radiX, Nummer 3
Mai
2000

Die Nation — zur Entstehung eines folgenreichen Konstruktes

„Nation“ ist — entgegen dem Mythos der VertreterInnen dieses Konzeptes selbst — keine „natürliche“ oder „immer schon da gewesene“ Einheit, sondern ein relativ junges Konzept einer „vorgestellten Gemeinschaft“, das im Zusammenhang mit der Entwicklung kapitalistischer Binnenmärkte im 18. und 19. Jahrhundert seinen historischen Durchbruch erreichte.

Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, nicht umgekehrt.

Die „Erfindung der Nation“ ist relativ jungen Datums und zudem eine Europäische Erfindung, die zwar durch Kolonialismus, Imperialismus und den Widerstand dagegen in alle Welt exportiert wurde, deren Ursprung aber in der Europäischen Neuzeit, in der Entstehung des Kapitalismus, ... zu suchen ist.

Nationalismus ist für Ernest Gellner, der mit „Nationalismus und Moderne“ eine der wichtigsten Arbeiten zu diesem Thema geschrieben hat, „eine Theorie der politischen Legitimität, der zufolge sich die ethnischen Grenzen nicht mit den politischen überschneiden dürfen; insbesondere dürfen innerhalb eines Staates keine ethnischen Grenzen die Machthaber von den Beherrschten trennen — eine Möglichkeit, die bereits formal durch die allgemeine Fromulierung des Prinzips ausgeschlossen ist.“

M. Rainer Lepsius sieht in der Nation „zunächst eine gedachte Ordnung, eine kulturell definierte Vorstellung, die eine Kollektivität von Menschen als Einheit bestimmt.“

Die Erfindung der Nation

„Nation“ ist damit nichts existierenden, sondern etwas gemachtes, erfundenes. Die „Nation“ ist, wie jede Gemeinschaft die größer ist als eine Gemeinschaft unmittelbarer Kontakte in der quasi JedeR JedeN kennt, eine vorgestellte Gemeinschaft. Aufgrund bestimmter historischer Entwicklungen und bestimmter ökonomischer und politischer Interessen werden in Europa seit dem 17. Jahrhundert, in den meisten Staaten Asiens und Afrikas seit dem 20. Jahrundert „Nationen“ als solche „vorgestellte Gemeinschaften“ konstruiert und schrittweise in das Massenbewußtsein der Bevölkerung übertragen.

Welche historischen Bedingungen sind dies aber nun die in Europa erstmals das Konzept einer Nation entstehen ließen?

Der bereits erwähnte Sozialanthropologe Ernest Gellner bringt die Entstehung des Nationsgedankens primär mit der Ausbreitung der „Hochkultur“, der Fähigkeit des Lesens und Schreibens und des Buchdruckes in Verbindung. Während er die Mehrheitsbevölkerung des Mittelalters als in einer Agrargesellschaft lebend erkennt deren „kleine Bauerngemeinden [...] ein nach innen gerichtetes Leben, ortsgebunden durch wirtschaftliche Notwendigkeit, wenn nicht durch politischen Zwang“ führen, steht dieser Masse schriftunkundiger Bauern eine elitäre Minderheit gegenüber die in einer ganz anderen Sprache — nämlich Latein — ihre Schriften verfaßt und liest.

Diese Elite ist damit von der in eine Vielzahl von Dialekten und Lokalsprachen zerfallenden bäuerlichen Lokalgesellschaft verschiedener wie unter sich. Während eine Elite in Latein über alle späteren nationalen Grenzen hinweg kommuniziert, sprechen die BäuerInnen ihre unverschrifteten Dialekte in ihren Dörfern und Regionen. Die Kultur der Elite ist somit wesentlich großräumiger als die späteren Nationen, die Kultur der BäuerInnen un Bauern wesentlich lokaler als diese. Die Unterschiede zwischen Menschen beziehen sich primär auf unterschiedliche Standeszugehörigkeit, keinesfalls jedoch auf eine andere Landessprache oder gar einen Gedanken an Nation.

Mit der Ausbreitung des Buchdruckes und der Alphabetisierung immer neuer Gesellschaftsgruppen entsteht auch zunehmend das Bedürfnis neben lateinischen Druckwerken auch solche in den Landessprachen herauszugeben. Bis dahin nicht standardisierte Dialekte werden zu Litaratursprachen zusammengefaßt, einige davon zu Amtssprachen erhoben.

Diese Amtssprachen wiederum erlangten „größere Macht und höheren Status — ein Prozeß, der zumindest zu Anfang eher ungeplant vonstatten ging. So vertrieb Englisch das Gälische aus großen Teilen Irlands, Französisch drängte das Bretonische an die Wand, und Kastillanisch stieß Katalanisch in die Versenkung.“

Während kleinere Sprachgruppen so oft weitgehend protestlos und oft sogar ohne irgend einen eigenen Nationalismus zu entwickeln untergingen, waren die Folgen dieser Einführung von Landessprachen als Amtssprache in einer Reihe anderer alter, dynastischer Staaten politisch sehr folgenreich. Als Extrembeispiel führt Anderson dabei die Habsburgermonarchie an. „In diesem riesigen Herrschaftsgebiet, vom Alter geschwächt, vielsprachig doch zunehmend alphabetisiert, versprach die Ablösung des Lateinischen durch irgeneine Landessprache denjenigen Untertanen, die diese Schriftsprache bereits benutzen, enorme Vorteile und erschien den anderen dementsprechend als Bedrohung.“

Die Einführung des Deutschen als Nationalsprache verursachte damit auch die anderen Nationalismen der Habsburgermonarchie mit.

Nation und Kapitalismus

Gehen wir aber noch einmal zurück zu den Ursprüngen des Nationalismus am Beginn der Moderne. die Entstehung des Nationalismus kann nicht nur mit dem Buchdruck und der Alphabetisierung zusammenhängen. Dies als einzige Ursache für die Umwandlung feudaler und dynastischer Staaten in Nationalstaaten zu sehen wäre eine Ausblendung politischer und ökonomischer Aspekte.

Zuerst muß einmal gesagt werden, daß der Nationalstaat die politische Ausformung des Binnenmarktes darstellt. Während feudale Kleinstaaten und dynastische Gebilde mit unzähligen Zollbeschränkungen, Gebühren und anderen Handelshemmnissen arbeiten, bietet der Nationalstaat mit seinem Binnenmarkt jenen Markt den die Industrialisierung und der Kaptialismus benötigen. Die zeitliche Parallelität der Entstehung des Nationalismus und der Herausbildung der Industriegesellschaft und des Kapitalismus als Wirtschaftssystem ist damit kein Zufall. Beide Phänomene sind eng miteinander verknüpft.

Mit der Industriegesellschaft ist eine Gesellschaft entstanden, die sich auf eine hochentwickelte Technologie und die Erfahrung anhaltenden Wachstums gründet, die sowohl die mobile Arbeitsteilung als auch eine ständige, häufige und präzise Kommunikation zwischen Fremden erfordert; dazu gehört die allgemeine Vorherrschaft expliziter Begriffe, die einem Standardidiom und, wenn erforderlich, schriftlich übermittelt werden.

Die Weitergabe dieses Wissens um explizite Begriffe, Standardidiom und die weitverbretete Schriftkundigkeit kann nicht mehr wie im Mittelalter in der Familie erfolgen. Während in einer Nichtindustrialisierten Gesellschaft das Wissen das ein Bauer, Tischler, ... benötigt von einer Generation einfach auf die nächste weitergegeben werden kann und die soziale Mobilität so gering ist, daß für jedes Subjekt der Agrargesellschaft bereits bei Geburt sein zukünftiger Beruf feststeht, bedarf die höhere soziale Mobilität der Industriegesellschaft eine allgemeine Ausbildung die nicht mehr in der Familie erfolgen kann.

„Die Tatsache, daß Untereinheiten der Gesellschaft nicht länger zur Selbstreproduktion fähig sind, daß zentralisierte Exo-Ausbildung zur obligatorischen Norm geworden ist, daß solche Erziehung die lokalisierte Akkulturation ergänzt (wenn auch nicht völlig ersetzt), ist von höchster Bedeutung für die politische Soziologie der modernen Welt“ und führt so letztlich zur Erziehung von Staatsbürgern, von Nationsangehörigen durch jahrelange Erziehung in der Schule.

Ein militaristischer Männerbund

Eine ähnliche Funktion übt daneben die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht aus, die für alle männlichen Staatsbürger wiederum eine letzte prägende Schule der Nation darstellt die im Idealfall die Männer der Nation X im Kampfe gegen die Männer der Nation Y zusammenschweißt und so erst das Nationalgefühl vollenden kann.

Die Nation ist damit auch Männerbund. Obwohl die Idee der Nation von einer gewissen Gleichheit der Mitglieder der Nation ausgeht, verwirklicht sich die angestrebte Konformität der Nation erst zwischen Männern auf dem Schlachtfeld. Und dieses Schlachtfeld ist nicht mehr das Schlachtfeld der professionellen Söldnerheere oder der marodierenden Banden der Kreuzritter, sondern das Schlachtfeld durchorganisierter geschlossener Heere, die neben den konkreten Soldaten auch die ganze „Nation“ im Hinterland mobilisieren. Erst wenn auch ein deutscher Kaiser keine Parteien, sondern nur noch Deutsche kennt hat sich das Konzept der Nation voll verwirklicht. Und dazu bedarf es des Krieges.

Die Austauschbarkeit des Einzelnen

In Anlehnung an eine alte Parole der Linken könnten wir sagen, daß im Mittelalter für jeden klar war, daß die Grenzen zwischen oben und unten verliefen, während das Konzept des Nationalismus diese Grenzen zwischen „den Völkern“ verlaufen läßt.

Die Identifikation eines Zeitgenossen des Mittelalters war wesentlich mehr mit fest umrissenen und unentrinnbaren Ständen verbunden. Mit dem Aufkommen des Nationalismus wurde diese Identifikation auf „die Nation“ umgelegt, eine Nation die dem Individuum genauso anzuhaften scheint wie im Mittelalter der Stand. Die Zugehörigkeit zu einer Nation wird als Eigenschaft gedacht die jedeR haben muß und der er/sie nicht entrinnen kann.

Während im Mittelalter kleine und oft streng strukturierte Sektoren der Gesellschaft miteinander interagierten und Menschen kaum aus ihren vorgegebenen Ständen und Berufen ausbrechen konnten, wird die Gesellschaft im Zeitalter des Kapitalismus und der Industrialisierung dynamischer. Für ein rein wettbewerbsorientiertes System ist es effizienter anonyme, austauschbarere Individuen zu haben die zwar alles andere als gleich sind, aber deren Lebensweg nicht so strikt festgelegt ist wie in einem mittelalterlichen Feudalsystem. Eine größere Durchläßigkeit bringt eine grundsätzlich größere Gleichheit. Selbst wenn ProletarierInnen des 19.Jahrhunderts materiell schlechter gestellt gewesen sein mögen als BäuerInnen im Mittelalter, so sind sie doch von der Idee her nicht grundstätzlich anderer Art als ihre UnternehmerInnen

Diese größere Gleichheit nach Innen ist notwendig ein „Nationalbewußtsein“ überhaupt erst hervorzubringen. Das Bürgertum als neue Klasse wird zu dem Träger des Nationalgedankens. Größere Gleichheit nach Innen wird dabei direkt verbunden mit größerer Abgenzung nach Außen, denn für die Nation gilt wie für jede gedachte Gemeinschaft, daß die Abgenzung nach Außen, daß Feind- oder Gegenbild immer die Basis für die Konstitution der Wir-Gruppe wird.

Das Konzept der Nation fand durch seine implizite Gleichermachung innerhalb dieser „Nation“ auch problemlos in Staaten des „realexistierenden Sozialismus“ seine Anwendung. Die Idee der Gleichheit kann mit Nationalismus wunderbar kompatibel sein, solange es sich um einen „Sozialialismus in einem Land“ handelt.

Diese relative Gleichheit der Mitglieder einer Nation ist schließlich auch der Grund für die Verbindung von „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“ mit der ersten erfolgreichen Nationsbildung in Europa. Mit der französischen Revolution und dem Sturz der Monarchie setzte sich in Frankreich jenes Nationskonzept durch, das die Identifikation der FranzösInnen nicht mehr mit dem Herrscherhaus, sondern eben mit ihrer Nation festschrieb. In der französischen Revolution manifestierte sich „die von der Aufklärung entwickelte Denkfigur der Nation als Gemeinschaft aller gleichberechtigten Staatsbürger“

Typen der Nation

Was nun grundsätzlich über die Entstehung, Erfindung und den Charakter der Nation gesagt wurde wird von Rainer Lepsius genauer differenziert. Er unterscheidet zwischen 4 verschiedenen „Typen von Nationen“.

Als „Volksnation“ betrachtet er eine Nation die „sich über die ethnische Abstammung einer Kollektivität von Menschen“ konstituiert. „Damit müssen die Eigenschaften des Volkes bestimmt werden, damit das Volk von anderen ethnischen Gebilden unterschieden werden kann und die Volksangehörigen untereinander in eine Beziehung der Gleichheit treten können.“

Während Lepsius damit sehrwohl die Nation als konstruiert begreift, wird die Kategorie „Volk“ nicht hinterfragt, sondern offensichtlich als gegeben akzeptiert. Daß auch „Volk“ eine gedachte Gemeinschaft ist die nicht einfach existiert, der das Individuum nicht einfach angehört, sondern ein genauso interessensgeleitetes zeitbedingtes Konstrukt, das unter ganz bestimmten historischen Bedingungen erfunden wird, geht für Lepsius offensichtlich zu weit.

Immerhin erkennt Lepsius aber, daß „ethnische Einheiten auch über kulturelle Eigenschaften, Sprache, Religion oder durch noch undeutlichere Kriterien wie die einer Historischen Schicksalsgemeinschaft bestimmt“ werden. "Die ethnische Homogenität einer ‚Nation‘ ist daher nichts ‚Naturwüchsiges‘, sondern weitgehend das Produkt einer kulturell behaupteten Identität und einer politisch durchgesetzten Gleichheit, auch wenn sich der Geltungsanspruch der
‚Volksnation‘ naturrechtlich und vorpolitisch legitimiert.„Während für“Einwanderungsgesellschaften wie die Vereinigten Staaten [...] die Idee der ‚Volksnation‘ für die Nationalstaatsbildung gar nicht erst in Anspruch genommen werden„kann, fordert der Gedanke der Volksnation in Mittel- und Osteuropa ethnisch homogene Nationalstaaten. Da jedoch gerade in Mittel- und Osteuropa, also dort wo der Gedanke der“Volksnation„sich am stärksten durchsetzen konnte, überall ethnische Minderheiten lebten oder immer noch leben kommen diese Minderheiten immer in Konflikt mit den neuen Nationalstaaten. Zwangsassimilationen und“ethnische Säuberungen ergeben sich damit als letzte Konsequenz dieses Gedankens einer ethnisch reinen Volksnation. Sie sind die konsequente Umsetzung dieses Zieles. Oder mit anderen Worten: Die Errichtung einer „Volksnation“ funktioniert nur dann wenn „ethnisch Gesäubert“, massakriert oder zwangsassimiliert wird!

Die „Volksnation“ kann auch problemlos ohne individuelle Bürgerrechte als Nation existieren, da es lediglich um die „Nation“ als „Volk“ geht. Im Extremfall gilt die Nation alles, der Einzelne nichts!

Dies gilt jedoch nicht für eine weitere Nationsform die Lepsius in den Gegensatz zur „Volksnation“ stellt, die „Staatsbürgernation“ für die er die Vereinigten Staaten als Prototyp beschreibt, deren Übergang zur „Staatsbürgernation“ „durch die Erklärung der Menschenrechte un die Verfassungsgebung“ erklärt wird. Die Nationenbildung der USA ist daher für Lepsius „in der Tat die“first new nation„.“

Die Identifikation mit dieser Staatsbürgernation erfolgt für ihn nicht über die Zugehörigkeit zu einem „Volk“, also nicht über eine als vorpolitisch gedachte Gemeinschaft, sondern direkt über die politischen Institutionen, die Verfassung, die durch diese Verfassung garantierten Bürger- und Menschenrechte.

„Die“Staatsbürgernation„konstituiert sich über die individuellen staatsbürgerlichen Gleichheitsrechte und die Verfahren der demokratischen Legitimation der Herrschaft durch die Staatsbürger.“

Neben der Volks- und Staatsbürgernation sieht Lepsius noch die „Klassennation“ der DDR und die „Kulturnation“ die „sich über die kulturelle Gleichheit von Menschen“ konstituiert.

Angesichts der Realerfahrung der politischen Fragmentierung der durch die deutsche Sprache gestifteten Kulturgemeinschaft entwickelte sich die Vorstellung von einer deutschen „Kulturnation“ zunächst als Substitut für das in selbstständige Territorialstaaten zerfallende Deutsche Reich des 18. Jahrhunderts:

Obwohl Lepsius diese Form der Nation von der der Volksnation trennt, erscheint mir diese Trennung nicht wirklich aufrechterhaltbar. Natürlich ist es theoretisch denkbar, daß „die Idee der“Kulturnation„transpolitischen Charakter“ behält und sich daraus „keine Folgen für die Binnenordnungen der deutschen Staaten und für die Anerkennung ihrer Außengrenzen“ ergeben. De facto bildeten die Ideen der Kulturnation aber den Vorläufer der Idee der „Volksnation“. Solange die „Volksnation“ nicht verwiklicht werden konnte wurde Deutschland als „Kulturnation“ betrachtet und selbst bis zum neuen Parteiprogramm der FPÖ stand in deren Programm der Begriff der „deutschen Kulturnation“ als Substitut für eine im Jahre 1945 gescheiterte „Volksnation“.

Selbst die „Kulturnation“ der arabischen Staaten mündete immer wieder in den zumindest verbalen Bekundungen dieser „Kulturnation“ eine gemeinsame Staatlichkeit zu geben und sie damit wiederum zu einer „Volksnation“ umzuformen.

Wenn damit auch Differenzierungen zwischen Staatsbürgernationen und Volksnationen — die sich schließlich auch im unterschiedlichen Staatsbürgerschaftsrecht etwa von Deutschland und den USA zeigen — nützlich sein können so müssen zwischen all den unterschiedlichen Nationskonzepten, insbesondere zwischen Kultur- und Volksnation die Verbindungen gesehen werden.

Die Globalisierung des Nationalismus

In der jüngeren Geschichte ist was die Vorstellung der Nation betrifft v.a. auch interessant wie sich dieses Konzept über den Erdball ausgebreitet hat. Im Zuge der Kolonialismus und des Widerstandes gegen ihn wurde das Europäische Konzept der Nation in Weltgegenden getragen die ein solches Konzept nie kannten.

Einerseits schafften die kreolischen Eliten in Lateinamerika schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eigene Nationalstaaten, die die spansiche Sprache weiterhin als Nationalsprache verwendeten. Die Befreiungskriege eines Simon Bolivar waren wohl eher ein Aufstand der Eliten und brachten der eigentlich kolonialisierten Bevölkerung kaum Verbesserungen. Ja teilweise waren diese Aufstände sogar gegen Verbesserungen für indigene und schwarzafrikansiche Bevölkerungsteile gerichtet, da die Krone in Spanien weniger repressiv gegen die einheimische Bevölkerung vorging als die spanischsprachigen Kreolen.

Im zwanzigsten Jahrhundert entwickelten sich in den Protektoraten und Kolonien Asiens, Afrikas und der Arabischen Welt eigenständige Nationalismen. Nur wenige davon beriefen sich in ihrem Widerstand gegen den Kolonialismus wirklich auf vorkoloniale Traditionen. Lediglich in Bevölkerungen die auf eine lange eigenständige Schriftkultur zurückblicken konnten (AraberInnen, ChinesInnen, Khmer, ...) entwickelten sich erfolgreiche Nationalismen mit den eigenständigen Sprachen als Fundament. Die meisten Staaten Afrikas hingegen benutzten auch nach der Entkolonialisierung weitgehend die alten Kolonialsprachen weiter. Der nigerianische Nationalismus bediente sich des Englischen, der angolansiche des Portugiesischen, der senegalesische des Fanzösischen. Nur selten konnten sich die neuen Staaten auf eigenständige historische Traditionen berufen. Lediglich die Somalis stellten ein Beispiel dafür dar, „daß die alte Stammesstruktur, die sich auf eine soziale Struktur gründet, mit dem neuen, anonymen Nationalismus verschmolzen wird, der auf einer gemeinsamen Kultur basiert.“

Wie wir in den letzten Jahren erfahren haben, ist aber auch dieser Versuch der Verschmelzung vorerst gescheitert. Statt eines somalischen Nationalstaates existieren zur Zeit am Horn von Afrika rivalisierende Kleinststaaten und Clans die in ständigem Krieg miteinander liegen.

Fast überall haben sich die neuen Nationalismen den kolonialen Grenzen angepaßt und damit eindrücklich vor Augen geführt wie willkürlich und interessengeleitet „Nationen“ konstituert werden. Selbst die Sowjetunion ist in jenen Grenzen zerfallen die in der Ära des Stalinismus den neuen Sowjetrepubliken gegeben wurden. Die wenigen Nationalismen die sich im Trikont unabhängig von kolonialen Grenzen zu Massenbewegungen entwickelt haben sind allesamt gescheitert, was das jüngste und wohl bekannteste Besipiel der PKK in Kurdistan eindrucksvoll belegt.

Auch die neuen Nationalismen die im Rahmen der Entkolonialisierung Afrikas, Asiens oder in den 90er Jahren der ehemaligen Sowjetunion entstanden sind, sind somit weitgehend jenen Konzepten gefolgt die für die Eliten dieser neuen staatlichen Gebilde bereits zuvor existierten.

Trotz dieser willkürlichen Kreation von Nationen und Staaten ist es jenen die an der Macht sind oder diese zukünftig ausüben möchten immer wieder gelungen die Bevölkerung von der Wichtigkeit der eigenen Nation zu überzeugen. Für kein Konzept haben sich so schon mehr Menschen aufgeopfert, sind aber auch schon mehr Menschen ermordet worden als für das Konzept der Nation. „Der Tod für das eigene Land, das man sich in der Regel nicht erwählt, ist von einer moralischen Erhabenheit gekrönt, an die das Sterben für die Labour Party, für die American Medical Association und auch für Amnesty International nicht im geringsten heranreicht, da man diesen Vereinigungen leicht beitreten und sie wieder verlassen kann.“

Emanzipatorisch wäre es nun hingegen nicht immer neue Nationalismen zu schaffen und die Nationalismen der Kleinen gegen die Nationalismen der Großen zu verteidigen, sondern das Konstrukt der Nation selbst zum Einsturz zu bringen.

Bibliographie

  • ANDERSON, Benedict: Die Erfindung der Nation, Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/Main, New York, 1996
  • BRUCKMÜLLER, Ernst: Nationsbildung als gesellschaftlicher Prozeß, in: Bruckmüller, Ernst / LINHART; Sepp / MÄHRDEL, Christian: Nationalismus, Wege der Staatenbildung in der außereuropäischen Welt, S 17-50, Wien, 1994
  • GELLNER, Ernest: Nationalismus und Moderne; Hamburg, 1991
  • LEPSIUS, Rainer M.: Nation und Nationalismus in Deutschland, in: JEISMANN, Michael / HENNING, Ritter (Hg.): Grenzfälle, Über neuen und alten Nationalismus; Leipzig 1993
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