Internationale Situationniste, Numéro 7
 
1976

Die Rolle der S.I.

Wir sind ganz und gar populär. Wir beachten nur Probleme, die in der gesamten Bevölkerung schon in der Schwebe sind. Die situationistische Theorie ist im Volk wie der Fisch im Wasser. Wenn jemand glaubt, dass die S.I. eine spekulative Festung baut, behaupten wir dagegen: wir werden in der Bevölkerung aufgehen, weil sie in jedem Moment unser Projekt lebt. Bestimmt lebt sie es vorerst in der Art des Mangels und der Unterdrückung. Diejenigen, die es nicht verstanden hatten, sollten das Studium unseres Programms wieder aufnehmen. Dadurch, dass Situationistische Internationale der ständige Bericht einer Aufhebung ist, ist sie eine Zeitschrift, bei der man beim Lesen der letzten Nummer herausfindet, wie man die erste hätte lesen sollen.

Die Spezialisten schmeicheln sich vielleicht mit der Illusion, dass sie einige Gebiete des Wissens und der Praxis besetzt halten, aber es gibt keinen Spezialisten, der unserer allumfassenden Kritik entschlüpfen kann. Wir erkennen, in welchem Maße es uns noch an Mitteln fehlt; in erster Linie mangelt es uns an Informationen (sowohl wegen der Unzugänglichkeit der wesentlichen Dokumente, dort, wo es welche gibt, als auch wegen des Mangels jeglichen Dokuments über die wichtigsten Probleme, auf die wir hinweisen). Man darf jedoch nicht vergessen, dass es dem Technokratenpack auch an Informationen mangelt. Selbst da, wo es über die breitesten Informationen verfügt — nach seinen eigenen Normen — besitzt es nicht mehr als 10 % von dem, was es nötig hätte, um uns zu dementieren. Eine leere Eventualität, da die herrschende Bürokratie von Natur aus die quantitative Akkumulation von Informationen nicht weit führen kann — sie kann nur ignorieren, wie die Arbeiter arbeiten und wie die Leute wirklich leben — und folglich keine Hoffnung hat, jemals im Bereich des Qualitativen anzulangen. Im Gegenteil mangelt es uns nur am Quantitativen, und wir werden es in der Zukunft besitzen, da wir schon das Qualitative haben, das von nun an wie ein Exponent wirkt, der die Quantität von uns zu Verfügung stehenden Informationen vervielfacht. Man könnte dieses Beispiel auf das Verständnis der Vergangenheit ausdehnen: Wir maßen uns an, bestimmte historische Perioden zu vertiefen und neu zu bewerten, sogar wenn wir keinen Zugang zum größten Teil der gelehrten Studien der Historiker haben.

Die rohen Tatsachen, die jedem Spezialisten bekannt sind, verleugnen die aktuelle Organisation der Wirklichkeit und üben eine unmittelbare, unversöhnliche Kritik an ihr aus — z.B. die Wohnungsszenerie in Sarcelles oder die Lebensweise des Tony Armstrong-Jones. Seit zu langer Zeit begrüßen es die gutbezahlten Spezialisten, dass niemand diese Tatsachen repräsentiert, die durch die gesamte Realität präsentiert werden. Sie sollen zittern! Ihre gute Zeit ist vorbei. Wir werden sie niederwerfen, zusammen mit all den Hierarchien, von denen sie beschützt werden.

Wir halten uns für fähig, die Kritik in jede Spezialdisziplin hineinzutragen. Wir werden es nicht erlauben, dass ein einziger Spezialist Herr über ein einziges Fachgebiet bleibt. Wir sind selbst bereit, zeitweilig mit zum Zählen und Rechnen geeigneten Formen zu manipulieren: das ist uns möglich, weil wir den berechenbaren Fehlerquotient kennen, der zwangsläufig in solchen Rechnungen mit enthalten ist. Dann werden wir selbst unsere Resultate um den Fehlerquotient verringern, der durch den Gebrauch von Kategorien hineingebracht wurde, die wir als falsch erkannt haben. Es ist für uns leicht, jedesmal das Gebiet des Konflikts zu wählen. Wenn man schon mit „Modellen“ den „Modellen“ gegenübertreten muss, die heute die Sammelpunkte des technologischen Denkens bilden — ob es sich nun um totale Konkurrenz oder totale Planung handelt —, dann heißt unser „Modell“ die totale Kommunikation.

Da soll uns keiner mit Utopie kommen. Es handelt sich dabei um eine Hypothese, die selbstverständlich in der Wirklichkeit nie genau realisiert wird — wie alle anderen. Aber wir besitzen in der Theorie des Potlatch als unabänderlichen Ausdruck ihren ergänzenden Faktor. Es gibt keine mögliche „Utopie“ mehr, weil alle Bedingungen ihrer Verwirklichung schon vorhanden sind. Man pervertiert sie, damit sie der Aufrechterhaltung der augenblicklichen Ordnung dienen, deren Absurdität so furchtbar ist, dass man sie zuerst in die Wirklichkeit umsetzt — koste es, was es wolle — ohne dass jemand die Theorie zu formulieren wagt, sei es auch nur im Nachhinein. Es ist die umgekehrte Utopie der Repression: sie verfügt über alle Macht und niemand will sie.

Wir untersuchen ebenso genau den „positiven Pol der Entfremdung“ wie ihren negativen. Als Ergänzung unserer Diagnose der Armseligkeit des Reichtums sind wir in der Lage, die Weltkarte aufgrund des extremen Reichtums der Armut zu zeichnen. Diese für sich sprechenden Karten, die eine neue Topographie zeigen werden, sind eigentlich die erste Verwirklichung einer „Geographie des Menschen“. Hier werden wir die Erdölabbaugebiete ersetzen durch die kartographische Aufnahme der Felder des noch ungenutzten proletarischen Bewusstseins.

Unter diesen Umständen wird man leicht den allgemeinen Ton unserer Beziehungen mit einer ohnmächtigen Intellektuellengeneration verstehen können. Wir werden kein einziges Zugeständnis machen. Es ist klar, dass aus den Massen, die spontan so denken wie wir, fast alle Intellektuellen ausgeschlossen werden müssen, d.h. die Leute, die, da sie das heutige Denken gepachtet haben, sich zwangsläufig mit ihrem eigenen Denken als Denker begnügen müssen. Indem sie sich als solche und folglich als Ohnmächtige akzeptieren, diskutieren sie über die Ohnmacht des Denkens im allgemeinen (siehe die Clown-Redakteure der Nr. 20 von Arguments, die sich speziell mit den Intellektuellen abgibt).

Vom Anfang unserer gemeinsamen Aktion an waren wir deutlich. Aber nun ist unser Spiel so entscheidend geworden, dass wir nicht mehr mit Gesprächspartnern ohne Befähigung diskutieren können. Wir haben überall Anhänger. Und wir haben keineswegs die Absicht, sie zu enttäuschen. Was wir mitbringen, ist das Schwert.

Was diejenigen betrifft, die gültige Gesprächspartner sein können, sollen sie wissen, dass sie mit uns keine harmlosen Beziehungen pflegen können. Wir befinden uns vor einer entscheidenden Wahl und, obwohl wir das Ausmaß unserer Irrtümer kennen, können wir trotzdem diese möglichen Verbündeten zu einer globalen Wahl zwingen. Man muss uns ganz akzeptieren oder verwerfen. Wir verkaufen keine Details.

Diese Wahrheiten auszusprechen hat nichts Erstaunliches. Das Erstaunliche ist vielmehr, dass alle Spezialisten der Meinungsforschung nichts wissen von der unmittelbaren Nähe dieses gerechten Zorns, der sich über so vieles erhebt. Sie werden eines Tages mit großem Staunen erleben, wie man die Architekten auf den Straßen von Sarcelles hetzt und aufhängt.

Der Fehler anderer Gruppen, die mehr oder weniger die Notwendigkeit der kommenden Mutation sahen, ist ihre Positivität. Ob sie eine künstlerische Avantgarde oder eine neue politische Organisation zu sein versuchen, glauben sie alle, irgendetwas aus der alten Praxis herüberretten zu müssen und dadurch scheitern sie.

Diejenigen, die zu schnell zur politischen Positivität gelangen wollen, tun es unter völliger Abhängigkeit von der alten Politik. In gleicher Weise haben viele Leute versucht, die Situationisten dazu zu bringen, zur positiven Kunst zu gelangen. Unsere Stärke ist es, nichts derartiges getan zu haben. Unsere vorherrschende Stellung in der modernen Kultur wurde niemals besser gekennzeichnet als in der von der Göteborger Konferenz getroffenen Entscheidung, von nun an alle künstlerischen Produktionen der Mitglieder der S.I. im aktuellen Rahmen, den sie zugleich zerstören und konsolidieren, antisituationistisch zu nennen.

Die Interpretation, die wir in der Kultur vertreten, kann als eine bloße Hypothese angesehen werden und wir erwarten, dass sie tatsächlich sehr schnell bestätigt und überholt sein wird. Auf alle Fälle aber besitzt sie die wesentlichen Merkmale für eine strenge wissenschaftliche Verifizierung in dem Sinne, dass sie eine bestimmte Anzahl von Phänomenen erklärt und in Zusammenhang bringt, die für andere zusammenhanglos und unerklärbar sind — die also manchmal sogar durch andere Kräfte verborgen sind — und weiterhin dadurch, dass sie es ermöglicht, bestimmte Tatsachen vorherzusehen, die nachträglich kontrollierbar sind. Wir machen uns überhaupt keine Illusionen über die sogenannte Objektivität irgendeines Forschers in der Kultur oder in dem, was man gemeinhin Geisteswissenschaften nennt. Die Regel besteht hier im Gegenteil darin, die Probleme ebenso wie die Antworten zu verbergen. Die S.I. muss das Verborgene unter die Leute bringen — und sich selbst als eine Möglichkeit, die von ihren Feinden verborgen gehalten wird. Es wird uns gelingen, indem wir auf die Widersprüche hinweisen, welche die anderen zu vergessen gewählt haben, und indem wir uns in eine praktische Kraft verwandeln, wie es die Hamburger Thesen vorsehen, die von Debord, Kotányi, Trocchi und Vaneigem im Sommer 1961 ausgearbeitet wurden.

Das unreduzierbare Projekt der S.I. ist die totale Freiheit, konkretisiert im Handeln und in der Phantasie, denn es ist nicht leicht, sich die Freiheit auszudenken in der gegenwärtigen Unterdrückung. So werden wir siegen, indem wir uns mit der tiefsten Begierde, die bei allen vorhanden ist, identifizieren und ihr jede Handlungsfreiheit geben. Die „Motivationsforscher“ der modernen Werbung finden im Unterbewusstsein der Menschen den Wunsch nach Objekten; wir werden die einzige Begierde finden, die Hemmnisse des Lebens zu sprengen. Wir sind die Vertreter des treibenden Gedankens der weitaus größten Mehrheit. Unsere ersten Grundsätze müssen außerhalb jeder Diskussion bleiben.

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