FORVM, No. 267
März
1976

Die unmögliche Revolution

Simone Weil: Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften, aus dem Französischen von Heinz Abosch. Rogner & Bernhard, München 1975, 276 Seiten, DM 19,80, öS 152,50

Résistance-Ausweis von Simone Weil, London 1943

Das vorliegende Buch bringt erstmals in deutscher Sprache eine Auswahl der politischen und philosophischen Texte einer Autorin, von der bisher lediglich die theologischen Titel aus der letzten Phase ihres kurzen Lebens übersetzt wurden. Simone Weil (1909 bis 1943), eine Revolutionärin, deren Nonkonformismus ebenso politisch wie religiös bestimmt war, gehörte zu jenen linken Kritikern der KP, welche in den dreißiger Jahren einen dritten Weg der Arbeiterbewegung jenseits von Orthodoxie und Revisionismus suchten. Weils Erfahrungen im Deutschland von 1932/1933, in den Renault-Fabriken 1935, im spanischen Bürgerkrieg 1936 und in der englischen Emigration (wo sie während des zweiten Weltkriegs beim Komitee „Freies Frankreich“ mitarbeitete) ließen die militante Aktivistin an den Möglichkeiten der politischen Aktion verzweifeln. Ihre Schriften, im Laufe der Jahre immer stärker von Resignation geprägt, beweisen den Mut, der Niederlage ins Gesicht zu sehen und die Ursachen zu prüfen. Unter den Widersachern des Marxismus — dem Simone Weil ihre Schulung verdankt — ist sie die wichtigste: ihre Kritik an der Revolution geht vom revolutionären Standpunkt aus. Sie konfrontiert die Theorie mit der politischen Praxis, die Ideologie mit dem wirklichen Dasein der Arbeiter. Weil kämpfte gegen die schönfärberische Tendenz, aus dem „realen Sozialismus“ ein Ideal zu machen, das seine wenig ideale Realität kaschiert.

Zwischen Stalin und Hitler

Allerdings ist gerade das Denken Simone Weils am Ideal der Befreiung fixiert. Darin besteht ihre Verwandtschaft mit Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“, Adorno/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ und Merleau-Pontys „Abenteuer der Dialektik“. Mit Reich teilt Simone Weil den Rückgriff auf den utopischen Sozialismus, mit Horkheimer und Adorno die pessimistische Natur- und Geschichtsphilosophie, mit Merleau-Ponty die tragische Auffassung der Politik. Weil rollt die moralische Problematik der revolutionären Organisation wieder auf, wie sie bereits zwischen Marx und Bakunin, Lenin und Rosa Luxemburg zur Debatte gestanden ist. „Die machtvollen Mittel sind repressiv, die schwachen Mittel sind unwirksam“ (p. 35). In diesem Satz faßt Weil die Antinomie von Kaderpartei und Spontaneitätstheorie zusammen. Haben nicht alle revolutionären und reformistischen Organisationen die Sünden des Regimes nachgeäfft, das sie ändern wollten? Weils großer philosophischer Essay „Reflexionen über die Ursachen der Freiheit und sozialen Unterdrückung“ von 1934 — das Kernstück des vorliegenden Buchs — reduziert die Politik auf „ein Spiel oder eine Sparte der Magie“ (p. 175).

Die Texte Weils, mitten in der großen Krise, zwischen den Mühlsteinen Stalin und Hitler entstanden, quälen sich mit dem Rätsel: die objektiven Voraussetzungen für die Revolution sind vorhanden, es gibt proletarische Massenorganisationen — und doch „verhält sich alles so, als zerfalle die revolutionäre Bewegung zugleich mit dem Regime, das sie zu zerstören beabsichtigt“ (p. 152). Weil mißtraut den populistischen Illusionen über die Kraft der Massen: „Die Schwäche ist auf seiten der Hungernden, Erschöpften, Flehenden, Verängstigten, nicht dort, wo man das Leben genießt, Begnadigungen oder Drohungen ausspricht. Das Volk ist nicht unterworfen, obwohl es die Mehrzahl ist, sondern weil es die Mehrzahl ist ... Daraus darf man nicht schließen, daß die Organisation der Massen das Verhältnis umkehren werde; denn sie ist unmöglich. Nur in einer kleinen Gruppe läßt sich Kohäsion herstellen“ (p. 250). Ein bedenkenswertes Argument — aber es beweist entweder zuviel oder zuwenig. Wie sich zeigt, konnte Weil sich nicht entscheiden, ob sie mehr oder weniger Revolution wünschte.

Im Frühjahr 1936 besetzten die französischen Arbeiter ohne Blutvergießen die Betriebe, halfen der ersten Volksfrontregierung Léon Blums in den Sattel, erzwangen die Auflösung der faschistischen Terrorverbände und erreichten die Einführung des Mindestlohns, des bezahlten Urlaubs, der Vierzigstundenwoche, die Legalisierung der Betriebsräte und die Verstaatlichung der Bank von Frankreich. Weils Kommentare dazu sind zweideutig. Einerseits vermißt sie an den Rebellierenden ein politisches Bewußtsein, das über ökonomische Forderungen hinausginge: auch die Arbeiter bleiben im Geldfetischismus gefangen. Andrerseits fürchtet Weil die Eskalierung des Klassenkampfs: Für sie ist „der Kampf zwischen Gegnern und Verteidigern des Kapitalismus ein Kampf zwischen Blinden ... Daher droht der Kampf unerbittlich zu werden“ (p. 246).

Ähnlich ambivalent ist ihre Philosophie. Sie schlägt sich mit dem Scheinproblem herum: ist die Geschichte vorherbestimmt, die Revolution unvermeidlich? Wie die Revisionisten seit Bernstein spielt auch Weil den „Hegelianer“ Marx gegen den „Soziologen“ aus: der eine wollte die Menschheit zu einem prädestinierten Ideal führen, der andere lediglich die sozialen Tatsachen erforschen. Diese Verwechslung von „Ideal“ und „Realität“ erzeuge das Monstrum des historischen Determinismus.

Weil begeht jedoch selbst diesen „Fehler“. Sie beklagt ja, daß „die gesellschaftlichen Beziehungen, insofern Arbeits- und Kampfmethoden Gleichheit ausschließen, wie eine äußere Fatalität als Wahn auf den Menschen“ lasten (p. 182). Genauso hat’s auch Marx gemeint. Wer die Partei des „Ideals“ ergreift, um die Realität zu verändern, der muß eine historische Determinierung voraussetzen — ohne Ursache/Wirkung kein sinnvolles Handeln. Verzichtet man auf das aktive Eingreifen in die Realität, dann wird unwillkürlich das Bestehende zum „Ideal“ gemacht. In diesem Dilemma vertritt Weil die negative Theologie: „Genie, Liebe, Heiligkeit verdienen uneingeschränkt den so häufigen Vorwurf, das Bestehende zerstören zu wollen, ohne etwas an seiner Stelle zu errichten. Was jene betrifft, die denken, lieben, in politischer Aktion die Reinheit ihres Geistes und Herzens umsetzen wollen, so können sie nicht anders als ermordet werden“ (p. 263). Im Gegensatz dazu plädiert aber Weil gleichzeitig auch für die „Politik des kleineren Übels“ — eine beschwichtigende Leerfloskel, unter die sich von der Revolution bis zur Kapitulation alles subsumieren läßt.

Tugend und Eigennutz

Das sind genau die Antinomien der Moralphilosophie, wie sie Hegel seinerzeit an Kant und Fichte kritisiert hat. In der „Phänomenologie des Geistes“ spricht Hegel satirisch über den Konflikt zwischen „Tugend“ und „Weltlauf“. Die Tugend muß nicht nur ihre eigenen Waffen, sondern auch die des Gegners schonen, um keine Schuld auf sich zu nehmen: „Weil das allgemeine Beste ausgeführt werden soll, wird nichts Gutes getan“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952, p. 436). Das wäre Hegels Argument gegen die Behauptung Simone Weils gewesen, mit der sie Kants kategorischen Imperativ erneuerte: „Der gute und aufgeklärte Wille der als Individuen handelnden Menschen ist das allein mögliche Prinzip des Fortschritts“ (p. 174). Hegel, als prononçiert bürgerlicher Philosoph, verteidigt dagegen unverblümt den weltlichen Egoismus und die Konkurrenz der Interessen: „Die Individualität des Weltlaufs mag wohl nur für sich oder eigennützig zu handeln meinen; sie ist besser, als sie meint ... Wenn sie eigennützig handelt, so weiß sie nur nicht, was sie tut“ (Phänomenbologie, p. 282).

Diesem Modell Hegels folgt auch noch Marx mit seinem Konzept des Klassenkampfs. Das Proletariat befreit die Gesellschaft, indem es seine eigenen Interessen durchsetzt. Es ist also ganz korrekt, wenn Weil den Marxismus als den „höchsten geistigen Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft“ (p. 247) denunziert. Immerhin ist auch Weil Marxistin: „Die vulgären Moralisten beklagen, daß der Mensch vom persönlichen Interesse geleitet werde. Wenn dies doch nur zuträfe“ (p. 183). Seit der Spaltung in Reformisten und Revolutionäre stellt sich allerdings der Linken die peinliche Frage: Was sind die „wahren“ Interessen der Arbeiter? Welche Mittel sind ihnen adäquat? Trennt man — wie Lenin — die „trade-unionistischen“ Interessen des Proletariats von seinen „politischen“, dann wird die Revolution selbst allmählich zum transzendenten Ideal. Man kann die Position Weils nur aus ihrer Opposition gegen den Stalinismus verstehen, der die revolutionäre Rhetorik mit einer opportunistischen Politik verquickte. Weil insistiert: „Es ist natürlich, daß ein Arbeiter, der in der Revolution kein Abenteuer sucht ..., den revolutionären Weg nur dann wählt, wenn er keine andere Lösung sieht und ihm dieser Weg realisierbar erscheint“ (p. 75). Schließlich befürchtet Weil, daß die Revolution dazu, neigt, „ein Mythos zu werden, der, wie alle anderen Mythen, nur die Wirkung hätte, eine unerträgliche Situation erträglich zu machen“ (p. 87).

So das Resümee, das sie aus der Katastrophe der deutschen Arbeiterbewegung zog. Die Skepsis der reifen Simone Weil gegenüber dem Politisieren und ihre Abneigung gegen Demagogie zeichnen sich bereits in den Berichten der Dreiundzwanzigjährigen aus dem Deutschland von 1932/ 1933 ab. Weils enthusiastische Schilderung des deutschen Proletariats, seiner politischen Disziplin und seines intellektuellen Niveaus sah in ihm das wichtigste Gebot der revolutionären Ethik realisiert: die Einheit von Person und Sache im politischen Engagement. „Die Probleme der Struktur der menschlichen Gesellschaft sind gestellt“, schrieb Weil im Oktober 1932 aus Berlin nach Paris. „Nicht wie in Frankreich, wo sie einem besonderen Bereich angehören, dem Bereich der Politik, wie man sagt, der Zeitungen, Wahlen, Versammlungen, Cafégespräche, indes die wirklichen Probleme jedes einzelnen woanders sind. In Deutschland dagegen berührt das politische Problem den einzelnen am meisten“ (p. 33). Hier stellt Weil der liberal-parlamentarischen Dimension von Politik die revolutionäre Totalität gegenüber. Zugleich differiert aber Weils Konzept der Revolution auch von dem leninistischen.

Wie das rote Berlin geknackt wurde

Aufschlußreich der Vergleich zwischen den Deutschland-Berichten Weils zwischen dem August 1932 und dem März 1933 — sie war Korrespondentin der französischen Anarchosyndikalisten — und den Broschüren Trotzkis „Was nun?“ und „Der einzige Weg“ aus dem Jahr 1932. Diese Texte Weils und Trotzkis bilden heute noch die beste Lektüre zur Vorgeschichte von Hitlers Machtergreifung. Sichtlich sind Weils Urteile über die deutsche Situation von Trotzki beeinflußt (Weil hat „Was nun?“ rezensiert), beide stellen die Alternative: Revolution oder Faschismus! — um so interessanter die Divergenzen. Wie sich die Bolschewiki 1917 am Vorbild der Jakobiner von 1793 orientiert haben, arbeitet Trotzki 1932 scharfsinnig Parallelen zwischen dem Todeskampf der Weimarer Republik und dem russischen Revolutionsjahr heraus. Trotzkis Analyse dreht sich um die Frage: Was würde Lenin unter diesen Umständen tun? Die Antwort ist ein politischer Kalkül von suggestiver Klarheit, der Schlachtplan eines großen Revolutionärs doch mit wenig Verständnis für die Imponderabilien der Situation. Trotzki ist gleichsam der Ingenieur der Revolution, der im Diagramm zeigt, wie’s gemacht werden müßte.

Im Unterschied zu dieser politischen Technologie — die sich vorwiegend auf Analogien mit 1917 stützt — ist sich Weil klar darüber, daß die Oktoberrevolution nicht wiederholt werden kann. „Das sich den deutschen Arbeitern stellende Problem“, schreibt Weil im Oktober 1932, „gehört einem anderen Bereich an als jenem, mit dem die russischen Arbeiter 1917 konfrontiert waren: Friedensschluß und Landverteilung. Nein, hier geht es darum, die gesamte Wirtschaft auf neuen Fundamenten wieder zu errichten. Die Kraft zur Lösung einer solchen Aufgabe vermag allein das scharfe Bewußtsein zu verleihen, daß es keinen anderen Ausweg gibt.“ Aber — so zweifelt Weil — darf man ausgerechnet von den Arbeitslosen die erlösende Tat erwarten? „Dies Leben in Müßiggang und Elend, das die Arbeiter ihrer Würde als Produzenten entkleidet ... ist keine Vorbereitung für die verantwortliche Führung einer Wirtschaft“ (pp. 35/36).

Trotzki verlangte von der KPD die Bildung der Einheitsfront mit der SPD-Führung, um die revolutionäre Offensive zunächst in der Defensive vorzubereiten. Tatsächlich verhielt sich die KPD im Berliner Verkehrsarbeiterstreik November 1932 gerade umgekehrt und ebnete damit den Weg für die Regierung Hitler/Papen. Weil schildert plastisch, wie das Bündnis der KPD mit den Nazis gegen die streikfeindliche Gewerkschaft den Kommunisten zwar einen Wahlsieg, zugleich aber auch eine politische Niederlage bescherte. „Die Nazis mobilisierten die SA gegen Streikbrecher und beherrschten so die Straßen mancher Stadtviertel“ (p. 94). Das rote Berlin war geknackt!

Die Kommunisten, hatte Weil schon im Oktober 1932 bemerkt, sind sich „im allgemeinen nicht bewußt, eine entscheidende Phase der Geschichte zu durchqueren. Sie glauben, noch viel Zeit vor sich zu haben ... (sie) erwarten unbestimmt, eines Tages werde ein noch skandalöserer Verrat der reformistischen Führer die sozialdemokratischen Massen zur KPD bringen“ (p. 46). Warum beherzigte die KPD nicht die — eindeutig leninistischen — Rezepte Trotzkis? Für Trotzki ist die Sache klar: ein typisches Versagen der Bürokratie, die in der Sowjetunion die Macht an sich gerissen und auch den deutschen Kommunismus an die Kandare genommen hat.

Sowjetentartung kein „Betriebsunfall“

Allerdings gehört „Bürokratie“, versteht man darunter einen autonomen politischen Faktor, keinesfalls in das marxistische Klassenschema. Trotzki verwendet den Begriff lediglich als ein Behelfsmittel, um die rätselhafte „Deformierung des Arbeiterstaats“ zu erklären. Die Herrschaft der Bürokratie — in jeder Hinsicht illegitim — gilt als ein bloßer Ausnahmezustand, der sofort korrigiert werden könnte. Auf diese Weise schließt Trotzkis prinzipielle Solidarität mit dem Staat der Oktoberrevolution keineswegs radikale Kritik an ihm aus. Simone Weil bricht dieses Tabu. Sie lehnt die Klischees der „neuen Bourgeoisie“ und der „bürokratischen Entartung“ dezidiert ab. Gegen Trotzki wendet sie ein, daß eine schadhafte Uhr doch keine Ausnahme von den Naturgesetzen sei — daher müsse man auch das „stalinistische Regime nicht als einen schadhaften Arbeiterstaat ansehen, sondern als einen andersgearteten gesellschaftlichen Mechanismus ... Die sowjetische Bürokratie bewegt sich nicht in Richtung einer Kapitulation, so daß der Begriff des ‚Übergangs‘ aufjeden Fall ungeeignet wäre“ (pp. 117/118).

Der wunde Punkt: wie soll man die Klassenstruktur des sozialistischen Staats definieren? Diese offene Frage bildet — gemeinsam mit dem Versagen der Revolution — das Motiv von Weils Gesellschaftstheorie. Anders als der Revisionismus, der auf das revolutionäre Ziel verzichtet, um die Organisation zu retten, revidiert Weil die revolutionäre Theorie, um ihre Ziele zu bewahren. Daher pflegte sie auch keinen blinden Antikommunismus: „Der Mythos Sowjetrußlands ist insofern subversiv, als er dem vom Meister entlassenen kommunistischen Fabrikarbeiter das Gefühl vermitteln kann, er habe trotz allem die Rote Armee und Magnitogorsk hinter sich“ (p. 262). Anders als Trotzki hält Weil die „Diktatur der bürokratischen Kaste“ für eine spezifische und stabile Gesellschaftsform, die überall einen Kapitalismus abzulösen droht, in dessen Entwicklung sich das Management gegen das Eigentum verselbständigt.

Die linken Revisionisten wie Karl Renner und Serge Mallet begrüßten die Entstehung der bürokratischen und technischen Intelligenz — die sich zwischen die Arbeiter und den Eigentümer schiebt — als eine Art „sozialistischer Transformation“ des Kapitalismus. Simone Weil hingegen sieht in diesem (überschätzten) Prozeß, den sie als eine der ersten analysierte, lediglich die Vorstufe zur totalitären Gesellschaft. „Begriffe wie Unterdrücker, Unterdrückte, Klassen sind dabei, jegliche Bedeutung zu verlieren, so offenkundig sind die Ohnmacht und Angst aller Menschen angesichts der gesellschaftlichen Maschine, die Herz und Geist vernichtet“ (p. 223). Wie manche andere Marxisten in dieser Zeit stellte auch Weil den historischen Materialismus auf den Kopf und behauptete den Primat des Politischen über das Ökonomische in einem „Staatskapitalismus“, wie ihn Faschisten, Kommunisten und Sozialdemokraten gleichermaßen anstreben. „Selten genug denken unsere Genossen daran, daß man dem auch die Arbeiterdemokratie entgegensetzen könnte“ (p. 132). Diese apokalyptische Vision des totalen Polizeistaats und der technokratischen Befehlswirtschaft ist freilich kaum originell: die Soziologie würde damit nur zu ihren Anfängen bei Thomas Hobbes und seiner Philosophie der Macht zurückkehren.

Macht muß ausrotten

Im Gegensatz zu Hobbes und allen Machiavellisten demonstriert Weil jedoch an der Macht ihre innere logische Unmöglichkeit, die den Mächtigen zur ewigen Expansion ohne Maß und Ziel zwingt. „So schließt jeder Sieg über Menschen den Keim einer möglichen Niederlage ein, sofern man nicht bis zur Ausrottung zu gehen entschlossen ist. Aber die Ausrottung beseitigt die Macht, indem sie deren Objekt beseitigt. So liegt im Wesen der Macht ein fundamentaler Widerspruch, der sie eigentlich zu existieren verhindert“ (p. 181). Was existiert, ist die Spirale des eskalierenden Machtkampfs, in dem notgedrungen die Menschen das Leben solchen Zwecken opfern, die in Wahrheit nichts als die Mittel zum Leben sind. So lautet das Grundgesetz der repressiven Gesellschaft, von dem die Akkumulation des Kapitals nur einen Spezialfall darstelle.

Diese Dialektik der Macht — der Inbegriff des „Schicksals“ — ist der zentrale philosophische Gedanke Weils, den sie bereits 1934 zu einer spekulativen Kritik der Naturherrschaft ausgeweitet hat, welche frappant den entsprechenden Formulierungen in Benjamins „Geschichtsphilosophischen Thesen“ von 1940 und in der „Dialektik der Aufklärung“ von 1944 ähnelt. Dennoch unterschied Weil — anders als die linken Psychoanalytiker — exakt zwischen Klassenherrschaft und Triebunterdrückung: „Solange es eine Gesellschaft geben wird, schließt sie das Leben der Individuen in sehr engen Grenzen ein und legt ihm ihre Regeln auf. Aber dieser unvermeidliche Zwang kann nur dann als Unterdrückung bezeichnet werden, wenn er eine Trennung bewirkt zwischen jenen, die ihn ausüben, und jenen, die ihn erleiden“ (p. 170). Das ist gut jakobinisch gedacht: Gleichheit vor dem Naturgesetz!

Weil wünscht die Garantie, daß die sozialistische Revolution auch wirklich die Revolution der Arbeiter ist. Darum versucht sie, die „Grenzen der Revolution“ zu ziehen. Solche Grenzen erkennt sie in der industriellen Arbeitsteilung, die nicht nur — wie das sowjetische Beispiel zeigt — auch nach der Beseitigung des Kapitalismus fortbestehen, sondern auch die ganze Gesellschaft mit dem Keim des Despotismus infizieren würde. „So ist die Fabrik in zwei klar voneinander abgegrenzte Lager geteilt: in Ausführende, die eigentlich keinen aktiven Anteil nehmen, und in Befehlende, die nichts ausführen“ (p. 123). Hier hat Weil unstreitig eine Lücke des Marxismus entdeckt: die Notwendigkeit, neben dem Kapitalverhältnis auch die Fabrik- und Produktionshierarchien zu beseitigen — ein Gedanke, der heute von Autoren wie André Gorz und Karl Heinz Roth („Die ‚andere‘ Arbeiterbewegung“) propagiert wird.

Facharbeiter als Welterlöser

Es steht dabei weit mehr auf dem Spiel als die bloße „Humanisierung der Arbeitswelt“ — eine euphemistische Umschreibung für die Rationalisierungsoffensiven des Kapitals. Weil hebt hervor, wie eng die technisch-industrielle Arbeitsteilung mit der inneren Zusammensetzung des Proletariats auch dessen politische Schlagkraft und gesellschaftliche Rolle bestimmt. Sie erkennt — besser als sonst die Marxisten — durchaus auch die positiven Aspekte der industriellen Arbeit. „In unserer Technik sind Keime einer Arbeitsbefreiung enthalten“, schreibt Simone Weil. „Zweifellos nicht — im Gegensatz zum allgemeinen Glauben — dank der automatischen Maschinen ... (Diese) sind unlösbar mit einer äußerst zentralisierten Wirtschaftsorganisation verbunden und folglich sehr repressiv. Aber Werkzeugmaschinen anderer Art haben, besonders vor dem Krieg, vielleicht den schönsten Typus eines bewußten Arbeiters hervorgebracht, der je in der Geschichte erschienen ist: den Facharbeiter“ (p. 238).

Weil bemerkt, daß die Ersetzung des Facharbeiters durch angelernte Arbeiter im Zuge der Taylorisierung die proletarischen Kampforganisationen ihres harten Kerns beraubte. Karl Heinz Roth hat — wenn auch unter anderem Vorzeichen — die Konsequenzen dieses Vorgangs für die deutsche Arbeiterbewegung beschrieben. Für Roth ist der Facharbeiter der Träger des Reformismus in der Sozialdemokratie: Dank seiner relativen Unabhängigkeit durfte sich der Facharbeiter die graduelle, die „kalte“ Enteignung des Unternehmers erhoffen. Für ihn gilt die Parole: Wissen ist Macht!, denn sein Wissen sichert ihm die professionelle Unentbehrlichkeit. Weil selbst berührt diesen Komplex, indem sie schreibt: „Die Hoffnung der revolutionären Bewegung beruhte auf den Facharbeitern, die allein in der industriellen Arbeit Reflexion und Ausführung vereinten, ... allein das Gefühl entwickelten, eines Tages fähig zu sein, die Verantwortung für das gesamte ökonomische und politische Leben zu übernehmen“ (p. 134). Weil idealisiert posthum diese anachronistisch gewordene Position der Facharbeiter: darum die Zweideutigkeiten ihrer Revolutionstheorie, die sich im Grunde an den Maßstäben der Ersten Internationale orientiert.

Analog ihre Affinität zum utopischen Sozialismus, in dem die Handwerker des frühen 19. Jahrhunderts einen Damm gegen die drohende Proletarisierung errichteten. Im selben Geist postuliert Weil: „Die Handarbeit muß der höchste Wert sein, nicht wegen ihres Produktes, sondern um des produzierenden Menschen willen“ (p. 219). Weil läßt sich zu einem schiefen Gegensatz zwischen ökonomischer Ausbeutung des Arbeiters und der „Entfremdung“ seiner Arbeit verführen: „Die entscheidende Phase der Knechtung des Arbeiters findet nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt statt ... sondern wenn er, kaum durchs Fabriktor gelangt, sogleich vom Unternehmen ergriffen wird“ (p. 122). Warum gelangt denn der Arbeiter durchs Fabriktor? Marx erklärt die Eigenschaften der Fabrikarbeit gerade aus der Dynamik des „relativen Mehrwerts“, also aus dem Profitkalkül.

Ebenfalls an den utopischen Sozialismus erinnert Weils Theorie der Technokratie. Sie leitet den Antagonismus der Klassen aus den Funktionen der Arbeitsteilung ab: „Unterdrückung aufgrund der Funktion“ (p. 122). Marx behauptet das genaue Gegenteil: „Der Kapitalist ist nicht Kapitalist, weil er industrieller Leiter ist, sondern er wird industrieller Befehlshaber, weil er Kapitalist ist“ (Karl Marx, Das Kapital, 1. Band, Berlin 1969, p. 352). Andrerseits ist es das Verdienst Weils, scheinbar neutrale technische Funktionen — wie die „Koordination“ — als gesellschaftliches Machtverhältnis zu begreifen. Vor allem gibt sie eine ebenso scharfe wie originelle Kritik der sozialen Rolle der Wissenschaft.

„Ohne Zweifel ist die gegenwärtige Wissenschaft ausgezeichnet geeignet unserer zunehmend bürokratischen Gesellschaft als Theologie zu dienen“, schreibt Simone Weil 1933. „Der Sozialismus ist nicht einmal vorstellbar, solange die Wissenschaft nicht ihres Mysteriums entkleidet ist“ (p. 149). Weil nennt die Mathematik das „Refugium des eigentlichen Mysteriums“ (p. 150). Das ist gewiß kein Irrationalismus: Weil beruft sich auf Descartes und seinen Plan, durch eine rationale Methode alle Bereiche des Wissens allgemein zugänglich zu machen. Die Verwissenschaftlichung des Arbeitsprozesses — die sublimste Form, der kapitalistischen Vergesellschaftung — nimmt dem Arbeitenden die Kontrolle über seine Arbeit. Diese Entmachtung des Individuums ergreift alle Lebensbereiche. Weil konstatiert, „daß Zeichen, Wörter, algebraische Formeln im Bereich der Erkenntnis, Geld und Kreditsymbole im Wirtschaftsieben als Realitäten gelten, die wirklichen Dinge dagegen nur als ihr Schatten ... Das geschieht, weil die Zeichen die Materie der sozialen Beziehungen ausdrücken, während die Wahrnehmung der Wirklichkeit eine individuelle Angelegenheit ist“ (p. 227).

Darum bekämpft Weil auch die Illusion der vollständigen Automatisierung, mit der die menschliche Arbeit überflüssig würde. Ihre Opposition gegen die Technokratie hatte ganz unromantische Motive. „Eine Gruppe von Fließbandarbeitern, die ein Meister überwacht, ist ein trauriger Anblick“, schreibt Simone Weil 1934. „Dagegen ist schön mitanzusehen, wie einige Bauarbeiter, durch irgendeine Schwierigkeit aufgehalten, nachdenken, verschiedene Aktionsweisen vorschlagen, um dann einheitlich die Methode anzuwenden, die einer von ihnen entworfen hat, unabhängig davon, ob er eine offizielle Autorität ausübt oder nicht. In solchen Augenblikken erscheint das Bild einer freien Gesellschaft in fast makelloser Reinheit“ (p. 216).

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