Heft 2/2002
Mai
2002

Fahnenflucht in die Krankheit?

Die Militärpsychiatrie und die Behandlung der „Kriegsneurotiker“ in den beiden Weltkriegen

Der erste Weltkrieg bedeutete den massiven Einbruch des Maschinenzeitalters in die Kriegsführung. Millionen Soldaten waren einer bis dahin ungekannten Zerstörungskraft der neuen Maschinenwaffen, Granaten und Giftgase ausgesetzt.

Die Folgen blieben nicht aus: schon in den ersten Kriegsmonaten kam es massenhaft zu rätselhaften Nervenzusammenbrüchen und unerklärlichen körperlichen Symptomen, die sich wie eine Epidemie an allen Fronten ausbreiteten. Die Reaktion der österreichischen und deutschen Psychiater war eindeutig: Ohne zu zögern stellten sie sich in den Dienst der Kriegsführung und entwickelten brutale Therapieverfahren, um den erkrankten Soldaten die “Flucht in die Krankheit” abzuschneiden. Die Psychoanalytiker verrieten das kritische Potenzial ihrer Theorie und leisteten ebenfalls ihren Beitrag zur therapeutischen Stabilisierung der Front.

Die Prävention psychischer Zusammenbrüche in der Wehrmacht war Teil der medizinischen Vorbereitungen zum Zweiten Weltkrieg. Daher traten die klassischen Kriegsneurosen erst relativ spät neuerlich auf. Die Behandlungsmethoden unterschieden sich nur oberflächlich von den aus dem Ersten Weltkrieg bekannten: Eine Kombination aus elektrischen Folterungen, militärischem Drill und verschiedenen Suggestivtechniken. Neu war die Verschärfung für “Unheilbare”: ihnen drohte die Überstellung ins KZ.

1914-1918

Die Symptome waren so vielgestaltig wie die Schrecken des Krieges, die den Soldaten buchstäblich “in die Glieder gefahren und dort steckengeblieben waren” (Karl Heinz Roth): Lähmungen einzelner oder mehrerer Gliedmaßen, nervöse Zuckungen oder ständiges Zittern, Taubheit, Blindheit, Stimmverlust oder auch vollständige psychische Zusammenbrüche. Gemeinsam war den Symptomen, dass sie sich auf keine organische Ursache zurückführen ließen und sie somit ein zentrales Paradigma der Neuropsychiatrie in Frage stellten.

Die Neuropsychiater reagierten mit der Durchsetzung eines neuen Modells: der Psychopathie. Die Symptome wurden zwar als psychisch verursacht anerkannt, doch als Voraussetzung wurde eine minderwertige Anlage des betreffenden Soldaten angenommen. Ein vollwertiger Mann hatte den Krieg psychisch unbeschadet zu ertragen. Wer tagelange Verschüttung oder eine Granatexplosion in unmittelbarer Nähe unverletzt überlebte, jedoch traumatische Symptome entwickelte, stand in den Augen der militärischen Hierarchie beinahe auf der gleichen Stufe wie ein Simulant oder gar ein Deserteur. In dem Krieg gegen die neurotischen Symptome, den die Psychiater nun aufnahmen, war fast jedes Mittel recht. Ein Verfahren setzte sich jedoch alsbald als besonders effektiv und vielseitig durch: die Anwendung von Stromstößen (“Faradisation”) an den betroffenen Körperteilen, die unter dem Namen “Kaufmann-Kur” traurige Berühmtheit erlangte.

Der Psychoanalyse als junger Außenseiterdisziplin bot sich eine einzigartige Gelegenheit zur Profilierung gegenüber den Neuropsychiatern, schließlich stellte die Neurosenlehre einen der Grundpfeiler von Freuds Theorie dar. Sandor Ferenczi unterschied 1916 zwei Formen der Kriegsneurose: in der Konversionshysterie sah er die Fixierung eines traumatischen Erlebnisses in körperlichen Symptomen, während er die Angstneurose als Ausdruck eines unbewussten Konfliktes zwischen Todesangst und Pflichtbewusstsein interpretierte. Jeder politische Zusammenhang blieb dabei ausgespart. Ein weiterer prominenter Analytiker, Ernst Simmel, konzentrierte sich auf die Therapie. Er verzichtete auf jegliche Differenzierung und entwickelte eine Methode der “Schnellheilung”, die ohne langwierige analytische Behandlung auskam. Stattdessen griff er auf eine Methode der frühen Psychoanalyse zurück, die Hypnose, und kombinierte sie mit militärischem Drill.

Das uneingeschränkte Bekenntnis der Analytiker zur Priorität der “Schnellheilung” und damit der Kriegsführung kam auch auf dem 5. Internationalen Psychoanalytischen Kongress im September 1918 in Budapest zum Ausdruck, der die “Kriegsneurotikerfrage” zum Hauptthema hatte. Die dort geäußerten Vorschläge waren zwar mit der Brutalität der psychiatrischen Methoden nicht zu vergleichen und sollten in diesem Krieg auch nicht mehr zum Tragen kommen. Dennoch existiert eine gewisse unheilvolle Kontinuität zur späteren “Neuen Deutschen Seelenheilkunde” des Dritten Reiches und deren therapeutischen Selektionsverfahren im Interesse der NS-Kriegsführung.

In Wien standen sich nach dem Krieg zwei prominente Mediziner in der Frage der Kriegsneurotikerbehandlung gegenüber: Sigmund Freund und Julius von Wagner-Jauregg. Die Auseinandersetzung um die “elektrische Folter” erkrankter Frontsoldaten hatte derart hohe Wellen geschlagen, dass sich Wagner-Jauregg als Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie vor der “Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen” verantworten musste. Freud erstattete ein Gutachten, indem er Wagner-Jauregg zwar nicht direkt angriff, die Methoden der Militärpsychiater aber einer scharfen Kritik unterzog. Wenig später sollte er den treffenden Ausdruck “Maschinengewehre hinter der Front” für die deutschen Militärpsychiater prägen.

1939-1945

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges blieben die klassischen Kriegsneurosen zunächst aus. Dabei war die Wehrmacht ungleich besser vorbereitet als die Armee im Jahr 1914. Ein umfangreiches System von Wehrmachtspsychiatern und frontnahen Lazaretten sollte dafür sorgen, dass die “Psychopathen” möglichst schnell erkannt und isoliert würden, bevor sie zu einer Gefahr für die Kampfdisziplin der Truppe werden konnten. Doch anstelle der bekannten (und gefürchteten) Symptome aus dem Ersten Weltkrieg traten gänzlich unerwartete neue Reaktionen auf, die die Vorkehrungen der deutschen Militärpsychiatrie gleichsam unterliefen: Magengeschwüre, Herz-und Kreislaufstörungen, Kopfschmerzen und andere psychosomatische Beschwerden.

Erst im Laufe des Russlandfeldzuges und der zunehmend schwierigeren Lage der deutschen Truppen traten die klassischen Kriegsneurosen wieder gehäuft auf. Das Reservelazarett Ensen in der Nähe von Köln entwickelte sich unter der Führung des Psychiaters Friedrich Panse zu einem regelrechten Versuchslabor, wo die altbewährten Abschreckungstechniken aus dem Ersten Weltkrieg weiterentwickelt wurden. Die Folterung mittels elektrischen Stromes zur Wiederherstellung des “Wehrwillens” (bzw. zur Brechung des “Willens zur Krankheit”) stand wiederum im Mittelpunkt. Eine modifizierte Variante des “Kaufmann-Verfahrens” sollte als “Pansen” in die Geschichte eingehen.

Doch zunächst trafen die Neuropsychiater auf Widerstände. Einerseits war die von ihnen propagierte Methode so schmerzhaft, dass das Oberkommando der Wehrmacht die Behandlung nicht ohne Einwilligung der betroffenen Soldaten gestattete. Andererseits erwuchsen den Neuropsychiatern in den Psychotherapeuten rund um das Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie mächtige Konkurrenten. Leiter des Institutes war niemand geringerer als Matthias Heinrich Göring, der Neffe Hermann Görings. Das Institut stand für den Einsatz subtilerer Therapiemethoden, wie sie vor allem gegenüber den Angehörigen der hochtechnisierten neuen Waffengattungen wie der Luftwaffe angezeigt schienen (als Beispiel sei nur das autogene Training erwähnt, das von einem Kollegen Görings als Entspannungstechnik für nervöse Kampfpiloten entwickelt wurde). Dank ihrer hervorragenden Kontakte zur NS-Führung gelang es den Psychotherapeuten, zunächst eine differenzierte Vorgehensweise in der “Kriegsneurotikerfrage” durchzusetzen. Psychisch erschöpften Soldaten sollte zuerst Gelegenheit gegeben werden, sich in frontnahen Lazaretten zu erholen. War nach einigen Wochen keine Heilung zu erzielen, so unterschieden die Militärpsychiater zwei Möglichkeiten. Entweder handelte es sich um die Fixierung eines unbewussten Wunsches (im Sinne einer Konversionsneurose), oder um den Ausdruck einer “anlagebedingten Minderwertigkeit” der Persönlichkeit. Im ersten Fall kamen verschiedene psychotherapeutische Verfahren zur Anwendung. Die zweite Diagnose hingegen stellte eine erhebliche Gefahr für die Patienten dar, da sie dadurch den brutalen Methoden der Neuropsychiater ausgesetzt wurden. Im schlimmsten Fall drohte die Versetzung zu einem der gefürchteten Feldsonderbataillone oder die Einweisung ins Konzentrationslager.

Ende 1942 geriet diese Regelung ins Wanken. Der Kriegsverlauf an der Ostfront führte zu einem massiven Ansteigen psychischer Zusammenbrüche mit teilweise ähnlichen Symptomen wie bereits im Ersten Weltkrieg. Zumindest beim Heer setzte sich die Methode von Friedrich Panse nunmehr endgültig gegen die “weicheren” Therapieverfahren durch. Auf einer Tagung der “Beratenden Ärzte” des Militärs im Mai 1943 brüstete er sich damit, dass seine Methode bei 500 Behandlungen nur in einem Fall versagt hätte.

Auch in Wien wurden “Kriegsneurotiker” mit elektrischem Strom behandelt. Im Jahr 1944 erschien ein Sammelband über Wehrmedizin, herausgegeben vom Wiener Wehrkreisarzt Dr. A. Zimmer. Darin findet sich ein Beitrag von Oberstabsarzt Dr. Ernst Gabriel “Zur Behandlung einiger funktioneller Störungen”, wo 24 Fälle, vermutlich aus dem Reservelazarett in der Nervenheilanstalt Rosenhügel, geschildert werden: “Schütze A. W., 24 Jahre alt, durch Granateinschlag am 26. 10. 41 in unmittelbarer Nähe, teilweise durch Erde verschüttet (war ausgegraben worden); als Schreckreaktion Sprach- und Gehörverlust. Wehrte sich mit Händen und Füßen gegen eine Faradisationsbehandlung und mußte dazu gezwungen werden; trotzdem volle Heilung nach einer einzigen Faradisation.”

Aus Krankengeschichten der Heil- und Pflegeanstalt “Am Steinhof” - einem Zentrum der NS-Euthanasie - geht hervor, dass erkrankte Soldaten mit bis zu hundert Elektroschocks, einer während des Krieges an der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie weiterentwickelten Methode, traktiert wurden.

Die Technisierung und Verwissenschaftlichung des Krieges macht vor den kämpfenden Körpern nicht halt. Wo der Drill nicht ausreicht, werden subtilere Techniken gebraucht, um die Leiber in immer komplexere und tödlichere Kampfmaschinen einzubauen. Der entscheidende Beitrag der Mediziner dazu ist bis heute ungenügend erforscht.

Literatur

  • K. R. Eissler, Freud und Wagner-Jauregg vor der Kommission zur Erhebung
    militärischer Pflichtverletzungen,
    Wien 1979.
  • Peter Riedesser/Axel Verderber, “Maschinengewehre hinter der Front”. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie, Frankfurt am Main 1996.
  • Karl Heinz Roth, Die Modernisierung der Folter in den beiden Weltkriegen: Der Konflikt der Psychotherapeuten und Schulpsychiater um die deutschen “Kriegsneurotiker” 1915 - 1945, in: 1999 3 (1987), 8-75.
  • Ernst Gabriel, “Zur Behandlung einiger funktioneller Störungen”, in: Wehrmedizin. Kriegserfahrungen 1939-1943, ed. A. Zimmer, III. Band: Interne Medizin und Neurologie, Wien 1944.
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