde:

„Zum erstenmal seit dem 4. September [1870] ist die Republik von der Regierung ihrer Feinde befreit … in der Stadt eine Nationalmiliz, die die Bürger gegen die Macht (die Regierung) verteidigt, anstatt eines stehenden Heeres, das die Regierung gegen die Bürger verteidigt.“

(Das Volk brauchte nur diese Miliz im nationalen Maßstab zu organisieren, um mit dem stehenden Heere Schluß zu machen; das ist die erste ökonomische sine qua non für alle sozialen Verbesserungen, um diese Quelle von Steuern und Staatsschulden und diese ständige Gefahr der Regierungsusurpation [H.v.m. S.J.] durch die Klassenherrschaft – der regulären Klassenherrschaft oder der eines Abenteurers, der vorgibt, alle Klassen zu retten – sofort zu beseitigen.) [72]

Es ist darum zu tun, jegliche Möglichkeit zu beseitigen, daß eine Regierung mittels eines Herrschaftsapparates der Gesellschaft ihren Willen aufzwingen kann. [73]

Aber auch in der Endfassung verdeutlicht Marx mit seiner Wortwahl, daß er an die Regierungsmacht dachte, als er davon sprach, die „bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht abzuschneiden“. [74] Und, als wolle er kein Mißverständnis aufkommen lassen, hatte er zuvor angemahnt: „Andrerseits aber konnte nichts dem Geist der Kommune fremder sein, als das allgemeine Stimmrecht durch hierarchische Investitur zu ersetzen.“ [75] Die kommunalen Selbstregierungen waren für Marx keine Ergänzung zur Zentralmacht wie sie es im Verständnis der heutigen sich föderalistisch nennenden Staatsgebilde sind, sondern jene hatten ihre Stelle zu besetzen. „Das bloße Bestehen der Kommune führte, als etwas Selbstverständliches, die lokale Selbstregierung mit sich, aber nun nicht mehr als Gegengewicht gegen die, jetzt überflüssig gemachte Staatsmacht.“ [76] Die „Diktatur des Proletariats“ ist für Marx nicht die Ersetzung eines staatlichen Zwangsapparates durch einen anderen Zwangsapparat, sondern die unmittelbare Selbstherrschaft der arbeitenden Gesellschaft. [77]

Lenin konfundiert „proletarischen Staat“ mit „Absterben des Staates“: „Wenn aber die Mehrheit des Volkes selbst ihre Bedrücker unterdrückt, so ist eine „besondere Repressionsgewalt“ schon nicht mehr nötig! In diesem Sinne beginnt der Staat abzusterben.“ [78] Falsch: von einem Absterben des Staates, weil seine Repressionsaufgaben überflüssig werden, ist bei Marx keine Rede. Im Gegenteil: Marx unterscheidet zwischen der Staatsmacht einerseits und berechtigten allgemeinen Interessen der Gesellschaft andererseits. Der Staatsapparat der bürgerlichen Gesellschaft hat diese allgemeinen gesellschaftlichen Interessen usurpiert und ihren Herrschaftsinteressen unterworfen. Darum erscheint der Staatsapparat nicht als reines Unterdrückungsinstrument, sondern die Staatsmacht als Vertretung der Gesellschaft. Aber im Verständnis von allgemeinen Interessen der Gesellschaft gibt es einen „Staat“ bei Marx auch und gerade nach der politischen Revolution.

Während es galt, die bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht abzuschneiden, sollten ihre berechtigten Funktionen einer Gewalt, die über der Gesellschaft zu stehn beanspruchte, entrissen und den verantwortlichen Dienern der Gesellschaft zurückgegeben werden. [79]

In seiner Kritik des Gothaer Programms macht Marx diesen Gegenstand ähnlich deutlich:

Es ist keineswegs Zweck der Arbeiter, die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden, den Staat „frei“ zu machen. Im Deutschen Reich ist der „Staat“ fast so „frei“ wie in Rußland. Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln, und auch heutig sind Staatsformen freier und unfreier im Maß, worin sie die „Freiheit des Staats“ beschränken. [80]

Es versteht sich von selbst, daß die Existenz eines Regierungsapparates, der es einer Regierung, d.h. der Minderheit der Gesellschaft gestattet, ihren Willen der Gesamtheit aufzuzwingen, diesem Staatsverständnis entgegengesetzt ist. Die Sozialdemokratie, führt Marx weiter aus, verstehe in ihrem Programmentwurf unter Staat gerade die „Regierungsmaschine“ oder „den Staat, soweit er einen durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eigenen Organismus bildet“.

Was in dieser Vorstellung abstirbt, um mit der Formel von Friedrich Engels zu sprechen, ist die besondere politische Form, worin die proletarische Revolution ihren Willen organisiert. Der bürgerliche Staat ist nach Marx eine Reaktion auf die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, geht aus ihnen hervor. Dieser Staat ist nicht identisch mit dem Repressionsapparat, den jener sich geschaffen hat – wie es in der französischen Fassung der Kommuneschrift zu lesen ist – sondern er verkörpert das Allgemeininteresse, wie es die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse produzieren und der Gesellschaft diktieren. So können sich beispielsweise die arbeitenden Menschen nicht dem Zwang entziehen, mittels ihrer Lohnarbeit ihr Leben zu fristen. Diese Macht des Kapitals ist aber nicht mit der Regierungsmacht zu konfundieren, wiewohl beide Machtverhältnisse miteinander verwoben sind. Für Lenin aber sind Staat und Regierungsapparat das Gleiche. Er bezeugt damit ein modernes, weil bürgerliches Verständnis von Staat, welches Staat gerne auf Regierung und ihre unmittelbare Verwaltung reduziert. Anders bei Marx: Um die Voraussetzungen für das ‚Absterben des Staates’ zu schaffen, muß der zentralistische Apparat der Regierung beseitigt sein. [81] Daraus ist nicht der falsche Schluß zu ziehen, daß nach der „Zerschlagung“ eines bürgerlichen zentralistischen Staatsapparates ein zentralistischer proletarischer Staatsapparat zu errichten sei. Es handelt sich um die „Zerschlagung“ des Herrschaftsapparates schlechthin, was Lenin nicht verstanden hat, u.a. weil er „Diktatur des Proletariats“ politisch faßt und Diktatur nur in Gestalt von Regierungsgewalt begriff. Allerdings erstreckte sich diese falsche Vorstellung von „Diktatur des Proletariats“ auf nahezu alle sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien, wie Hal Draper ausgeführt hat. [82]

Zusammenfassung

In diesem Aufsatz wollte ich vor allem eine Frage freilegen: Warum konnte sich das Sowjetsystem nicht gegenüber dem bolschewistisch geführten Staatsapparat durchsetzen? Dazu mußte ich die Kontinuität des russischen Staatsapparates und seiner Herrschaftstradition zeigen. Dies akzeptiert, folgt, daß der nachrevolutionären Gesellschaft Rußlands jeglicher sozialistischer oder kommunistischer Charakter abgesprochen werden muß. Auch dieser Mythos Rußlands, der weit mächtiger war als der Staatsapparat selbst und dem 20. Jahrhundert seinen Stempel aufgedrückt hat, harrt einer Erklärung. Dabei trägt die „Ideologie“ des Bolschewismus weit weniger Schuld am Scheitern des russischen Experiments, als viele Kritiker oder Gegner der Sowjetunion glauben machten. Aber sie war ein bestimmender Teil der verheerenden Selbsttäuschung der Bolschewiki, vor allem das falsche Verständnis von „Staat“, weshalb die revolutionären Führer nicht bemerkten, daß sie in dieser Revolution weniger die Treibenden als vielmehr die Getriebenen waren. [83] Diese Täuschung übernahm schließlich der große Teil der sozialistischen Strömungen der Welt, und an ihr leidet noch heute jede sozialistische oder kommunistische Theorie einer revolutionären Veränderung der Welt. Daran ist zu arbeiten.

[1Tocqueville, Alexis de: Der alte Staat und die Revolution. München, dtv 1978, 11.

[2Tocqueville, 36.

[3Tocqueville, Alexis de: Der alte Staat und die Revolution. München, dtv 1978, 11.

[4Tocqueville, 36.

[5Für die sozialistische Seite siehe beispielsweise Mandel, Ernst: Oktober 1917. Staatsstreich oder soziale Revolution. Köln, Neuer ISP Verlag, 1992.

[6Ritter, Gerhard: Das Kommunemodell und die Begründung der Roten Armee im Jahre 1918. Berlin 1965, S. 112.

[7Pipes, Richard: Rußland vor der Revolution. München, dtv 1984, Bracher, K.D. Die Krise Europas. FFM, Propyläen 1976. Propyläen Geschichte Europas Band 6, S. 42b.

[8Silnitzki, Michael: Die gegenwärtige Entwicklung des Sowjetsystems vor dem Hintergrund der russischen Herrschaft- und Verwaltungstradition. Zeitschrift für Politik (ZfP) Jg. 37, Nr. 1/ 1990 S. 20-36, 20.

[9Zaitseff, C.: Die Rechtsideologie des russischen Agrarwesens und die russische Agrarrevolution. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Nr. 19, 1925-1926, 44-84. S. 46.

[10Marx, Karl: Enthüllung zur Geschichte der Geheimdiplomatie. [Hg. von G.L. Dülmen]. Frankfurt a.M., surkamp 1981. Gegen Ende des Kapitels IV, S. 124. Aufgrund einer anderen Vorlage weicht die Übersetzung in der Ausgabe bei Olle & Wolter leicht ab. Marx, Karl. Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhundert. Berlin, Olle & Wolter 1977, am Ende des V. Kapitels S. 90.

[11Lewin, Moshe : Continuité russe. Le Monde Diplomatique, Novembre 2007, 22.

[12Pietsch, Walter: Revolution und Staat. Köln, Verlag Wissenschaft und Politik 1969. Rigby, Thomas Henry: Lenin’s Government: Sovnarkom. Cambridge, University Press 1979. Altrichter, Helmut: Staat und Revolution in Sowjetrußland 1917 – 1922/23. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981. Nienhaus, Ursula D. Revolution und Bürokratie. Frankfurt a.Main, Rita G. Fischer 1980. Rabinowitsch, Alexander: The Bolsheviks in Power. The First Year of Soviet Rule in Petrograd. Indiana University Press, Bloomington 2007.

[13Exemplarisch Behruzi, Daniel: Die Sowjetunion 1917-1924. ISP, Köln 2001. Mandel, Ernest: Oktober 1917. ISP, Köln 1992, 27. Instruktiv auch hierzu: Linden, Marcel van der [Hg.]: Was war die Sowjetunion? Wien, Promedia 2007. Eine rühmliche Ausnahme macht Rudi Dutschke in „Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen“. Berlin, Wagenbach 1974, S. 42, Siehe S. 154, wo er die Sowjetunion als halb-asiatischen Staatskapitalismus des Zarismus bezeichnet.

[14IV. Kongreß der Kommunistischen Internationale. LW 33, S. 414

[15IV. Kongreß der Kommunistischen Internationale. LW 33, S. 415.

[16Lenin am 24. 12. 1922. LW 36, 579.

[17Lenin, W.I.: Staat und Revolution. LW 25, S. 427.

[18Lenin, W.I.: LW 25, S. 428.

[19Lenin, W.I.: LW 25, S. 432.

[20Lenin, W.I: LW 25, S. 501.

[21Siehe beispielsweise Barion, Jakob: Hegel und marxistische Staatslehre. Bonn, H. Bouvier u. Co. 1963.

[22Brief an den Parteitag III. Niederschrift vom 26.12.1922. LW 36,581.

[23Tatsächlich ergibt sich eine solche indirekte Revision in Lenins nachrevolutionären Schriften. Man sollte diese Revision der Leninschen Staatstheorie nicht verwechseln mit der falschen Auslegung, wie sie nach 1945 im stalingeprägten Osteuropa Usus wurde, nämlich unter „Zerschlagung“ die Beseitigung bürgerlicher und sozialdemokratischer Angestellter zu verstehen und unter Sowjetsystem, die Übernahme dieser Strukturen und deren Anpassung und Modifizierung an die Erfordernisse einer diktatorischen Willkürherrschaft mittels willfähriger Staatsangestellter „kommunistischer“ Gesinnung. Siehe hierzu Fejtö, François. Die Geschichte der Volksdemokratien. Wien ; Köln, Styria 1972. Überdies sollte diese Leninsche Revision seiner 1916-17 entwickelten Staatstheorie nicht konfundiert werden mit der Frage, inwieweit seine Anschauungsweise in dieser Staatstheorie mit den Darlegungen bei Marx konform gehen.

[24LW 33,414-415. In Lieber weniger, aber besser spricht Lenin mehrmals von ’unserem Staatsapparat’ (LW 33, 474; 477). Er spricht vom Staatsapparat wie vom Eigentum der Partei. Vergleiche auch Lenins Formulierung in seinem Brief an die Partei vom Dezember 1912, Anm. 16. Stalin verlangte bereits im Juli 1917 die Macht im Staate, solle in Hände einer revolutionären Elite gelangen. Stalin Werke 3,114-115

[25Exemplarisch hierzu Rother, Karl-Heinz: Parteiverfahren für Marx. Hier irrten Kurt Hager und andere. Berlin, Dietz 1990. Voslensky, Michael S.: Nomenklatura. Die herrschende Klasse in der Sowjetunion. München, Nymphenburger Verlagshandlung GmbH 1987.

[26Diese Kritik müßte auch erklären, weshalb dieser Widerspruch in der revolutionären Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts nicht zu Buche geschlagen ist. Anders formuliert: Wie erklärt sich die ’Gläubigkeit’ von Arbeitermassen und Arbeiterparteien gegenüber dem vermeintlichen Sozialismus der Sowjetunion? Diese Frage bezieht sich nicht nur auf die Anhänger des sowjetischen Systems, sondern ebenso auf deren Kritiker, wie etwa aus der Sozialdemokratie, die aus der Realität des realen Sozialismus den Schluß ziehen, sich aus dem Sozialismus zurückzuziehen. Kritikern wie Anhängern der Sowjetunion ist hier eine falsche Anschauung gemein.

[27Altrichter, 8.

[28Rigby, T.H.: Lenin’s Government: Sovnarkom, 10.

[29Pipes, Richard: Die Russische Revolution. 3 Bde. Berlin, Rowolt 1992-93, Bd. 2, 291

[30Sitzung des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten 25. Oktober (7. November) 1917. In LW 26, 228.

[31Siehe u.a. Rosa Luxemburg: Die sozialistische Krise in Frankreich. Gesammelte Werke 1,2. Berlin, Dietz 1979, 5-73.

[32LW 26, S. 228 und Suchanow, N.N.:1917. Tagebuch der Russischen Revolution. München, R. Piper & Co 1967, 657.

[33Glebov- Awilow am zweiten Sitzungstag. Zit. aus Pietsch, 49-50.

[34Zu Petersburg Anweiler, Oskar: Die Rätebewegung in Russland 1905-1921. Leiden, E.J. Brill 1958 u.a. das Kapitel III 3 e, 151-154. Zum 1. Rätekongreß und der Bildung des 1. ZEK Andreyev, A.M.: The Soviets of Workers and Soldiers Deputies on the Eve of the October Revolution. Moskau, History Institute USSR. Academy of Sciences 1971. Kapitel III 5.

[35Wikschel, das ist das Exekutivkomitee des Verbandes der Allrussischen Gewerkschaften der Eisenbahner.

[36Resolution des ZK der SDAPR(B) zur Frage der Opposition innerhalb des ZK. LW 26, 272. Dies ist ein grandioser Bruch mit dem Räteprinzip. Selbstverständlich hatte das vom Rätekongreß eingesetzte Zentrale Exekutivkomitee jederzeit das Recht, die Zusammensetzung dieser Regierung zu ändern. Selbst der Rätekongreß hatte bestimmt, daß Sovnarkom dem Exekutivkomitee (VCIK) verantwortlich ist und dieses die Regierung absetzen kann. Und gerade das VCIK führte die Verhandlungen mit den anderen sozialistischen Parteien. Lenin und Trotzki stellen sich hier explizit gegen das Räteprinzip. Siehe die Resolution in LW 26, 254.

[37Ultimaturm der Mehrheit des ZK der SDAPR(B) an die Minderheit. LW 26, 274.

[38In der Entschließung über die Bildung des Rates der Volkskommissare heißt es: „Die Kontrolle über die Tätigkeit der Volkskommissare und das Recht der Einmischung in diese verbleibt dem Allrussischen Kongreß der Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten und seinem Zentralvollzugskomitee.“ Hellmann, Manfred [Hg.]: Die Russische Revolution 1917. München, dtv 1964, 312.

[39Nienhaus, 20. Bunyan, James; Fisher, H.H.: The Bolshevik Revolution 1917 - 1918. Documents and Materials. Stanford, California, Standford University Press 1934, 185.

[40Pietsch, 50.

[41LW 26, 254.

[42Siehe hierzu die Äußerungen von Engels in „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“. MEW 8, 5-6.

[43Siehe hierzu die Tabellen bei Hedeler, Wladislaw : Schützler, Horst ; Striegnitz, Sonja: Die Russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse? Berlin, Dietz 1997, S. 426 und 427.

[44Altrichter, Staat, 17-18.

[45Pipes, Russische Revolution. Band 2, S. 277.

[46Altrichter, Staat, 18.

[47Rigby, 23-24.

[48Dekrety Sovetskoi vlasti. Bd. 1, 62. Nach Rigby, 43.

[49Indem Kommissare in die Ministerien entsandt werden, oder wenn revolutionäre Arbeiter die behördliche Arbeit kontrollieren, so heißt dies noch lange nicht, daß die Behördenapparate in ihren Dienst gestellt werden. Davon kann erst gesprochen werden, wenn über diese Behördenapparate die Entscheidungsstränge laufen

[50Rigby, 37.

[51Rigby, 50.

[52Pipes 2, 291.

[53Altrichter, Staat, 17. Im übrigen gebührt Stalin der zweifelhafte Verdienst zuerst die bürokratische Kontinuität bemerkt zu haben. Stalin Werke 4, 321.

[54Ritter, Gerhard: Das Kommunemodell … ,136ff. Bereits am 22. 4. 1918 hatte Trotzki die Abschaffung der Wählbarkeit der Offiziere gefordert. Ebd., 139.

[55Remington, Thomas. Institution Building in Bolshevik Russia: The Case of „State Kontrol“. Slavic Review, Volume 41, Issue 1 (1982) 91-103, 96ff.

[56Remington, S. 97 Anm. 30.

[57Pietsch, 59.

[58Pietsch, 60, Nienhaus, 25.

[59Reed, John: 10 Tage, die die Welt veränderten. Berlin, Dietz 1982, 330. Nienhaus, S. 25, 28, Reed, 330ff. Philips- Price, Morgan: Die russische Revolution. Berlin, Oberbaumverlag 1977. Kap. 11, 205.

[60Wie bei Ursula Nienhaus. 28.

[61Es stellt sich überhaupt die Frage, ob die Auflösung der Konstituante nicht mit der Brechung des Widerstands der Staatsangestellten in Verbindung zu setzen ist.

[62Ich stütze mich hier auf die Beschreibungen bei Rigby Kapitel 5 The move to Moscow.

[63Daß sich manche Marxschen Beschreibungen in seiner Artikelreihe über „die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts“ auch auf die Stalinsche Zeit anwenden lassen, kann keinem aufmerksamen Beobachter entgehen.

[64Rigby, 58.

[65Rigby, 58.

[66Darauf hat Lenin vermutlich gegenüber den Delegierten der III. Internationale angespielt. LW 33, 415.

[67Hieran änderte auch nichts die Proklamation einer Räteverfassung im Frühjahr 1918. Obwohl sie kaum ihr Papier wert war, trägt sie wesentlichen Prinzipien eines Rätewesens nur ungenügend Rechnung.

[68Lenin, Staat und Revolution. LW 25, 427 ff. Schließlich widmet Lenin diesem Gegenstand ein ganzes Unterkapitel des III. Abschnittes: „2. Wodurch ist die zerschlagene Staatsmaschinerie zu ersetzen?“ LW 25, 430ff.

[69Siehe hierzu Draper, Hal: The Dictatorship of the Proletariat.

[70Marx, Karl: Der Bürgerkrieg in Frankreich. MEW 17, 340.

[71Marx, Karl: La guerre civil en France. MEGA I/22, 500.

[72Marx, Karl: Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, MEW,17,543.

[73Auch dies wird im „Ersten Entwurf“ besonders deutlich. „Beseitigung der Staatshierarchie überhaupt und Ersetzung der hochfahrenden Beherrscher des Volkes durch seine jederzeit absetzbaren Diener, der Scheinverantwortlichkeit durch wirkliche Verantwortlichkeit, da sie dauernd unter öffentlicher Kontrolle arbeiten.“ MEW 17, 544.

[74MEW 17, 340.

[75MEW 17,339.

[76MEW,341.

[77Stalin hat das bereits 1918 auf den Kopf gestellt. Siehe: Reden auf der Beratung vom 10.–16. Mai 1918. In Stalin Werke 4, 78.

[78LW 25, 432.

[79MEW 17, 340.

[80Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programms. MEW 19, 27.

[81Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, 339.

[82Draper, Hal: The Dictatorship of the Proletariat from Marx to Lenin, New York, Monthly Review Press 1987, 45-46.

[83Dies gilt auch für bestimmte Kritiker: Wenn der alte Staatsapparat übernommen und wie Lenin sagte, nur mit etwas Sowjetöl gesalbt wurde, dann ist das Problem der Bürokratie nicht ein sozialistisches, denn es wurde mit dem Staatsapparat geerbt. Die sogenannte Degeneration des Arbeiterstaates, wie es Trotzki und viele nach ihm formuliert haben, ist dann keine Degeneration eines Arbeiterstaates mehr, der, mangels der Möglichkeit in die Welt zu treten, nicht in die Verlegenheit kommen konnte, zu degenerieren.

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