FORVM, No. 195/II
März
1970

Elektronische Massage

Marshall McLuhan: „Die magischen Kanäle“, Econ, Düsseldorf 1968, „The Gutenberg Galaxy“, University of Toronto.

1. Inhalt, der nach McLuhan eigentlich unwesentlich sein müßte

Der „Medienforscher“ sieht die Kommunikationsmedien als nach außen projizierte Kräfte und Fähigkeiten, die das ganze Leben, die ganze Sinnesorganisation der Menschen entscheidend mitbestimmen oder sogar hervorbringen, ohne daß sie es gewahr werden.

Da sich diese Wirkung dem Bewußtsein entzieht, also nicht reflektiert wird, bekommt sie „magische“ Züge. Das phonetische Alphabet (im Gegensatz zum ideographischen) schuf, insbesondere seit es von Gutenberg „auf Hochtouren gebracht“ (378) wurde, einen kollektiven Bewußtseinszustand, der sich selbst verabsolutierte und seine raumzeitliche Abhängigkeit nicht durchschaute.

„Das phonetisch geschriebene Wort opfert Welten von Bedeutungs- und Wahrnehmungsinhalten, die in Schriftformen wie des der [sic] Hieroglyphen und des des [sic] chinesischen Ideogramms gesichert waren. Diese kulturell volleren Schriftformen gaben dem Menschen nicht die Möglichkeit eines raschen Übergangs von der magischen diskontinuierlichen und traditionsgebundenen Welt des Wortes in der Stammesgemeinschaft zum leidenschaftslosen visuellen Medium“ (93). „Als eine Intensivierung und Ausweitung der Funktion des Visuellen läßt das phonetische Alphabet die anderen Sinne, den Gehörsinn, den Tastsinn und den Geschmacksinn, in jeder alphabetischen Gesellschaft an Bedeutung verlieren.“

Dagegen ist das „Ideogramm eine ganzheitliche Gestalt, nicht eine anaIytische Scheidung der Sinne und Funktionen, wie es die phonetische Schreibweise ist“ (94). „Diese Gegebenheit hat mit dem Inhalt der alphabetisch wiedergegebenen Wörter nichts zu tun“ (93). Das will heißen, daß unser Bewußtseinszustand von der Drucktechnik und nicht von gedruckten Ideen hervorgebracht wurde.

Mit dem phonetischen Alphabet werden in Zusammenhang gebracht: die euklidische Geometrie (parallele Zeilen als Stürze des Parallelenaxioms), der stetige dreidimensionale Raum, die Römerstraßen, die kausalen Denkketten. Die Welt wird flach, optisch manipulierbar; der sakrale Stammeszusammenhalt geht verloren, das Verwobensein aller Sinne untereinander und mit dem Universum löst sich auf, Menschen können ins Privatleben hinaustreten, sich spezialisieren. Mit der Technologie Gutenbergs wird dieser Vorgang universal.

„A fixed point of view becomes possible with print and ends the image as a plastic organism.“ Aus den nun streng gesetzten Zeilen steigen die kausalen Gebilde der Philosophen. Die Infinitesimalrechnung benützt die gerade Linie, gleichsam zerhackt in regelmäßige kleine Stücke, zur Ausmessung des Gekrümmten. Die Mechanik, die Maschinenwelt, die Fließbänder, all das, was den erstaunlichen Aufstieg der Europäer ermöglichte: Folgen der gedruckten Zeile. Doch müssen die Kosten dafür bezahlt werden: der Organismus leidet unter der Betonung und Herauslösung eines einzigen Sinns.

Diabolus ex machina: „The printmade split between head and heart is the trauma which affects Europa from Machiavelli till the present.“ Was aber die Gutenberg-Technologie zerrissen hat, wird eine andere Technologie heilen: die Elektronik. Die „Explosion“, das Heraustreten aus dem Stammes- und Weltzusammenhang, wird rückgängig gemacht durch die „Implosion“ der Elektronik, die nicht einen isolierten Sinn hinausprojiziert und verdinglicht, sondern unser gesamtes „Zentralnervensystem zu einem weltumfassenden Gewebe ausweitet“ (160).

„Unser Zentralnervensystem ist ein totales Gesamtfeld ohne jede Unterteilung“, daher werden durch seine „Exteriorization“ mittels der elektronischen Medien die oralen, auditiven und taktilen Sinnestätigkeiten wieder mit den visuellen verknüpft, Raum und Zeit durchdringen „einander vollkommen in einer Raum-Zeit-Welt“, „jeder Gegenstand und jede Gruppe von Gegenständen erzeugt einen einmaligen eigenen Raum“, durch die instantane Gegenwart aller Informationen fallen die urbanen Zentren weg, es entsteht ein „globales Dorf“ mit einem umfassenden Stammesbewußtsein, und so wie die Menschen früher nomadische Nahrungssammler waren, werden sie jetzt, auf einer anderen Ebene, zu „nomadischen Informationssammlern“ (388), die eine völlig neue, endlich wieder umfassende Sinnesorganisation ausbilden, die sich in der Kunst (man denke an Joyce) längst angekündigt hat. Dabei ist es auch hier wieder gleichgültig, was die Medien übermitteln, da allein die Form, in der es geschieht, eine neue Sinnesorganisation sozusagen automatisch herstellt. „The medium is the message“, oder, an Joyce anknüpfend, mit einem zynischen Wortspiel „The medium ist the massage“.

2. Zuammenhang, in den das Denksystem McLuhans gebracht werden kann, wenn man vom speziellen Inhalt absieht

Populär ausgedrückt: Wir kommen dem Geist auf die Schliche. Wenn man von Rangfragen einmal absehen will, wird man feststellen, daß dieses Prinzip vielen modernen Denkrichtungen zugrunde liegt. So ertappt zum Beispiel Marx den Geist beim Falschspielen und zeigt, daß seine „allgemeinen“ Kategorien spezielle, fast möchte man sagen Darwinsche Evolutionsprodukte sind, „Überbau“ bestimmter materieller Verhältnisse und Zwänge, Freud dagegen überführt den Geist der Blindheit und zeigt, daß er nur einen dünnen Bewußtseinshauch auf dem Meer eines Unbewußten darstellt, in dem physische Kräfte ungestört schalten. McLuhan (die Frage des Ranges sei noch einmal ausdrücklich zurückgestellt, obgleich McLuhan in Amerika mit Freud, ja sogar mit Einstein verglichen wurde) will zeigen, daß nicht der Geist die Technologien, sondern, umgekehrt, die Technologien den Geist hervorbringen. Gemeinsam ist diesen Denkrichtungen der Affekt gegen den Geisteshochmut, gegen die Abstraktion vom Materiellen, Physischen, Historischen (die vorgeht, als sei das menschliche Bewußtsein vom Anfang bis zum Ende der Zeiten durch das ganze Universum ausgespannt); gemeinsam ist ihnen ferner das leidenschaftliche Überführen und Zurückführen aller pathologischen Züge auf eine Wurzel des Übels (Sublimation des Teufels) und der daraus resultierende Erlösungsgedanke. Es handelt sich gleichsam um negative, antithetische Religionen.

3. Kritik des Inhalts, der nach McLuhan nicht die eigentliche Wirkung des Buches ausmacht

„The Gutenberg Galaxy developes a mosaic or field approach ...“ Es ist klar, daß ein Mosaik, wenn man viele Zitate hat, die bequemste Möglichkeit bietet, mit ihnen einen gewissen Eindruck zu machen. Dabei arbeitet McLuhan nicht wissenschaftlich im Sinne verifizierbarer Zusammenhänge (siehe die Kritik Jean Amérys in „Der Spiegel“, Nummer 13/68), sondern in der Art modernen poetischen Assoziierens. Die Dinge nebeneinander, offenbar zusammenhängend, auch voneinander abhängig, doch ohne lineare Kausalkette. Ein Geflecht, das überdies den modernen Systemen des Strukturalismus und der Kybernetik sich anzupassen scheint. Es ist unmöglich, damit etwas zu beweisen, doch man kann vieles suggerieren; ja es ist sogar die beste Möglichkeit, etwas zu suggerieren.

Ist es aber erlaubt, diesem Mosaik eine einzige Kausalbeziehung zugrunde zu legen? Eine strenge Auffassung des Strukturalismus gestattet dies keineswegs. Wenn das diskursive Denken von der gedruckten Zeile abhängt (was sehr plausibel ist), so ist damit noch nicht gesagt, daß die gedruckte Zeile das diskursive Denken im Sinn eines einseitigen oder auch nur übergewichtigen Kausalitätsdrucks hervorbringt. Alle Beziehungen, die McLuhan herstellt (einige sind verblüffend neu gesehen, andere erscheinen abstrus), könnten bestehen, ohne seine Grundthese zu beweisen, daß die Technologien causa prima sind. Dies ist vielmehr eine metaphysische Behauptung, ein Glaube oder ein Aberglaube.

Sucht man die eigentliche Ursache einer Entwicklung in einer Technologie, so kann man konsequenterweise auch die Erlösung in einer Technologie suchen. In dieser Hinsicht mag die Bemerkung von Bedeutung sein, daß es bisher ein jede Art von Aberglauben oder Magie kennzeichnendes Streben war, die Erlösung mit Hilfe technischer Mittel herbeizuführen.

Was nun den Satz betrifft: „The medium is the message (massage), so ist er offenbar mit Künstleraffekt gegen die erdrückende Übermacht derer gerichtet, denen Formen nur im Sexuellen bewußt werden. Daß der Eindruck der elektronischen Medien auf die Sinnesorganisation übersehen wird und von den Diskussionen über Inhalt und Niveau gewisser Sendungen unabhängig ist, daß es für die allgemeine Wirkung des Berieselungsprozesses irrelevant ist, wieviel Prozent sogenannter ernster Musik, Philosophie, Lebensweisheit usw. mit sogenanntem Verantwortungsgefühl hineingemischt werden, besagt nicht, daß der gesamte Stil und Ton der Mixtur, was als Summe auf Kosten des unter den Tisch Gefallenen schließlich herauskommt, nicht ebenfalls eine Wirkung ausübt. Das unermüdliche Vorzeigen bewußt und unbewußt ausgewählter Dinge und Sachverhalte impliziert die Unterschlagung anderer Zusammenhänge und wirkt auf das Bewußtsein genauso nach Art einer Dressur, wie die Form der Medien auf die Sinnesorganisation einwirkt. Die Form dieser Organisation ist nicht alleinseligmachend.

Es ist zwar zutreffend, daß sich die Zeitung von einem mehr oder weniger buchähnlichen Zustand (der alten liberalen oder tendenziösen Presse) zu einem verfilzten, mosaikartigen Gebilde entwickelt hat, das den Zustand der Gesellschaft nicht analysiert, sondern spiegelt, doch kann man aus der Tatsache, daß der alte „Inhalt“ (das lineare, diskursive, kritische Denken) sich verflüchtigt hat, nicht darauf schließen, daß nun das ganze Problem des Inhalts verschwunden wäre. Eine Zeitung ist keine künstlerische Form. Ein heutiger Zeitungsartikel, selbst ein Leitartikel, hat zwar im allgemeinen, auch wenn sein Verfasser das glaubt, keinen „Inhalt“ in dem Sinn, daß relevantes Denken vorkäme, doch er hat einen, wenn man so sagen kann, „Umhalt“ oder Zusammenhalt im Sinn der Reklamewelt, das heißt, er läßt verschiedenes aufkommen, propagiert gewisse Zusammenhänge und schließt andere aus, ist zwar vulgär, aber doch streng exklusiv.

Da McLuhan den ideolögischen Aspekt der Massenmedien wegdiskutiert, muß er es sich gefallenlassen, selbst der Ideologie bezichtigt zu werden. So schreibt Jean-Marie Benoist („La nébuleuse McLuhan“, La Quinzaine littéraire Numéro 43, janvier 1968), vielleicht der Mahnung Sartres eingedenk, daß der Strukturalismus das letzte Versteckenspiel der Bürgerwelt sei: „Le discours idéologique de McLuhan rassure la société capitaliste sur elle même: elle fait joyeusement coincider l’idee de nature humaine et l’image que l’homme occidental a de lui-même.“ So mißgünstig betrachtet, erscheint das System McLuhans gleichsam als ein Freispruch des Amerikanismus und besagt: der Inhalt der Politik, so unerfreulich er sein mag, ist gleichgültig, da letzten Endes die Rettung auf magische Weise durch die in Amerika zu ihrer höchsten Reife gediehene Elektronik erfolgen wird.

Daß die Bücher McLuhans eine solche Interpretation zulassen, ist bedauerlich, weil das Thema der Veränderung der Sinnesorganisation durch die neuen Medien von großer Aktualität ist und McLuhan viele interessante Zusammenhänge aufdeckt.

Allgemeine Anmerkung: Die englischen Zitate entstammen dem Buch „The Gutenberg Galaxy“, die deutschen dem Econ-Buch „Die magischen Kanäle“, die eingeklammerten Zahlen geben die Seiten an.

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