Heft 7-8/2005
Dezember
2005

Ein Dokument kann das Gedächtnis nicht verändern

Die ArmenierInnenfrage ist sowohl ein historisches als auch ein aktuelles Problem

Wir sind im Jahre 1986. Wir, drei Anthropologen, forschen in einem alevitischen Dorf der Provinz Elazig. Wir unterhalten uns mit einer Gruppe von jungen DorfbewohnerInnen.

Die Spuren des Militärputsches vom 12. September sind immer noch frisch: Wer von den DorfbewohnerInnen wurde verhaftet, gefoltert, oder verurteilt; wie wurden die einzelnen DorfbewohnerInnen befragt und unterdrückt?

Im weiteren Verlauf des Gesprächs über diese Themen bringt ein junger Dorfbewohner die Rede auf eines der Nachbardörfer und sagt:„Wir wurden immer von ihnen denunziert. Aus diesem Dorf sind Leute mit der Gendarmerie zusammen in unser Dorf gekommen und haben die Leute unter uns, die sich mit Politik beschäftigt oder an den Aktionen teilgenommen hatten, einzeln mit dem Zeigefinger denunziert. Wegen diesen Leuten haben wir sehr gelitten.“

Darauf folgten über dieses Dorf die bemerkenswerten Sätze: „Unsere Eltern und Großeltern erzählen, dass dieses Dorf ursprünglich ein armenisches Dorf gewesen sei! Als während des ersten Weltkrieges all die Armenier diese Region verlassen mussten, hätten die Leute aus diesem Dorf nicht weggehen wollen. Deswegen seien sämtliche Dorfbewohner gemeinsam zum Islam übertreten. Sie hätten sogar den Namen des Dorfes abgeändert in ‚temizlenme’, was in etwa ‚Säuberung’ bedeutet und diesen Übertritt widerspiegeln soll. Sie seien dann, um diese Vergangenheit zu vergessen und vergessen zu lassen, zu radikalen Konservativnationalisten geworden. Vor 1980 stimmte das ganze Dorf für die MHP (Nationalistische Bewegungspartei). Aus diesem Grund hatten wir untereinander immer Probleme. Weil sie uns kannten, haben sie nach dem 12. September immer den Sicherheitskräften geholfen...“

Das Problem ist nicht ausserhalb, sondern in unseren Köpfen

Bei mir werden diese und ähnliche Erinnerungen wach, wenn ich die Auseinandersetzungen über die Behauptungen des Genozides an den ArmenierInnen in den Zeitungen und im Fernsehen verfolge. Das geschieht vor allem gegenüber den beharrlichen Vorschlägen, das Problem im Lichte der historischen Dokumente abklären und lösen zu wollen. Mich beschäftigt, wie unzureichend die historische Faktenlage angesichts des duellartigen Teufelkreises von Debatten über geheime und offizielle Dokumente gegenüber einem „anthropologischen Dokument“ ist, wie es das oben aufgezeigte darstellt.

Da das vorgebrachte Beispiel im Kontext einer ethnischen und ideologischen Konfrontation entstanden ist, kann es von einzelnen Leuten als unglaubwürdig betrachtet werden. Man kann sagen, dass es sich dabei um eine Verleumdung durch ein „linksgerichtetes“, „alevitisches“ Dorf gegenüber einem Nachbardorf handelt, zu dem es eine feindselige Beziehung hat. Wir geben in dem Fall ein anderes Beispiel: Dieses Mal sind wir Gast in einem sunnitischen Dorf in Elazig und unterhalten uns mit der Gastfamilie. Das Gespräch kommt auf eine beliebte Persönlichkeit des Dorfes. Es werden ihre Anständigkeit, Hilfsbereitschaft und Aufrichtigkeit erwähnt. Plötzlich sagt ein weibliches Mitglied der Familie, indem sie ihrer Stimme leicht senkt (sehr wahrscheinlich ohne selber gemerkt zu haben) das Folgende:

Sagen Sie es bitte nicht weiter, aber er ist ursprünglich ein Armenier. Demnach, als hier die Auseinandersetzungen begonnen hatten und die Armenier in Lebensgefahr gewesen sind, hat mein Großvater seinen Großvater und dessen Familie in seinem Haus versteckt. Nachdem die Ruhe zurückgekehrt ist, sind sie zum Islam übertreten und haben in diesem Dorf weitergelebt ...

All diese Beispiele verdeutlichen, dass die ArmenierInnenfrage zwar eigentlich ein historisches, aber gleichzeitig – und sogar eher – auch ein aktuell gelebtes „anthropologisches“ Problem und damit eines unserer Gegenwart und in unseren Köpfen darstellt! Darüber hinaus betrifft es nicht allein die ca. 50.000 ArmenierInnen, die in der Türkei leben, sondern ist ein viel breiteres Problem, das die gesamte Gesellschaft betrifft.

Es gibt natürlich auch schmerzhafte Erinnerungen, in denen TürkInnen als Opfer und von ArmenierInnen ungerecht Behandelte vorkommen, die den obigen, aus ethnographischen Forschungen resultierenden Beobachtungen gegenübergestellt werden können. Doch diese Erinnerungen sind in diesem Land nicht einzig in den privaten und vertrauten Atmosphären der Wohnungen zu hören, sondern von Zeit zu Zeit im Fernsehen, wo die Großväter und die Großmütter die Grausamkeiten der ArmenierInnen weinend erzählen. Die Beispiele aus den Dörfern der Provinz Elazig zeigen, dass diese Gesellschaft bezüglich ArmenierInnen neben lautstarken Tatsachenschilderungen auch (der offiziellen Geschichtsschreibung widersprechende) Dinge mit leiser Stimme und vorsichtig zu erzählen hat.

Die Glaubwürdigkeit der Geschichte

Es muss trotzdem zugegeben werden: Die Türkei hat in Bezug auf die ArmenierInnenfrage, die seit Jahrzehnten fast ganz ignoriert und tabuisiert wurde, in den letzten Tagen große Schritte gemacht. Die ArmenierInnenfrage ist nun auf dem Weg, ein dauerhaftes Traktandum auf der Tagesordnung der Türkei zu werden. Unterschiedliche Ansätze und entgegengesetzte Ansichten können ausgedrückt werden. Es kann aber nicht erwartet werden, dass sich Sensibilitäten, Reflexe und „klischeehafte“ Ansichten auf der Stelle verändern.

Eines dieser Klischees ist — wie oben erwähnt — die Ansicht, dass „das Problem von der Geschichte und von HistorikerInnen“ gelöst wird. Es gibt zwar AkademikerInnen, Intellektuelle und JournalistInnen, die diesen Ansatz in Frage stellen, und deren Anzahl nimmt auch zu. Aber diejenigen, die die Lösung des Problems allein von der Geschichtsschreibung erwarten, sind immer noch in der Mehrzahl.

Zusammenfassend kann man einerseits sagen: Wenn es um die Armenienfrage geht, sind fast alle sich im Umlauf befindlichen Dokumente offizielle, das heißt politische Dokumente, egal, von welcher Seite sie stammen. Aus diesem Grund ist der Vorschlag, das Problem aus der Zwickmühle der Politik herauszuholen und auf dem sicheren Boden der Geschichtswissenschaft zu thematisieren, nur leeres Gerede. Hier wird die Geschichte anstatt zu einer Lösung des Problems eher zu einer Stütze der Politik etabliert. Darüber hinaus darf auch nicht vergessen werden, dass Geschichte je nach der Haltung des/der HistorikerIn „glaubwürdig“ oder „makelhaft“ ist.

Andererseits ist es egal, was die GeschichtsschreiberInnen sagen — dies kann nie wirksamer sein, als das, was die Menschen überliefert bekommen haben. Dokumente können das Gedächtnis nicht verändern. Deswegen ist es unvermeidlich, dem Wissen der Menschen genau so viel Bedeutung beizumessen wie den Dokumenten.

Ergänzend dazu muss man drittens sagen, dass eine ins Leben zu rufende HistorikerInnenkommission, deren Ergebnisse ausschliesslich aus Auswertungen historischer Dokumenten stammen, nur auf einer Makroebene Lösungen anbieten kann, egal wie gültig dieses Ergebnis ist. „So viele Armenier sind infolge der Tötungen oder Vertreibung gestorben, aber es gab auch so viele Verluste auf der türkischen Seite“ oder „Es wurde eine Politik der ungerechten Behandlung der Armenier praktiziert, es gab aber einen Aufstand, der diese Politik unausweichlich gemacht hat“, sind Aussagen, die auf der „Mikroebene“ nicht besänftigend wirken können. Das heißt, dass das Problem bei den Menschen, die den Schmerz der Geschehnisse von ihren Ahnen übernommen haben ungelöst bleibt, egal ob sie TürkInnen sind oder ArmenierInnen, oder sie Innen (in der Türkei) oder Außen (in Armenien, in der Diaspora) sind. Darüber hinaus machen die „Tötungsstatistiken“, die das menschliche Leben in Zahlen umwandeln (so viele ArmenierInnen gegen so viele TürkInnen), das Problem komplizierter, indem sie ihm noch eine ethische Dimension hinzufügen.

Von „unseren ArmenierInnen“ zu „wir ArmenierInnen“

Wenn wir die ArmenierInnenfrage, oder das, was die ArmenierInnen erlebt haben, thematisieren, ist es das Wichtigste, sich zu fragen, wo wir jetzt, das heißt in der Gegenwart, gefühlsmäßig und bewußtseinsmäßig stehen. Wenn wir darüber nachdenken und davon ausgehend eine praxisorientierte Politik entwickeln können, können wir eine Lösung finden. Ich versuche nun mit einem Beispiel das Gesagte zu konkretisieren: In den seit Tagen andauernden Auseinandersetzungen hören wir vor allem von den Leuten, die die „türkische These“ verteidigen, oft Sätze, in denen „unsere armenischen MitbürgerInnen“ vorkommen. Da sind Sätze wie Folgende: „Ich sage, ausnehmend unsere armenischen Mitbürger...“, „All das, was geschieht, hat mit unseren armenischen Mitbürgern nichts zu tun“; „Man muss sich bei der Erörterung des Themas Mühe geben, die Verhaltensweisen zu vermeiden, die unsere armenischen Staatsbürger beleidigen würden“.

Vielleicht ist es aufgrund des zur Diskussion stehenden Themas unausweichlich, diese Formulierung zu benutzen, um auf eine Gruppe Menschen, die Teil der türkischen Gesellschaft sind, Bezug zu nehmen. Und eventuell ist diese Aussage nur definierend und beinhaltet keine bösen Absichten. Ich denke aber trotzdem, dass diese Aussage kritisch analysiert werden muss. Die Aussage „unsere armenischen MitbürgerInnen“ weist sowohl auf eine Situation der „Besitznahme“ als auch auf eine des „Andersseins“ hin, beinhaltet aber keine „Identifizierung“. Was dies für eineN ArmenierIn bedeutet, wird verständlich, wenn man an die Aussage „unsere türkischen MitbürgerInnen“ denkt. Sagen wir überhaupt „türkische MitbürgerInnen“, wenn wir von einem Teil der in der Türkei lebenden Menschen sprechen? Es ist eigentlich nicht nötig, auf die Eigenartigkeit und die Absurdität einer solchen Aussage hinzuweisen. Weil es in der Türkei keine kategorischen „türkischen MitbürgerInnen“ geben kann, wie es bei „armenischen MitbürgerInnen“ der Fall ist. Der/die Türke/in ist an und für sich (aus sich selbst heraus) MitbürgerIn! Er ist Bestandteil, „Baustein“ der Bürgerschaft. Infolgedessen besteht dieses Land aus „wir“ TürkInnen.
Aus diesem Grund setzt die Aussage „unsere armenischen MitbürgerInnen“ die in der Türkei lebenden ArmenierInnen auf einer Seite der Besitznahme von ‚uns’ TürkInnen aus, und weist auf der anderen Seite auf ihr „Anderssein“ hin. Das heißt, dass die ArmenierInnen (wir können es um KurdInnen, TscherkessInnen, Sinti und Roma, AraberInnen, GeorgierInnen erweitern) ‚unsere’ sind; sie gehören ‚uns’. sie sind aber gleichzeitig, ‚vom Wesen her’, nicht Teil von ‚uns’.

Der 24. April als offizieller Gedenktag in der Türkei!

Letztlich ist es unmöglich, Fortschritte im eigentlichen Sinne des Wortes zu machen, solange wir nicht von der Wahrnehmung, „wir haben diese Menschen“ zur Wahrnehmung „wir sind diese Menschen“ übergehen können. Wenn wir aber von der Idee und dem Gefühl „wir sind diese Menschen“ ausgehen würden, hätten wir ein anderes Bild vor uns: In diesem Land haben nicht die ArmenierInnen und TürkInnen einander getötet. In diesem Land haben ‚unsere Menschen’ einander getötet. Es ist klar, dass es Gründe dafür gegeben hat. Im Endeffekt wurde großer Schmerz erlebt, und dieser Schmerz gehört nicht den TürkInnen oder ArmenierInnen, sondern ‚uns’ allen.

Daher führt der Weg zur Lösung über die Öffnung der Dokumente, aber vor allem über die Öffnung der Gedächtnisse, zum Interesse und zur Diskussion. Wir sollten aus diesem Grund den 24. April, an dem im Jahre 1915 die ersten Festnahmen von ArmenierInnen begonnen haben, als Beginn der Ereignisse akzeptieren und dazu selber Gedenkveranstaltungen im Land organisieren, anstatt gegen das Gedenken außerhalb der Türkei zu protestieren oder uns Gedanken über dessen Verhinderungsmöglichkeiten zu machen! Wir müssen es nicht unbedingt unter dem Namen Genozid machen. Aber wir können dieses schmerzlichsten Ereignisses der jüngeren Geschichte unseres Landes gedenken, indem wir die Tatsache ehrlich verinnerlichen, dass alle Verluste ‚unsere’ Verluste waren, und indem wir den Schmerz als ein ‚ganzes’ Land spüren. Was wir alles tun müssen ist nichts anderes, als das ehrlich zu sagen und mit den anderen zu teilen, was wir in unserem Dorf, in unserer Stadt, in den Zimmern unserer Häuser, hinter den geschlossenen Türen, in Zusammenkünften mit unseren FreundInnen sprechen und was wir spüren.
Wir müssen diesen Mut zeigen. Wir müssen dies so gestalten, dass wir auch die Menschen aus Armenien und der Diaspora einladen. Könnte man sich dabei nicht auch so reif und menschlich verhalten, wie man sich in Canakkale [1] gegenüber den Anzac [2] verhält? Das ist vielleicht ein schwieriges Unterfangen, aber wer kann sagen, dass es unmöglich ist? Wir dürfen nicht vergessen, dass das, was in den letzten Tagen gesprochen wird, uns allen vor ein paar Jahren unmöglich schien. Wir sehen nun, indem wir es selber erleben, dass es nicht so sein muss.

Außerdem ist die Verankerung dieser unglücklichen Seite unserer Vergangenheit im Gedächtnis eine Warnung davor, dass man den gleichen Fehler wiederholt und denselben Schmerz nochmals erzeugen und aushalten muss. So eine Erinnerung brauchen wir für immer. Vor allem in diesen Tagen, wo die Wirkung der Ereignisse von Trabzon [3] und Sakarya [4] noch aktuell ist.

Dieser Artikel erschien erstmals in der sozialistischen Monatszeitschrift Birikim, Nummer 193/194 (Mai/Juni 2005). Birikim erscheint seit Mitte der 70er Jahre in Istanbul.

[1Gallipoli; Schauplatz der „Dardanellenschlacht“ zwischen den türkischen Truppen und englischen Truppen. In Reihen der englischen Truppen kämpften auch die Anzac. (Siehe Fussnote 2)

[2Abkürzung von „Australian New Zealand Army Corps“, die in dieser Schlacht viele Verluste hinnehmen mussten. Heute besuchen Nachfahren dieses Corps, die als Anzacs bezeichnet werden, alljährlich die Schlachtplätze in der Umgebung des heutigen Canakkale.

[3In Trabzon fanden im Sommer 2005 Lynchversuche gegenüber MenschenrechtsvertreterInnen, die Flugblätter verteilten, statt.

[4Im letzten Sommer wurden hier Leute, die von einer Demonstration gegen die Haftbedingungen des inhaftierten Kurdenführers Abdullah Öcalan zurückkehrten, angegriffen. Die Polizei ließ die AngreiferInnen gewähren.

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