Internationale Situationniste, Numéro 11
 
1977

Ein Moralist

Janover, der ehemalige Direktor von Front Noir und jetzt anscheinend der einzige Verfasser der ersten Nummer der Cahiers de Front Noir, ist ein Moralist und wäre es nur deswegen, weil er bei Rubel die berühmte „ethische“ Erklärung von Marx Werk aufgenommen hat — eines von den vielen Prinzipien der Pseudo-Vereinheitlichung, die für den von den modernen Staaten gut bezahlten Job eines Marxologen jedem nützlich ist, der unfähig ist, das dialektische Denken zu verstehen. Stirner hatte wohl recht, als er schrieb, dass alle Moralisten im Bett der Religion geschlafen haben: so erinnert z.B. Janovers behauptete Moral, trotz seines kurzen Lobs auf den „dionysischen Traum“ des utopischen Sozialismus, viel mehr an die eines Spielverderbers als an Fouriers Lehre: „Jede Form der Wechselbeziehung in der Liebe, soweit sie von sexuellen Beziehungen, die auf tierischer Befriedigung bzw. der Notwendigkeit der Fortpflanzung beruhen, entfernt ist, kann von der sexuellen Treue nicht getrennt werden. Jede geistige, moralische bzw. affektive Verwandtschaft wird von der Untreue beseitigt, da sie voraussetzt, dass das gegenseitige Vertrauen und die Liebe nicht kräftig genug geworden sind, um eine dem sexuellen Trieb des Tieres überlegene Bindung entstehen zu lassen.“ (S. 30).

Dieser rechtschaffene Moralist, der sogar bei jedem Flickwerk als ausschließlicher Bewahrer der revolutionären Wahrheit auftritt — wobei ihm alles, was mit seiner eigenen Bedeutungslosigkeit nichts zu tun hat, nur Strebertum zu sein scheint — ist durch die Notiz verärgert worden, mit der wir uns mit ihm in S.I. Nr. 10 (Die Reservearmee des Spektakels) beschäftigen. Er antwortet zwar nicht auf diesen genauen — und tatsächlich wenig bestreitbaren — Artikel, er ist aber etwas weiter gekommen: jetzt nennt er die S.I., wenn er sie angreift, und er zitiert uns direkt. Wir möchten hier betonen, dass Janover für uns nicht einmal deswegen in Misskredit geraten ist, weil die Verschleierung der Tatsachen, über die man spricht, und die Fälschung „unmoralisch“ sind, sondern weil sie sich grundsätzlich mit den Methoden und Zielen einer Revolution nicht vereinbaren lassen, die die Ideologie und die Klassen abschaffen soll. Janovers Moralismus ist jedoch angenehm aus seiner Art und Weise zu zitieren herauszulesen. Er hat die recht seltenen Sätze herausgesucht, in denen Situationisten einige Begriffe der alten (trotzkistischen) Ultra-Linken noch unkritisch gebraucht haben — und dies bei Randpunkten der „kulturellen“ Texte, aus denen diese Sätze entnommen wurden. Unserer Meinung nach entgeht es niemandem, dass die theoretischen Forschungen der S.I. sich zum Glück in einer Bewegung entwickelt haben, die sich durch Verbesserung mancher ihrer ersten Voraussetzungen vertieft und vereinheitlicht hat — das haben wir u.a. in S.I. Nr. 9, S. 85/86 geschrieben. Wie von ungefähr stammen alle Zitate Janovers aus der ersten Nummer der S.I. und zwar besonders aus einem Text, den einer von uns noch vor der Gründung der S.I. geschrieben hat — in diesem Fall also sind sie schon zehn Jahre alt. Aber der redliche Janover wollte glauben lassen, dass wir aus Opportunismus und auf der ganzen Linie, je nach Mode und von einem Tag auf den anderen zwischen unvereinbaren Positionen hin- und herschwanken.

Wie geht er aber vor, um die wirkliche Entwicklung unserer theoretischen Arbeit verschwinden zu lassen, die doch schon bestimmte, spürbare Veränderungen der intellektuellen Mode bewirkt und die er der Mühe wert gehalten hat, sie selbst zu gebrauchen (denn er liest wohl nicht nur Rubel)? Seine Methode ist einfach und direkt. Um zu zeigen, wie die S.I. „in der Hoffnung darauf, hinters Licht zu führen“, über eine Art perfekten bürokratischen Trotzkismus zu ihren jetzigen Positionen gesprungen ist, führt er seine kleine Folge undatierter, aber ein Jahrzehnt alter Zitate einfach mit folgenden Worten ein: „wie gestern noch gesagt wurde“ (S. 75). Dieses „gestern noch“ ist das wahre Wunder dieser Art Moralismus, dem Janovers Ruf bestimmt für immer nur monogamisch treu bleiben kann — ohne „Hoffnung, hinters Licht zu führen“.

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