Radiosendungen 2001
Januar
2001

Die Gesellschaft des Spektakels

Guy Debord als radikaler Gesellschaftskritiker

Der nachstehende Text ist ein nur leicht geglättetes Transkript der Radiosendung. Der Vortrag von Stephan Grigat findet sich zum Artikel ausgearbeitet in Context XXI 6/2000. Mittlerweile hat Stephan Grigat auch ein Buch zu Guy Debord mitherausgegeben: Stephan Grigat/ Johannes Grenzfurthner/ Günther Friesinger (Hg.): Spektakel — Kunst — Gesellschaft. Guy Debord und die Situationistische Internationale.

Gerade scharfe, knappe, dicht formulierte, von gehörigem Furor getragene und unversöhnliche Gesellschaftskritik läuft mitunter Gefahr, einer gewissen modischen Popularität anheimzufallen, auf isolierte und damit harmlos gemachte Aspekte reduziert zu werden, als bloß ästhetische Attraktion von der Gesellschaft absorbiert zu werden, gegen die sie angeht. Die Texte und Aktivitäten der Situationistischen Internationale und ihres zentralen Theoretikers Guy Debord sind von solcherart Rezeption nicht verschont geblieben. In den letzten Jahren werden im deutschsprachigen Raum — und in jüngster Zeit auch in Österreich — die Texte dieser Gruppe, insbesondere Guy Debords Hauptwerk Die Gesellschaft des Spektakels wiederentdeckt. Wie Stefan Neuwirth in der Nummer 5/2000 von Context XXI formulierte:
Debord hat in dem Begriff des Spektakels den Punkt gefunden, an dem er die gegenwärtige Gesellschaft aushebeln kann.

Stephan Grigat referierte im Kritischen Kreis zum Thema „Der Fetisch im Spektakel“. Er stellte damit einiges über die Grundlagen der Gesellschaftskritik Debords klar und wies auch auf problematisch Gebliebenes hin. Guy Debord ist wiederzuentdecken — man sollte es sich aber nicht zu einfach machen:

Stephan Grigat: Der Debord und mit ihm die ganze Situationistische Internationale, die haben in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum ja durchaus eine etwas vermehrte Aufmerksamkeit erfahren — vor allem dadurch, daß das Hauptwerk Debords, also die „Gesellschaft des Spektakels“ nochmals aufgelegt wurde. Zum anderen aber ist durchaus auch das Augenmerk einer breiteren Öffentlichkeit auf die Situationisten gelenkt worden, zum Beispiel durch Ausstellungen — unter anderem auch die, die 1998 hier in Wien stattgefunden hat. In der Regel, denke ich aber, ist diese verstärkte Rezeption mit einer ziemlichen Reduzierung einhergegangen — nämlich einer Reduzierung der Anliegen von Debord und der anderen Situationisten in erster Linie auf kunst-, kultur- oder auch medientheoretische Fragestellungen. Je größer offensichtlich die Begeisterung und das Interesse für die kunst- und kulturkritischen Schriften von Debord wird, desto weniger Beachtung findet offensichtlich die radikale Gesellschaftskritik, die Debords Kunst- und Kulturkritik allerdings zugrunde liegt. Debord selber hat schon ziemlich früh darauf hingewiesen, daß man, wenn man seinen Begriff des Spektakels durch weitläufige Betrachtungen zum Beispiel zum Mediensektor ersetzt, seinen Intentionen durchaus nicht mehr entspricht, weil dadurch ja die eigentliche Grundlage dieses Spektakels — nämlich die kapitalistische Warenproduktion — immer schon affirmiert wird. Mit wenigen Ausnahmen wird heute also versucht, diesen Kritiker des modernen Warenspektakels sozusagen selber zum kritischen Bestandteil dieses Spektakels zu machen. Exemplarisch für so eine Art der Beschäftigung mit Debord könnte man zum Beispiel Sebastian Reinfeldt erwähnen, der durch die Lektüre von Althusser und Poulantzas ziemlich zielsicher bei den Grünen gelandet ist — ich glaub’ der hat das letzte Grundlagenpapier von denen mitgeschrieben — und sich heute im planet über die „wunderschönen Texte“ der Situationisten ausläßt, ohne natürlich den in ihnen propagierten, radikalen Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft irgendwie noch ernst zu nehmen.

Die Kritik von Debord sträubt sich meiner Meinung nach weitgehend gegen solche Vereinnahmungen. In der Linken hat er sich schon ziemlich früh unbeliebt gemacht — vor allem dadurch, daß er sich entgegen allen Moden weigerte, positiv auf irgendein existierendes, staatssozialistisches Modell Bezug zu nehmen, gleichzeitig aber auch sämtliche Kritiker und Kritikerinnen des Staatssozialismus aufs Korn nahm, sobald diese diesem „realen“ Sozialismus so etwas wie einen „idealen“ als Identifikationsersatz entgegensetzen wollten. Debord hat also schon ziemlich früh zu den Wenigen gehört, die es geschafft haben, sich sowohl gegen Stalin und den Stalinismus als auch gegen Trotzki und Lenin (und den Leninismus) zu wenden. Er hat auch ziemlich früh schon das maoistische China kritisiert, genauso natürlich wie die europäischen Maoisten und Maoistinnen, die es ja auch in Frankreich nicht zu knapp gab. Aber auch am Anarchismus oder am Strukturalismus hat er genügend auszusetzen gehabt und selbst jene Theoretiker, auf die er sich durchaus positiv bezieht, wie zum Beispiel Lukács sind bei ihm natürlich Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen. Er hat also so ziemlich an allem was rumzumeckern gehabt und so hat sich dann auch die deutschsprachige Linke weitgehend desinteressiert — zumindest lange Zeit — an der Kritik und den praktischen Experimenten dieser Gruppe von situationistischen Theoretikern und Antipolitikern gezeigt, die — wie Andreas Benl mal ganz richtig geschrieben hat — „keine der zahlreichen linken Ikonen anerkannte, die Revolution neu erfinden wollte und jede populistische Verwässerung ihrer Kritik zurückwies“. Bei den akademischen und universitären Theorieverwaltern hat er sich schon dadurch ziemlich unbeliebt gemacht, daß er konsequent die akademische Wissensproduktion kritisiert hat. So, wie Marx seine Kritik schon ziemlich früh von der „interesselosen Wissenschaft“ ziemlich klar abgegrenzt hat, indem er nämlich postuliert hat, daß die Kritik in ihrem Gegenstand ihren Feind erblickt, den sie nicht widerlegen will sondern vernichten, so war sich Debord über die zwangsläufige Unwissenschaftlichkeit seines beabsichtigten praktischen Unterfangens durchaus im Klaren. Er schreibt dazu:

Das Projekt, die Wirtschaft zu überwinden, von der Geschichte Besitz zu ergreifen, kann nicht selbst wissenschaftlich sein, auch wenn es die Wissenschaft der Gesellschaft kennen und zu sich zurückführen muß.

Die modernen Sozialwissenschaften, die betreiben — nach Debord zumindest — nur mehr eine spektakuläre Kritik des Spektakels. Das akademische Denken des Spektakels hat sich dadurch — wie er schreibt — zu einer „allgemeinen Wissenschaft des falschen Bewußtseins“ herausgebildet.

Vor dem Hintergrund dieser Wissenschafts- und Akademismuskritik gelangt er dann auch zu einem Wahrheitsbegriff, der in eklatantem Widerspruch zu jedem übergesellschaftlichen und überhistorischen Wahrheits- und Erkenntnisbegriff steht. Er schreibt:

Die Wahrheit dieser Gesellschaft ist nichts anderes als die Negation dieser Gesellschaft.

Diese Kritik am bürgerlichen Wahrheits- und Rationalitätsbegriff findet sich natürlich nicht nur bei Debord, sondern durchaus auch bei anderen Situationisten. Emile Marenssin beispielsweise wendet sich in seiner Schrift aus dem Jahr 1972 nachdrücklich gegen einen Vernunftbegriff, der losgelöst von der eigenen kritisch-praktischen Intention existiert. Er führt da aus:

Vom Standpunkt des Kapitals aus betrachtet wird der Kommunismus die Gesellschaft des Irrationalen sein, die Gesellschaft der Verrückten. Die Rationalität des Kommunismus wird die Irrationalität des Kapitalismus sein.

Wenn sich also heute nun das Feuilleton oder auch die Sozialwissenschaften — wobei Letzteres, so weit ich das sehe, eher kaum stattfindet — mit Debord auseinandersetzen, dann wird er also — wie ich bereits angedeutet habe — als ein „weitsichtiger Kritiker des Medienzeitalters“ rezipiert. Ich will dagegen hier versuchen, ihn als als so etwas wie einen frühen Fetischkritiker zu präsentieren, der sich ziemlich explizit auf die Kategorien der Marxschen Werttheorie bezogen hat.

Marx schreibt im Kapital über den „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“:
Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.

Die Vertracktheit der Warenform rührt daher, daß die Menschen im Kapitalverhältnis nicht Gegenstände des unmittelbaren Gebrauchs produzieren und tauschen sondern eben Waren, für den universellen Austausch bestimmte Wertgegenstände, deren Gebrauchsgegenständlichkeit nur insofern von Belang ist als sie an irgend einer Stelle der Gesellschaft den Tausch der Ware gegen Geld und damit die Realisierung des produzierten Werts ermöglicht. In dem Maß, in dem Güter solcherart als Waren produziert und gehandelt werden, treten die Beziehungen der produzierenden und konsumierenden Menschen zueinander und zu ihren Produkten als Gebrauchsgegenständen in den Hintergrund und die Form der gesellschaftlichen Produktion, die Warenform, das Kapitalverhältnis als solches erscheint hypostasiert als Sachzwang, als eigenwillige, den Willen und die Beziehungen derer, die sich in dieser Form zueinander in Beziehung setzen, bestimmende Realität. Dazu Marx:

Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregionen der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende, selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist. Dieser Fetischcharakter der Warenwelt entspringt aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert. Gebrauchsgegenstände werden überhaupt nur Waren, weil sie Produkte unabhängig betriebener Privatarbeiten sind. Der Komplex dieser Privatarbeiten bildet die gesellschaftliche Gesamtarbeit. Da die Produzenten erst in gesellschaftlichen Kontakt treten durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb dieses Austausches. Oder die Privatarbeiten betätigen sich in der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen, worin der Austausch die Arbeitsprodukte und vermittels derselben die Produzenten versetzt. Den Letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das was sie sind, das heißt nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und als gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.

Die Thesen von Debord sind natürlich nicht im luftleeren Raum entstanden — 1967 hat er dieses Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“ zum ersten Mal veröffentlicht. Die sind vor allem zum einen vor dem Hintergrund der sich bereits ankündigenden Ereignisse in Paris 1968 zu verstehen, an denen und an deren Zustandekommen die Situationisten ja nicht ganz unbeteiligt waren. Und zum anderen stehen sie natürlich in einer ganz bestimmten Theorietradition, die von Debord selbst ziemlich deutlich dokumentiert wurde. Besonders stark geprägt wurde er offensichtlich durch die Lektüre von Georg Lukács und auch durch die Schriften von Henri Lefebvre. Mit Henri Lefebvre standen die Situationisten am Anfang in ziemlich engem Kontakt, haben sich auch eher positiv mit ihm auseinandergesetzt. Der wurde später dann — wie eigentlich fast alle Leute, die irgendwann mal mit Debord zu tun hatten — das Ziel von wüsten Polemiken von Debord und auch von anderen Situationisten, also die haben sich dann ziemlich zerkracht. Lefebvre hat sich nun ziemlich stark an den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von Marx orientiert und dementsprechend hat er in seinen eigenen Schriften — vor allem in der Kritik des Alltagslebens — den Entfremdungsbegriff ziemlich in das Zentrum seiner Überlegungen gestellt. Man muß allerdings dazu sagen, daß Lefebvre schon immer versucht hat, diesen Entfremdungsbegriff rückzubeziehen auf das, was bei Marx Fetischismus genannt wird. Bei Lefebvre finden sich durchaus auch — zumindest implizit — Ansätze, die Kritik des Fetischismus über die Analayse des Waren-, Geld- und Kapitalfetischs auszudehnen: Er spricht beispielsweise ganz explizit vom „Fetischismus des Staates“. Nicht nur die Ware, das Geld und das Kapital, sondern eben auch, wie er schreibt,

der Staat, die Rechtsinstitutionen, die ökonomischen und politischen Apparate, die Ideologien funktionieren als Wirklichkeiten, die außerhalb des Menschen sind.

Durch die zentrale Stellung, die die Begriffe „Entfremdung“ und „Fetischismus“ in Lefebvres „Kritik des Alltagslebens“ einnehmen, kann Lefebvre — der übrigens nach dem Zweiten Weltkrieg auch aus der französischen KP ausgeschlossen wurde — als einer der wichtigsten Stichwortgeber von Debord gelten. Seine Orientierung am jungen Marx, seine teilweise widersprüchliche Begriffsverwendung (also: Begriffe wie Fetischismus, Verdinglichung, Entfremdung oder auch Vergegenständlichung gehen bei Lefebvre zum Teil ziemlich durcheinander — innerhalb ein- und derselben Schrift) wie auch seine Betonung der Unerläßlichkeit der Kategorie der Totalität dürften Debord ziemlich nachhalting beeinflußt haben. Auch das Hauptanliegen von Lefebvre, nämlich die Orientierung auf den Alltag, wie sie vor allem in diesem Buch „Kritik des Alltagslebens“ zum Ausdruck kommt, wird von Debord fortgesetzt. Beide betrachten den konkreten Alltag als jene Sphäre, in der die Veränderung ansetzen muß. In der Alltäglichkeit des Lebens der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft materialisiert sich der Fetischismus der objektiven Gedankenformen aus der Ökonomie und daher soll er auch dort, in diesem Alltagsleben der bürgerlichen Subjekte, nach Lefebvre und Debord durchbrochen werden.

Im Hauptwerk Debords, also der „Gesellschaft des Spektakels“, beginnt er nun die Beschreibung der Totalität des Fetischismus und der Ware in unmittelbarer Anlehnung an das Marxsche „Kapital“, dessen ersten Satz er auch gleich paraphrasiert — er schreibt da:

Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln.

Eine wirklich feststehende Definition des Begriffs des Spektakels gibt Debord in dieser Schrift von 1967 eigentlich nicht. Er umkreist ihn eher und beschreibt ihn in seinen realen Erscheinungen oder zum Teil auch ex negativo. Er beschreibt aber ganz klar das Spektakel als eine gesteigerte Form des Fetischismus. Er schreibt da:

Das Prinzip des Warenfetischismus ist es, das sich absolut im Spektakel vollendet, wo die sinnliche Welt durch eine über ihr schwebende Auswahl von Bildern ersetzt wird, welche sich zugleich als das Sinnliche schlechthin hat anerkennen lassen.

Marx hat also in seiner Kritik des Fetischismus die Verwandlung menschlicher Beziehungen in die Beziehungen von Dingen beschrieben. Debord greift jetzt genau das auf und beschreibt die Verwandlung der menschlichen Beziehungen in die Beziehungen zwischen Bildern, die den Menschen noch äußerlicher erscheinen als die Dinge. Anders allerdings als zum Beispiel in einigen postmodernen Diskursen, die ja doch eher dazu tendieren, alles in Bilder aufgelöst zu sehen, und daher dann auch keine Realität mehr kennen, die in ihrer Gesamtheit kritisiert werden könnte, bleiben bei Debord diese Bilder doch immer rückbezogen auf die gesellschaftliche fetischistische Totalität, also auf die materielle Realität.

Eine Formulierung, die man eher schon als eine zusammenfassende Definition des modernen Spektakels verstehen könnte, die findet sich dann erst in einem sehr viel späteren Text von Debord, nämlich in den „Kommentaren zur Gesellschaft des Spektakels“, der von 1988 ist, also 21 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Hauptwerks entstanden ist, wo er versucht, das sozusagen nochmals aufzugreifen und nach 21 Jahren zu reflektieren. Da faßt Debord durchaus zusammen, was er unter dem Begriff des Spektakels versteht, nämlich

[...] die Selbstherrschaft der zu einem Status unverantwortlicher Souveränität gelangten Warenwirtschaft und die Gesamtheit der neuen Regierungstechniken, die mit dieser Herrschaft einhergehen.

Ein Grundmoment des Marxschen Warenfetischs, nämlich die Substitutierung menschlicher Beziehungen durch die reale wie aber auch scheinhafte Beziehung von Dingen, ist bei Debord auch — und das muß man immer dazusagen, wenn er die diffizile Marxsche Analyse dieser Substituierung weder referiert noch explizit reflektiert, also die Marxsche Wertformanalyse — konstitutiver Bestandteil des Spektakels. Er führt dazu aus:

Der fetischistische Schein reiner Objektivität in den spektakulären Beziehungen verbirgt deren Charakter als Beziehungen zwischen Menschen und zwischen Klassen. Eine zweite Natur scheint unsere Umwelt mit ihren unvermeidlichen Gesetzen zu beherrschen.

So, wie also zum Beispiel Georg Lukács die rein kontemplative, also die nur betrachtende und anschauende Sichtweise des bürgerlichen Denkens beschrieben und kritisiert hat, sieht Debord die Menschen im Spektakel auf die Rolle von Zuschauern reduziert, die also sozusagen nur noch relativ bewußtlos auf dieses Spektakel starren, auf das sie auch kaum noch Einfluß haben. Das Kapital ist bei Debord auch nicht primär als so etwas wie eine selbstbewußte Macht, sondern tatsächlich im Marxschen Sinne als „automatisches Subjekt“ gegenwärtig, als — wie Debord das nennt

sich selbst bewegende Wirtschaft

Im Spektakel ist die selbe, irre machende Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit und verkehrtem Schein gegenwärtig, wie sie Marx bereits an der einfachen Warenform aufgezeigt hat. Debord schreibt:

Das Spektakel, das das Wirkliche verkehrt, wird wirklich erzeugt.

Die Parallele zu dem, was man Realabstraktion des Werts nennt, ist hier offensichtlich. Anselm Jappe, aus dem Umfeld der Krisis, hat zurecht mal darauf hingewiesen, daß bei Debord das Spektakel nicht nur eine Folge der Denkabstraktion, sondern vor allem der Realabstraktion ist, auch wenn Debord diesen Unterschied selber nicht ausdrücklich macht. Während im Wert von jeder Gesellschaftlichkeit abstrahiert wird, obwohl er nichts anderes als Audruck bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse ist, abstrahieren die Bilder des Spektakels von allem Lebendigen, das Debord — und da wird’s natürlich nicht unproblematisch — als positiven Gegenpol zur spektakulären Herrschaft betrachtet. Also dieses Lebendige, das ist bei den meisten Situationisten irgendwie etwas relativ Positives ... Dadurch, daß sie dieses Lebendige, das dann auch nicht näher benannt wird, als positiven Gegenpol zur toten und unmenschlichen Abstraktion ansehen, drohen Debord und andere Situationisten (zum Beispiel Leute wie Raoul Vaneigem noch viel stärker) in sowas wie Vitalismus oder Anthropologie oder auch Lebensphilosophie abzugleiten. Raoul Vaneigem schreibt dann ein Buch wie An die Lebenden! Streitschrift gegen die Ökonomie — da ist das noch viel stärker ausgeprägt als bei Debord, aber das eher nur nebenbei.

Debord betont jetzt, daß, wie er schreibt, „in der wirklich verkehrten Welt das Wahre ein Moment des Falschen ist“. Das heißt also: Basiert die Gesellschaft auf einem falschen, weil verkehrenden, Prinzip und ist dieses Prinzip in dem Sinne total, daß es alle Bereiche der Gesellschaft zumindest tendenziell durchdringt, so ist jede positiv gefaßte Aussage über diese Gesellschaft insofern immer falsch, als ihr die Affirmation des falschen, nämlich verkehrenden, Grundprinzips der Wertform immer zugrunde liegt. Das heißt: Selbst der emanzipative Grundimpuls verkehrt sich dadurch, ist er sich der gesellschaftlichen Struktur, von der es sich gilt zu emanzipieren, nicht bewußt, in Affirmation. Greil Marcus hat einmal ein Buch geschrieben, das heißt Lipstick Traces, über die „geheime Popgeschichte“ oder so, da schreibt er auch recht viel über Debord — er hat das da einmal ganz passend auf den Punkt gebracht, wenn er sagt:

Als Revolutionär war Debord Mathematiker. Er bestand darauf, daß sich im Spektakel alle Dinge in ihr Gegenteil verkehren.

Das Spektakel ist auch, bei Debord, die materielle Wiederkehr des Vorgängers des Warenfetischs, der „materielle Wiederaufbau der religiösen Illusionen“, wie er schreibt. Mit seinen selbstgeschaffenen Verfahrensformen ist es ein „Pseudoheiliges“. Debord konstatiert da jetzt Gemeinsamkeiten von Religion und Warenfetischismus, tendiert dabei dann aber dazu, den Warenfetischismus nicht mehr im streng Marxschen Sinne zu verstehen, sondern zu einem Begriff zu machen, in dem sich vor allem die fast libidinösen Beziehungen der Menschen zu den in Warenform existierenden Dingen zeigen. Er schreibt da:

Wie bei dem krampfhaften Taumeln oder den Wunderheilungen der Schwärmer des alten, religiösen Fetischismus gelangt auch der Warenfetischismus zu Momenten schwärmerischer Erregung.

Das Keyenesianische Akkumulationsmodell mit seiner Bindung an den Massenkonsum fungiert bei Debord als Grundlage für die Ausdehnung der fetischistischen Warenherrschaft von der Produktion in die Sphäre der Konsumtion. Also ganz anders als Teile der kommunistischen oder auch sozialistischen Linken in Frankreich — oder auch in anderen Ländern — sah Debord in diesem Keynesianischen Wohlfahrtsstaat durchaus nichts zu Verteidigendes. In der sozialstaatlichen Alimentierung des Proletariats sah er vielmehr einen integralen Bestandteil des modernen Spektakels: Neben die Entfremdung, wie er das nennt, in der Produktion trete dann der entfremdete Konsum als eine zusätzliche Pflicht für die Massen. Der produzierte Überschuß an Waren erfordert dann von den Produzierenden einen Überschuß an Kollaboration.

Bei Debord lassen sich durchaus auch Hinweise finden, wie eine Forschung oder eine Kritik, welche die Fetischisierung einzelner Waren untersucht, in Verbindung gebracht werden kann mit einer ganz allgemeinen Kritik des Fetischismus. In der Regel ist es ja so, daß so eine Kritik an der „Überbewertung“ einer bestimmten Ware eher dazu führt, daß das Warendasein der Dinge überhaupt affirmiert wird. Man kennt das so: Wenn jemand zum Beispiel vom „Fetisch Auto“ redet, dann rührt das ja in keiner Weise an den Produktionsbedingungen, unter denen Autos nun als Waren hergestellt werden und damit mit allen möglichen anderen Dingen vergleichbar werden. Wenn Debord hingegen zum Beispiel vom „Spektakel der Automobile“ spricht versucht er, anhand einer bestimmten, in der kapitalistischen Gesellschaft zumindest in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr wichtigen Ware die zerstörerische Wirkung von Warenherrschaft im Allgemeinen aufzuzeigen — also sozusagen sich nicht darauf zu beschränken, den Menschen vorzuwerfen, daß sie ein besonders fetischistisches Verhältnis zu einer bestimmten Ware hätten. Trotzdem ist ihm das durchaus bekannt, er versucht das aber eben durchaus immer in Zusammenhang mit dieser allgemeinen Kritik zu setzen.

Aber auch wenn Debord die Kritik an einzelnen Waren und dem jeweiligen Verlangen nach ihnen immer in diese allgemeine Kritik der Warenförmigkeit der Dinge bettet glaube ich, daß diese Sebstverständlichkeit, mit der er oft von der „Künstlichkeit“ bestimmter Bedürfnisse spricht, schon problematisch ist. Mit seiner Abqualifizierung von so etwas wie „Pseudobedürfnissen“ suggeriert er natürlich, die eigentliche Bedürfnisstruktur menschlicher Individuen in irgend einer Form zu kennen. Auch in dem Punkt befindet sich Debord natürlich in einer gewissen Nähe zur Kritischen Theorie, insbesondere zu Marcuse. Mit dieser Kritik angeblich „falscher Bedürfnisse“ geht natürlich — fast zwangsläufig, könnte man sagen — eine unkritische Bezugnahme auf den Gebrauchswert einher. So, wie teilweise auch Adorno, sieht auch Debord den Gebrauchswert mit der fortschreitenden Entwicklung der Warengesellschaft zusehends verkümmern. Dem „tendenziellen Fall des Gebrauchswerts“ auf der einen Seite, von dem auch Marenssin und andere Situationisten immer wieder mal gesprochen haben, stehen bei Debord die bereits vorhanden Bedingungen für die autonome Herrschaft des Tauschwerts gegenüber, der nur zu seiner Durchsetzung des Gebrauchswerts bedurft habe. Dabei ist natürlich der Gebrauchswert als immer schon und immer noch konstituierender Bestandteil der Ware nicht mehr im Blick.

Es handelt sich hierbei um die auch für Debord zentrale Frage der „Realabstraktion des Werts“, also darum, daß der Motor der Güterproduktion im Kapitalismus nicht vornehmlich die Befriedigung irgendwelcher bestimmter Bedürfnisse ist, sondern die abstrakte Wertschöpfung. Die Kategorie des Werts, den es in der Zirkulation als Tauschwert zu realisieren gilt, konstituiert die Kategorie des Gebrauchswerts als ihren Rest, als den Aspekt der Ware, auf den es für die Produktion nicht ankommt, jedenfalls gemäß der Logik der Wertproduktion nicht ankommen soll, für die von ihr verlangte, zügellose Ausdehnung nicht ankommen darf. Durch diese, für die kapitalistische Warenproduktion spezifische Abstraktion, durch diese negative Konstituierung des Gebrauchswerts durch den Tauschwert sind die beiden Aspekte der Ware auf eine vertrackte Weise miteinander verbunden. Wolfgang Pohrt hält dazu in seiner Theorie des Gebrauchswerts fest:
So unsinnig es ist, die ökonomischen Formbestimmungen separat immer weiter auszufeilen, so sinnlos ist es auch, im Geiste ‚neuer Sensibilität‘ nach Gebrauchswerten dergestalt zu forschen, daß man die eigene, verkorkste Bedürfnisstruktur als Wünschelrute nimmt.

Bestimmtheit gewinnt der Gebrauchswert nicht als einfacher Gebrauchswert, also als Gegenstand, dem zwangsläufig irgendwelche Eigenschaften eignen und der daher auch irgendwie zu gebrauchen ist. Bestimmtheit gewinnt der Gebrauchswert nur als historisch vom Kapital gesetzter und doch vom Kapital verschiedener — nach Pohrt emphatischer — Gebrauchswert. Er schreibt dazu:

Es darf nicht vergessen werden, daß der durchs Kapital gesetzte Gebrauchswert nur dann keine überflüssige, tautologische, mit dem Kapital einfach identische Bestimmung ist, wenn er sich in seiner Setzung durchs Kapitalverhältnis nicht erschöpft. Als Gebrauchswert für das Kapital muß er zugleich etwas von dessen Formbestimmungen qualitativ Verschiedenes sein. Nur wenn in diesem Begriff die Beziehung zum freilich immer schon historischen, natürlichen Leben lebendiger Menschen, an dem er gebildet wurde, noch nicht zerbrochen ist, ist er auch als durchs Kapitalverhältnis gesetzter unterscheidende und damit überhaupt noch sinnvolle Bestimmung. Nur dann taugt er dazu, die zur ‚zweiten Natur‘ verfestigten, gesellschaftlichen Formbestimmungen von den lebendigen Menschen und deren Bedürfnissen zu unterscheiden.

Und nur in dieser Unterscheidung, in der Nicht-Identität der Welt mit dem Kapitalverhältnis, in der Nicht-Totalität des Kapitals stiftet es noch Gebrauchswert im emphatischen Sinn und damit Sinn überhaupt. Sowohl für Wolfgang Pohrt als auch für Guy Debord ist der entwickelte Kapitalismus respektive das entwickelte Spektakel gerade dabei, zu diesem „rein mit sich identischen“ Prozeß zu werden, die relative Autonomie der verschiedenen Gestaltungen des Kapitals zu eliminieren, an deren Widersprüchen menschliche Bestimmungen noch auftreten konnten, an denen die Frage nach Vernunft und Gebrauchswerten noch gestellt werden konnte. Das Spektakel ist die Art und Weise, in der die Menschen als Arbeitende und Konsumierende dazu erpreßt und daran gewöhnt werden, den Konsum ihrer eigenen Produkte zu erdulden, sie unterschiedslos und ohne Frage nach ihrem Sinn und Zweck wollen zu müssen, sie aus der immer schon vorhandenen Auswahl wahllos auszuwählen. Debord spricht in diesem Zusammenhang von einer „neuen Form der Entbehrung innerhalb des vermehrten Überlebens“:

Dieses ist ebensowenig von der alten Knappheit befreit, da es die Mitwirkung der großen Mehrheit der Menschen als Lohnarbeiter zur Fortsetzung seines Strebens fordert und da jeder weiß, daß er sich entweder unterwerfen oder sterben muß. Die Wirklichkeit dieser Erpressung, das heißt die Tatsache, daß der Gebrauch in seiner ärmsten Form — Essen, Wohnen — nur noch besteht soweit er im Scheinreichtum des vermehrten Überlebens eingeschlossen bleibt, ist die wirkliche Grundlage dafür, daß die Täuschung überhaupt beim Konsum der modernen Waren hingenommen wird. Der wirkliche Konsument wird zu einem Konsumenten von Illusionen. Die Ware ist diese wirkliche Illusion und das Spektakel ihre allgemeine Äußerung.

Die Situationisten — und vor allem Debord — haben natürlich so einen emphatischen Gebrauchswertbegriff, der mehr ist als einfach nur dieser simple: daß das irgendein Ding ist, das irgendwie gebraucht werden können soll. Das Schwierige ist halt, daß dieser offensichtlich emphatische Begriff des Gebrauchswerts nie eigens thematisiert wird, sondern eher unterschwellig einfach vorhanden ist und die andere Bedeutung des Gebrauchswerts damit natürlich völlig unter den Tisch fällt.

In einem merkwürdigen Widerspruch zu Debords Ausführungen zum Spektakel als nochmals gesteigerter Form der Mystifikation, als potenzierten oder vollendeten Fetischismus, der die Menschen zu Zuschauern degradiert, steht seine Bezugnahme auf die Marxschen Ausführungen aus dem Manifest der Kommunistischen Partei. Debord schreibt da, immerhin eine Formulierung aus dem „Manifest“ relativ direkt übernehmend:

Indem sie in die Geschichte geworfen sind, indem sie an der Arbeit und den Kämpfen, aus denen diese Geschichte besteht, teilnehmen müssen, sind die Menschen gezwungen, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.

Jetzt beschreibt er ja aber gleichzeitig ausführlich und ziemlich eindrucksvoll, wie die Augen der Menschen nur mehr auf das sich scheinbar völlig unabhängig von ihnen abspielende Spektakel gerichtet sind — also daß das keineswegs nüchterne Augen sind, sondern Augen, die zumindest vom Waren-, Geld- und Kapitalfetisch geblendet sind und tatsächlich ja nur noch auf dieses Spektakel starren, bei Debord. Während bei Marx diese Formulierung im „Manifest“ bezüglich der angeblichen Klarsichtigkeit des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft sich natürlich daraus erklärt, daß er zu der Zeit seine Werttheorie und die darin enthaltene Fetischkritik noch nicht formuliert hatte, ist das bei Debord natürlich umso merkwürdiger, weil er natürlich die Fetischkritik von Marx gekannt hat. Debord bedient sich also relativ willkürlich, je nach Erfordernissen beim frühen oder beim späten Marx — wobei ich allerdings denke, daß das alleine wahrlich niemandem vorzuwerfen ist, aber es wird natürlich problematisch, wenn diese Stellen sich inhaltlich ziemlich widersprechen, auf die er sich da bezieht.

Jetzt habe ich vorhin zitiert, daß für Debord vor allem auch die Regierungstechniken zum Spektakel gehören, vom Staat war aber bis jetzt noch nicht viel die Rede. Bei Debord ist das aber durchaus der Fall, also der Staat verschwindet bei dem nicht — anders als bei vielen anderen gesellschaftskritischen Theorien. Auch bei jenen, die sich auf Marx beziehen, ist das ja doch schon oft der Fall, daß der Staat dann irgendwie verschwindet — bei Debord überhaupt nicht. Debord denkt die Darstellung der Totalität der fetischistischen Warenwelt im Spektakel immer im Zusammenhang mit der politischen Gewalt, also mit dem staatlichen Souverän. „Die verallgemeinerte Entzweiung“, schreibt er, „ist untrennbar vom modernen Staat“. Debord konstatiert zwar eine Verselbständigung der Ökonomie vom bewußten Handeln der Menschen, aber eben keine Verselbständigung der Wirtschaft vom Staat in dem Sinne, daß der Staat jetzt wieder als positiv eingreifender Regulator angerufen werden könnte. Also so wie man das normalerweise in vielen linken und auch linksradikalen Theorien, gerade auch in letzter Zeit in diesen Globalisierungsdebatten immer wieder kennt: wo sich dann Leute unglaublich über die Ökonomie aufregen aber trotzdem dann immer wieder versuchen, den Staat als positiven Garanten von allen möglichen Dingen anzurufen.

Spektakuläre Gesellschaft, die basiert zwar auf Verselbständigungen, aber gerade über diese Verselbständigungen konstituiert sie nach Debord ihre Einheit. Er reflektiert die notwendige Trennung der politischen Gewalt von der Ökonomie, die sie zu sichern hat, zu garantieren hat, ohne diese Gewalt allerdings positiv aufzuladen oder für völlig autonom zu erklären. Er schreibt:

Wie die moderne Gesellschaft ist das Spektakel zugleich geeint und geteilt. Wie sie baut es seine Einheit auf der Zerrissenheit auf.

Gegen dieses im staatsfetischistischen Marxismus gängige Ausspielen von „Freiem Markt“ gegen den „Staat“ richtet sich Debord völlig zurecht mit dem Verweis auf die gegenseitige Abhängigkeit der beiden, die gesellschaftliche Totalität in der bürgerlichen Gesellschaft konstituierenden Instanzen. Er schreibt da ganz einfach:

Von jeder der beiden läßt sich sagen, daß sie die andere in der Gewalt hat. Sie einander gegenüberzustellen, zu unterscheiden, worin sie vernünftig und worin sie unvernünftig sind, ist absurd.

Diese Staatskritik von Debord, die geht bei ihm durchaus dann auch einher mit einer Kritk der Politik. Politik müßte sich ja auf Widersprüche in dieser spektakulären Gesellschaft beziehen und Debord leugnet natürlich auch nicht, daß diese Widersprüche existieren, aber er desavouiert nachhaltig den Glauben an die systemtransformierende Kraft dieser Widersprüche. Die Totalität ist bei Debord zwar widersprüchlich, aber diese Widersprüche sind eben dieser Totalität offensichtlich immanent — und daher ist dann auch die Politk, die der Widersprüche ja offensichtlich bedarf, selbst dem Spektakel immanent und weist eben nicht über dieses Spektakel hinaus. Das ist also eine ganz klar antipolitische Stoßrichtung, die Debord da versucht hat vorzugeben.

Jetzt habe ich gesagt, daß Politik und Ökonomie Debord offensichtlich als ausgesprochen kritikwürdig gelten — und zwar gleichermaßen kritikwürdig. Jetzt ist aber natürlich die Frage, wer denn das Ganze, das da so kritisiert wird, nun auch überwinden soll — soll heißen: Es stellt sich trotzdem immer noch die Frage nach dem revolutionären Subjekt. Was Lucács als „zugerechnetes Klassenbewußtsein“ konstruiert hat, welches dann angeblich neben dem tatsächlichen — oder, wie Lucács das genannt hat: psychologischen — Bewußtsein relativ unabhängig von der Empirie existiert, das tritt bei Debord als Forderung auf, als etwas noch nicht Existierendes, erst noch zu Erfüllendes. Die Praxis des Proletariats als revolutionäre Klasse, die kann für Debord durchaus nicht weniger sein als „das geschichtliche Bewußtsein, das auf die Totalität seiner Welt wirkt“. Damit ist aber natürlich noch nichts darüber ausgesagt, ob das Proletariat als real existierende und zunächst ja bekanntlich nicht besonders revolutionäre Klasse dieses geschichtliche Bewußtsein auch bereits hat. Dennoch bleibt für Debord, zumindest in den 60er und 70er Jahren, also vor allem in der „Gesellschaft des Spektakels“, das Proletariat durchaus jene Menschengruppe, die als Klasse die Emanzipation zu verwirklichen, den Fetischismus zu durchbrechen und aufzuheben hat. Debord ist also Ende der 60er Jahre kritisch gegenüber dem gegenwärtigen Proletariat, aber durchaus zuversichtlich für die Zukunft. Anders als eben zum Beispiel in der Kritischen Theorie wird bei ihm die Emanzipation sehr wohl noch mit dem Selbstbewußtsein des Proletariats zusammengedacht. Das Proletariat erschien Debord also kurz vor den Ereignissen des Pariser Mai von 1968 als, wie er schreibt, „einziger Bewerber um das geschichtliche Leben“. Erst später, vor allem in den 90er Jahren, hat er dann erkannt (oder zumindest: für sich erkannt), auch wenn er sich nicht ganz von dieser Vorstellung vom Proletariat als Vollender der Emanzipation lösen wollte, daß die Klassenherrschaft, wie er das formuliert, „mit einer Versöhnung geendet“ hat, daß also das Proletariat, anstatt die Feindschaft zu Staat und Kapital zu entwickeln auf die volle Integration in das fetischistische Warenspektakel gesetzt hat und die falsche Totalität der Gesellschaft nunmehr also ohne Negation, ohne Einspruch existiert. In den „Kommentaren“, also in dieser Schrift, die 21 Jahre nach der „Gesellschaft des Spektakels“ entstanden ist, ist jener kritische Pessimismus, der auch die Texte Adornos seit dem Nationalsozialismus prägt, in — man könnte fast sagen: potenzierter Form und mit den in solchen Zusammenhängen offensichtlich obligatorischen Übertreibungen anwesend. Er schreibt da:

Zum ersten Mal im modernen Europa versucht keine Partei oder Splittergruppe auch bloß vorzugeben, sie wolle es wagen, etwas von Belang zu ändern. Es ist ein- für allemal geschehen um jene beunruhigende Konzeption, die mehr als 200 Jahre vorgeherrscht hat und derzufolge man eine Gesellschaft kritisieren oder ändern, sie reformieren oder revolutionieren kann.

Die Vorstellung von Debord, wie jetzt das Proletariat zu so einem — oder überhaupt zu einem — systemtransformierenden Bewußtsein gelangen kann, war aber, denke ich, bereits in den 60er Jahren relativ beachtlich. So sehr Debord ein Freund der Spontaneität war, so sehr war ihm doch gleichzeitig bewußt, daß so ein unmittelbar und unreflektiert artikuliertes Unbehagen keineswegs von sich aus über das Spektakel hinausweist. Er war sich durchaus im Klaren daüber, wie er da schreibt, „daß die Unzufriedenheit selbst zu einer Ware geworden ist“. Man könnte also sagen, daß Debord einerseits seiner Zeit ziemlich verhaftet war, weil er sich sehr wohl die Emanzipation in den 60er Jahren nur als bewußten Akt des Proletariats als Klasse vorstellen konnte, andererseits aber seiner Zeit insofern voraus war, als er die einzige Möglichkeit, daß diese Revolution nun doch einmal Wirklichkeit werden könnte, in der massiven Aneignung kritischer Gesellschaftstheorie sah. Er schreibt da:

Die proletarische Revolution hängt gänzlich von der Notwendigkeit ab, daß die Massen zum ersten Mal die Theorie als Verständnis der menschlichen Praxis anerkennen und erleben müssen. Sie fordert, daß die Arbeiter zu Dialektikern werden und daß sie in die Praxis ihr Denken einschreiben.

Noch wenige Jahre zuvor war die Begeisterung für spontane Protest- und Widerstandsaktionen bei den Situationisten durchaus ausgeprägter. Nach der ordnungsapologetischen und staatsfetischistischen Kritik von fast allen Fraktionen der Linken damals nach den Krawallen in Watts 1965 (ein sogenannter „Ghettoaufstand“ in Los Angeles) schwang sich die S.I. in der 10. Nummer ihrer Zeitschrift zu einer vehementen Verteidigung dieser riots auf. Sie nahm die Aufständischen dabei aber nicht nur einfach gegen die Angriffe der reformistischen und mit der Herrschaft fraternalisierenden Linken in Schutz, sondern deklarierte die ganze Angelegenheit zu so etwas wie einer Revolte gegen die Ware und bescheinigte den Plünderern, daß sie — wie sie schreiben — „den Tauschwert und die Warenwirklichkeit ablehnen“. Den scheinbaren Subjektstatus der Ware sahen sie also im riot aufgehoben. Sie schreiben:

Der Mensch, der die Waren zerstört, zeigt dadurch seine Überlegenheit gegenüber den Waren.

Diebstahl erscheint also den Situationisten als antikapitalistischer, den Fetischismus der bürgerlichen Gesellschaft bereits aufhebender Akt. Sie schreiben:

Sobald die Warenproduktion nicht mehr gekauft wird, wird sie kritisierbar. Nur wenn sie mit Geld bezahlt wird, wird sie wie ein bewundernswerter Fetisch respektiert.

Das ist natürlich auch nicht völlig falsch, ich denke aber die Problematik und die Ambivalenzen, die in so einem spontanen Widerstand gegen die Warenherrschaft, der sich der Struktur und Funktionsweise von Ökonomie und Politik nicht bewußt ist, liegen — genau das wird da eben ncht mehr thematisiert. Diese, wie ich finde ja völlig richtige, Verteidigung der Respektlosigkeit gegenüber den Eigentumsverhältnissen wird hier dann zur falschen Annahme, diese Respektlosigkeit impliziere von sich aus eine Kritik am Eigentum überhaupt. Ein Dieb kritisiert aber ganz offensichtlich erstmal nicht die Ware, sondern eignet sie sich ganz einfach an. Das ist eine Erkenntnis, die nachher dann auch durchaus bei den Situationisten zu lesen war — Emile Marenssin hat einmal geschrieben:

Der Diebstahl, auch wenn ihm die Verteilung folgt, stellt den Kapitalismus überhaupt nicht in Frage, er ist im Gegenteil eine seiner Ausdrucksformen.

In den 90er Jahren hat Debord dann nochmal eine Steigerung der Mystifikation des Fetischismus gesehen, dargelegt in erster Linie in diesem Text „Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels“. Aber gerade in seinen späteren Texten bleibt es dann immer ein bißchen merkwürdig unklar, ob der Mystizismus und Fetischismus der Warengesellschaft, ob die spektakuläre Gewalt nun in erster Linie einer „subjektlosen Herrschaft“ geschuldet ist oder permanent durch bewußte Manipulation hergestellt wird. Das heißt: In diesen „Kommentaren“ wird’s eigentlich immer unklarer, was mit diesem „generalisierten Geheimnis“, das hinter dem Spektakel steht, genau gemeint ist und ich denke schon, daß es immer mehr so scheint, als wenn in diesen „Kommentaren“ mit diesem „Geheimnis des Spektakels“ immer mehr eben nicht ein Geheimnis im Sinne des Fetischcharakters der Ware gemeint ist, sondern vielmehr ein von Geheimdiensten gehütetes, spezielles Herrschaftswissen, sozusagen. Das heißt, Debord droht in seinen späteren Texten von seiner aktualisierten, die Transformation der Gesellschaft im 20. Jahrhundert möglichst reflektierenden Fetischkritik aus der „Gesellschaft des Spektakels“ zunehmend in so etwas wie eine Verschwörungstheorie abzugleiten. Andreas Benl hat das mal ganz treffend auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt:

Die Kritik der gesellschaftlichen Totalität des modernen Kapitalismus tritt zugunsten einer traditionellen Manipulationstheorie in den Hintergrund.

Diese Manipulations- und Verschwörungstheorie läßt sich natürlich auch nicht dadurch rechtfertigen, daß es völlig richtig ist darauf hinzuweisen, daß es ganz real Manipulationen und sehr wohl auch Verschwörungen gibt. Aber es käme dann natürlich genau darauf an, diese Manipulationen und auch diese Verschwörungen in Beziehung zu setzen zu der fetischistischen Vergesellschaftungsweise — und genau das, so weit ich das überblicken kann, findet eben bei Debord später dann kaum noch statt und er hat sich da teilweise in einige ziemlich wüste Vorstellungen verstiegen, wie die Welt denn heute so funktioniert.

Der größte Mangel von Debord, denke ich, also mal neben seiner relativ unkritischen Bezugnahme auf das Marxsche Frühwerk bei gleichzeitiger, weitgehender Ausblendung der Implikationen der Marxschen Wertformanalyse und den ganzen Implikationen, die das für den Kapitalbegriff und sowas hätte — also Sachen, die er vermutlich am ehesten von Lefebvre einfach übernommen hat ... Der größte Mangel von Debord, der besteht aber wahrscheinlich doch darin, daß er gegenüber dem Nationalsozialismus und seinem spezifischen Vernichtungsantisemitismus eigentlich weitgehend ignorant geblieben ist. Debord erörtert zwar in relativ knappen Worten den Beitrag der „faschistischen Epoche“ zur Herausbildung des modernen Spektakels, kann aber den Faschismus eben nur mit einem weitgehend totalitarismustheoretischen Vokabular beschreiben. Die gleichzeitige Kritik an faschisitischer und stalinistischer Herrschaft, die zeigt da natürlich wieder eine Parallele zu Leuten wie Adorno und Horkheimer auf, aber gerade diese Ausblendung des spezifisch nationalsozialistischen Antisemitismus, die markiert natürlich in diesem Zusammenhang eine der deutlichsten Differenzen der Situationisten zur Kritischen Theorie. In Debords Hauptwerk, das, wie Joachim Bruhn das mal geschrieben hat

immerhin das Wesen der Gegenwart auf den Begriff zu bringen verspricht, findet sich tatsächlich kein Wort über Antisemitismus, Nazismus oder Massenvernichtung.

Ich glaube aber dennoch, um zum Schluß zu kommen, daß Debord mit seinem Versuch, die Marxsche Kritik des Fetischismus und an ihr orientierte Theorien — wie zum Beispiel von Lucács, aber auch von Karl Korsch, den er auch mehrmals zustimmend zitiert — aufzugreifen und weiterzuentwickeln und zu so etwas wie einer zeitgemäßen Kritik fetischistischer und sich spektakulär darstellender Warenherrschaft zu verdichten, durchaus neben der Kritischen Theorie eine der wichtigsten Kritiken der bürgerlichen Gesellschaft im 20. Jahrhundert verfaßt hat. Und er hat gleichzeitig damit natürlich auch ziemlich früh in Frankreich so etwas wie eine fetischkritische Tradition begründet, die in gewisser Weise dann auch so etwas wie einen Gegenpol zu Althusser und dieser Althusser-Schule bilden konnte. Ich habe letzhin mal eine Französin getroffen, die in Paris bei Étienne Balibar studiert oder ihre Doktorarbeit oder irgend sowas schreibt, und hab’ die gefragt, wie denn heute Debord auch in linksradikalen Kreisen in Paris oder überhaupt in Frankreich gesehen wird. Und die hat irgendwie schon gemeint, daß der auch in den linksradikaleren, intelligenteren Kreisen in erster Linie so als „sympathischer Spinner“ durchgeht. Es gibt aber durchaus Gruppen wie die Encyclopédie des Nuisances, die sich ganz explizit auf Guy Debord berufen. Das ist eine Gruppe, die zum Beispiel 1995 bei der großen Studenten- und Studentinnen- und Schüler- und Schülerinnenbewegung ziemlich interveniert hat in diese Bewegung mit Pamphleten, die man wirklich nur situationistisch nennen kann — also die den Leuten ihre völlige Beschränktheit und ihren Reformismus ziemlich nachdrücklich mit Formulierungen, die weitgehend auch von Debord entlehnt waren, vorgehalten haben.

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