Streifzüge, Jahrgang 2017
 
2004

Fan und Führer

Anregungen zu einer Typologie des affirmativen Unwesens

Warum Halbgott sein wollen? Warum nicht lieber Vollmensch?

(Arnold Schönberg)

Wenn wir den grassierenden Populismus in seinen verschiedenen, nicht nur politischen Varianten analysieren, dann sollten wir uns mehr um dessen kulturindustriellen Kern kümmern (Medien, Vergnügungsindustrie, Mode, Werbung) als vorschnell in historische Analogien flüchten. Die Analogiebildung zählt überhaupt zu den dürftigsten Methoden der Forschung, eben weil sie den Gegenstand aus seiner unmittelbaren Umgebung ablöst und ihn in ein anderes historisches Bezugsfeld stellt; somit in identitätslogischer Reduktion im Seienden und Werdenden primär das Gewesene erkennen möchte. Mit solchen Verkürzungen wollen wir hier nicht dienen. Kritische Analyse darf nicht in den retrospektiven Diskurs flüchten.

Analogien beherrschen das Terrain. Und sie korrespondieren durchaus mit den öffentlichen Absichten, denn auch diese möchten von den aktuellen Zusammenhängen nichts wissen, während sie für jeden historischen Rückgriff und dessen journalistische Aufarbeitung dankbar sind. Aufmerksamkeit wird verschoben, das innige Verhältnis von Demokratie und Populismus soll ausgeblendet werden, indem man sich auf die (zweifellos vorhandenen) Bezüge von Populismus und Nazismus kapriziert. Das ewige Hitler-Spiel lockt da eher als eine Aufarbeitung der grassierenden Starmania, obwohl letztere weit mehr für das Verständnis des Populismus hergeben würde als die billige historische Reminiszenz.

Im Prinzip erfüllt der Populismus die demokratischen Ansprüche. Ja, Populismus und Demokratismus sind eigentlich identisch. 2 Jener ist auch keineswegs die Negation des Liberalismus, er ist vielmehr dessen Konsequenz. Seine Demagogie ist nichts anderes als die liberalisierte Werbung, sein Auftreten erinnert frappant an die Serienstars in den Soap-operas, seine Rede ist das nachgeschliffene Gerede des Stammtischs. Der Populismus ist entschieden antikritisch. Er meint Auslieferung an die Stimmungen durch ihre Einforderung. Er will die Kommerzialisierung des politischen Sektors. Auch wenn das schwer ideologische Gerede der Liberalen mit dem Populismus nichts zu tun haben will, erfüllen doch die Populisten die Gesetze der Marktwirtschaft in Politik und Ideologie am konsequentesten. Die so zugerichtete öffentliche Nachfrage heischt nach diesem Angebot. Wo Populismus draufsteht, ist Demokratie drinnen.

Der Populismus ist keineswegs ein bloß rechtes Phänomen, es waren bloß rechte Demagogen, die ihn bisher vornehmlich nutzten. Inzwischen hat der Populismus sich mehr oder weniger verallgemeinert. Auch die ersten Linkspopulisten betreten das Terrain. So erst jüngst der ehemalige Spiegel-Redakteur und Bestsellerautor („Die Globalisierungsfalle“ 1996), der abgesprungene SPÖ-Spitzenkandidat zum Europäischen Parlament, Hans-Peter Martin, der bei der diesjährigen Europawahl in Österreich dank tatkräftiger Unterstützung der Kronen Zeitung einen sensationellen Erfolg einfahren konnte. Martin erreichte ohne große Wahlwerbung über 14% der Stimmen. Am meisten fischte er im Teich der ehemaligen FPÖ-Wähler, die sich enttäuscht von der Haider-Partei abwandten. Außer den sagenhaften Vorwürfen an Politikerkollegen, dass sie sich bereichern, Spesen falsch abrechnen, und einer aus Funk und Fernsehen bekannten ORF-Moderatorin auf dem 2. Listenplatz hatte diese Kandidatur nichts anzubieten. Aber es reichte.

Die populistische Anmache ist Standard geworden. Es ist auffällig, dass etwa in Österreich immer mehr Journalisten als Quereinsteiger3 in die Politik wechseln, und zwar bei allen Parteien. Da der Populismus in erster Linie von den Medien geprägt ist und von ihnen bereitwillig transportiert wird, ist dies naheliegend. Niemand weiß so gut wie die Ex-Kollegen wie das Geschäft läuft, wie man Sager platziert, wo die Seilschaften verlaufen, wer wo wann zu kontaktieren ist etc. – It’s entertainment.

Die relative Distanz von Politik zu Medien und Werbung, Kommerz und Unterhaltung ist endgültig passe. „Unter den Mächten, die uns heute formen und entformen, gibt es keine mehr, deren Prägekraft mit der der Unterhaltung in Wettbewerb treten könnte“, 4 behauptet Günther Anders. Die unablässige Unterhaltung lässt keine reflektierte Haltung zu, die sich über jene erheben könnte. Kulturindustrie wie Populismus setzen auf permanentes Entertainment und bedienen alle gängigen Vorurteile. Wobei diese sich durchaus widersprechen können. Der aktuelle Populismus ist nicht stringent, er ist für alles Mögliche zu haben, vorausgesetzt es kommt irgendwo bei irgendeinem Publikum an. Der Populismus wirft die letzten Skrupel der traditionellen Politik über Bord. Die traute mehr ihren Gremien, der verbeamteten Vorsicht ihrer Paragraphen, als den unmittelbaren Stimmungen. Diesbezüglich war sie im besten Sinne des Wortes abgehoben – was hier ausdrücklich mal nicht als Vorwurf formuliert wird.

Das Problem ist nun nicht die Unterhaltung an sich, sondern dass die Unterhaltung die Haltung bestimmt, nicht als Unterbestimmung (wie ja der Terminus Unterhaltung eigentlich nahe legen würde) in einem begrenzten Feld sich entfaltet. Nicht, dass wir uns gelegentlich der Seichtigkeit und dem Kitsch hingeben (wer sollte das nicht? ) ist das Problem, sondern dass wir diesem vollinhaltlich entsprechen sollen. Das Sucht-Subjekt schreit nach einer Überdosis, denn es ist diese gewohnt. Die Dosierung ist ihm abgenommen. Es hat nicht nur einzunehmen, es ist bereits eingenommen, was auch heißt, dass eine Souveränität mit Unterhaltung umzugehen, in den meisten Fällen gar nicht gegeben sein kann. Wir müssen unterhalten werden, wie sonst sollten wir es aushalten.

Begeisterungsfähigkeit setzt ein bestimmtes Maß an Entgeistigung voraus. Ohne diese könnte jene gar nicht zustande kommen. Das ist nun aber kein Plädoyer gegen Begeisterung oder gar als Verbot zu lesen, wohl aber als Aufforderung zur Reflexion der eigenen Stimmungen. Wie kommen sie in die Welt und wie komme ich dazu? Unsere Sicht wendet sich entschieden gegen dieses ewige Begeistert-sein-müssen, gegen die unselige Mixtur aus Geschehen-Lassen und Jubel. Mitnichten gilt, dass nie jemand blöd sein darf. Hier geht es nicht um die Einforderung eines bildungsbürgerlichen Ideals, das uns vor der Unterhaltung schützen soll. Das Dumme ist auch nie restlos zu entsorgen, es sollte nur als ebensolches wahrgenommen, nicht obligat umdefiniert werden. Blöd ist nicht, wer sich blöd stellt, sondern wer blöd ist. Als notorische Größe ist Dummheit doch nichts anderes als das ständige Hereinfallen auf den Schein der Welt. Stimmung. Einstimmung. Übereinstimmung.

Populismus projiziert reale Anliegen (über deren Qualität man freilich streiten kann) auf oberflächliche Reize und Reflexe. Seine Faszination besteht geradewegs in der Einfachheit und Beschränktheit seiner Losungen und Lösungen. Diese Einfachheit unterstellt stets, dass etwas hintertrieben wird, oder besser noch: dass jemand etwas hintertreibt. Es gilt nunmehr die dunklen Mächte und ihre Machenschaften zu benennen. Der Populismus urteilt vor jeder Kenntnis, in die er sich gar nicht erst versetzen will. Umgekehrt, die Unkenntnis ist der Boden, auf der der Populismus gedeihen kann. Dafür äußert es sich dann in präpotenter Überzeugtheit ausgesprochen handfest: „Wenn ich etwas zu sagen hätte… „, so beginnt eine dieser bekanntesten Drohungen des Stammtischs.

Der Populismus stellt nun genau auf diese Momente ab, und er hält sie als die entscheidenden Kriterien hoch. Reflexion, die über unmittelbare Reflexe hinausgeht, diffamiert er meist erfolgreich. Er gedeiht auf der Dummheit. Dummheit wiederum kann aber nur gedeihen, wenn sie Figuren findet oder besser noch: vorfindet, die ihr entsprechen. Dieser Typus findet sich in den Fans.

1. Star und Wunder

Der Fanatiker von heute heißt Fan. Der Führerkult hat sich im Starwesen demokratisiert, aber keineswegs aufgelöst. Die Promiparade ist der Laufsteg der Kulturindustrie. Diese ständige Idolisierung ist Ausgeburt drückend empfundener Mangelhaftigkeit und Minderwertigkeit. Die (und das Wort ist hier in seiner ganzen maskulinen Bedeutung gemeint) Verherrlichung von Stars durch Fans, die flächendeckende Idolatrie, ist eines der gängigsten Muster der Selbstmissachtung. Von Kindesbeinen an werden Menschen auf Vorbilder ausgerichtet. Wer kein Idol hat, ist nicht. Sich an Größen aufrichten zu müssen, heißt am Defizit zu leiden, selbst keine Größe zu sein. So denken und fühlen die sogenannten „kleinen Leute“, die einen ideellen Komplementär ebenso brauchen, wie er ihnen aufgenötigt wird.

Die Aufgabe dieses Essays besteht darin, auf die Gemeinsamkeiten der Idole und Ikonen hinzuweisen, sei es der Populist oder Schlagersänger, der Fernsehstar oder Wirtschaftsführer. Es sollen auch nicht gute von schlechten Führern unterschieden werden (beides gibt es), sondern das Prinzip „Führung“ soll desavouiert werden. 5 Natürlich könnte man einwenden, dass der Populist führen will, der Popstar aber keineswegs. Gemeinsam ist ihnen aber das idolistische Dogma in Führung und Aufführung, sei es auf der Versammlung, im Studio oder im Stadion, auf der Bühne, in der Arena oder auf der Rennbahn. Beide funktionieren als Leitfiguren der Bewusstseinsführung, an beiden personifiziert sich das Defizit der Subjekte. Beide sind Fetische der Organisation der bürgerlichen Psyche. Beide sind real gewordene Projektion. Beide existieren nur aufgrund des öffentlichen Zuspruchs. Es geht vor allem darum, den Konsens zu durchbrechen, der eine hätte mit dem anderen nichts zu tun. Eine ebenfalls notwendige Differenzierung des verallgemeinerten Typus unterbleibt daher in diesem Zusammenhang.

Es war die Kritische Theorie, die Star und Diktator als Parallelerscheinungen erkannte. 6 Der Star kann als der beliebige Diktator für jedermann gelten, in ihm demokratisiert sich Führung, und zwar, weil der Führer nicht mehr vorgesetzt wird, sondern ausgesucht werden kann – so will es zumindest der hartnäckige Schein. Die Demokratisierung geht sogar so weit, dass jeder sein eigener Star werden kann. Zumindest kann es sich eins einbilden. Ray Davis hat das im Soundtrack „Soap Opera“ (1974) durchgespielt: „Everybody’s in showbuiss and everybody’s a star“. Nur hält der Einzelne sich als selbstgesetzter Star nicht aus, auch der Norman der Kinks tut das nicht. Wird die Außenprojektion zu einer Eigenprojektion gemacht, ist ihre Falschheit unübersehbar. Insgeheim wäre jeder potenzielle Anhänger wohl wirklich gerne selber der Star, muss sich aber mit dem Status des Fans zufrieden geben. Aber auch dort hat dieser was von jenem.

Der Prominente ist personifizierte Ware schlechthin. Aber anders als die Arbeitskraft bemisst er seinen Wert an der Vergleichbarkeit der Quoten, Stimmen, Auftritte, Vorkommen, Zuschauer. Es geht um öffentliche Geltung, was heißt: Konkurrenzsubjekte buhlen um Aufmerksamkeit am Markt der Stimmungen und wollen daraus Kapital schlagen. Der Promi ist aber nicht nur ohne Ware nicht zu denken, er selbst ist Sonderware: Das unerreichbare Erreichbare, das es anzuhimmeln gilt. Ganze Sparten der Kulturindustrie produzieren Prominenz. Man schlendere nur durch ein Zeitschriftenkiosk und nehme zur Hand, was unsereins sonst selten zur Hand nimmt, die Illustrierten der Macht.

Führer wie Stars werden bewundert. Wundern demonstriert allerdings das Nichtbegreifen von dem, was da abgeht. Das ist für sich noch nichts Verurteilenswertes. Tritt das Wundern als eine Sequenz des Lebens auf, mag es als wunderbarer Akzent durchgehen. Tritt es jedoch als ultimative Konsequenz der Subjekte in allen Lebenslangen, als Sucht auf, ist dies demütigend und entmündigend, vornehmlich aufgrund solch einer einfältigen Selbstausschaltung. Das affirmative Unwesen gehört zum Getriebe des Subjekts, das sich akkurat über das Wundern nicht wundert, sondern es einfach akzeptiert und praktiziert. Derweil wäre unkritisches Bewundern in Kombination mit kritischem Verwundern durchaus in der Lage Abläufe sowohl zuzulassen als auch zu erkennen, was da läuft. Es würde an sinnlichem Empfinden nichts verlieren, wenn es sich nicht in diesem verliert. Wie komme ich dazu, was mir geschieht? Was freut sich in mir, wenn ich mich freue? Zu kompliziert diese Fragerei? Nein, wirklich nicht. Diese Zumutung ist ebenso emotional gemeint wie intellektuell. Umgekehrt: Wird das Spüren als unbedingte Instanz anerkannt, sollte man es am besten gleich als Spuren übersetzen.

Potenzielle Stärke des Ichs negiert sich in dieser Personalisierung durch ihre Außersichsetzung in ein Anderes. Der demokratische Heldenkult, das Promi-Glotzen, das Star-Verehren, das Persönlichkeiten-Anerkennen hat gerade die spürbare Nichtigkeit des Selbst zur Bedingung. Was es in sich nicht spürt, aber spüren möchte, projiziert es in Leitfiguren, zu denen es aufschauen will. Diese Fixierung ist eine fetischistische, wie schon Robert Michels treffend bemerkte: „Die Massen besitzen einen tiefen Drang zu persönlicher Verehrung. Sie bedürfen in ihrem primitiven Idealismus weltlicher Götter, denen sie mit desto blinderer Liebe anhängen, je schärfer das rauhe Leben sie anpackt. Es liegt etwas Wahres darin, wenn Bernard Shaw in seiner paradoxen Art die Demokratie im Gegensatz zur Aristokratie, die ein Aggregat von Götzen sei, als ein Aggregat von Götzenanbetern bezeichnet. „7 Im Anbetungsbedürfnis säkularisiert sich das Religiöse zu einer Veranstaltung der vielen weltlichen Götter. Solange der Fetischismus herrscht, könnten zwar immer bestimmte Götzen abgeschafft werden, nicht jedoch der Götzendienst. Stets droht Denken ins Anbeten zu kippen. In der bürgerlichen Gesellschaft herrscht wahrlich ein „Vergötterungsdelirium“8, wie es der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen benannte.

Persönlichkeit ist ein regressiver Begriff, weil er in der Anerkennung der einen die anderen als Nicht-Persönlichkeiten diskreditiert, ihnen auch noch das abspricht, was gemeinhin eingefordert wird. Persönlichkeit könnte umschrieben werden als Eloquenz und Eleganz der Entsprechung, die aber wegen ihrer Eigenschaften nicht als obligate Fügung und Anpassung wirkt, obzwar sie es ist. Somit erhält die Persönlichkeit die Aura einer ganz besonderen Individualität, wenngleich sie doch nur eine besonders gefinkelte Konstruktion des Subjekts vorstellt. Das Publikum erkennt sich darin wieder, aber eben nicht als eigene Projektion. Ähnliches gilt für das Charisma, das auch dechiffriert werden kann als eine kollektive, an einer Person festgemachte Überidentifikation. Persönlichkeit meint die Person mit Format, also eine, wo die Formatierung in auffälliger Weise gelungen ist. Solch Persönlichkeiten ranken sich dann als Ausstellungsobjekte in den Charts der Medien.

Gerade weil die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft gleichgemacht werden, ist die außerordentliche Erhöhung Einzelner die Möglichkeit Besonderheit zu suggerieren, wo sich doch nur Banalität und Standard entfaltet. „Der Stand eines Stars ist die Spezialisierung des scheinbar Erlebten, ist das Objekt der Identifizierung mit dem seichten, scheinbaren Leben, welches die Zerstückelung der wirklich erlebten Produktionsspezialisierungen aufwiegen soll. „9 In dieser Besonderheit kommt nichts Besonderes zu sich, sondern nur die aufgeblasene Absonderung der Normalität. Es ist der Schein, dass mehr ist als das, was ist. Aber es wärmt die Seele im kalten Gehäuse der Verwertung. Das Gewöhnliche schreit nach dem Außergewöhnlichen und bringt doch nur eine Übertreibung des Gewöhnlichen zustande.

2. Fanatismus und Projektion

„Der als Star in Szene gesetzte Agent des Spektakels ist das Gegenteil, der Feind des Individuums, an sich selbst ebenso offensichtlich wie bei den anderen. „10 Im Führer, im Star, im Promi, im Populisten und Demagogen finden die Defizite vieler Menschen ihre „optimalen“ Projektionen. Was sie nicht haben, geschweige denn darstellen, hat er (und meistens ist dieses er nicht nur strukturell männlich, sondern auch geschlechtlich) zu sein. Es ist ein Verhältnis, das einerseits Ferne und Distanz braucht, um Aura aufbauen zu können, andererseits aber eine Nähe fühlt, die fast schon als intim bezeichnet werden könnte. Der Besondere ist eine Absonderung des Eigenen. Der Verehrte ist ein medialer Scheinbekannter, das Bekenntnis zur Persönlichkeit korrespondiert kaum mit einer Kenntnis der Person. Wo Täuschung also die obligate Komponente der Bezugnahme (die eben keine Beziehung ist) ist, führt verwirklichte Nähe oft zu einer herben Enttäuschung. Der Star ist im Fan, aber nicht beim Fan. Der Star ist real in der Projektion des Fans, ja er wird Realität erst durch die vollzogenen Projektionen der vielen. Ohne diese ist jener gar nichts. „Ist der Star die Grundfigur des modernen mythischen Bewusstseins, so ist der Fan der Sozialcharakter, der dieses Bewusstsein als den Mythos eines gesellschaftlichen Daseins reproduziert. „11

Fanatismus, die höchste Form dieser Projektion, meint eine Bezugnahme, die außer Identität nichts zulassen will. Jedes „Aber“, jeder Einwand soll ausgeschlossen werden. Fans hängen sich an, und die Termini Anhänger, Anhängerschaft und Anhänglichkeit verdeutlichen das. Die Begriffe Fan, Fanatiker und Fanatismus haben übrigens religiöse Wurzeln. Bis ins 19. Jahrhundert hinein bezeichnete man mit den beiden letzteren nur religiöse Schwärmerei, erst dann verbreitete sich die Begrifflichkeit über ihren ursprünglichen Bereich hinaus. In gewisser Weise zurecht.

Der Fan ist das kritiklose, weil anbetende Unwesen. Wobei Unwesen zu verstehen ist als das sich unwesentlich machen des Anhängers: Erhöhung durch Selbstaufgabe. Fan sein meint Außer-Sich-Sein. Dieses Außer-Sich-Geraten, das Abfahren, ist das spezifische Charakteristikum des Fans: Wenn das Gefallen in ein Verfallen mündet, in eine Fallsucht sondergleichen. Der Fan ist süchtig. Es geht um Starmania, wie ein neuer Ausdruck es unabsichtlich begreift. Der Fan ist im wahrsten Sinne des Wortes süchtig darauf, abhängig zu sein. Zur Indifferenz verurteilt, ist das Abfahren aber auch eine immanente Revolte der Subjekte, das oberflächlich betrachtet sogar widerständig erscheinen mag. Indem man sich in Entzückung und Bewunderung versetzt, gelingt es der Lethargie und der Konventionalität scheinbar zu entgehen.

Der Fan zeichnet sich aus durch die ständige Fixierung eines Moments bei gleichzeitiger Ausblendung sowohl der Alltagsbefindlichkeiten als auch der Totalität gesellschaftlicher Verhältnisse. Erstere will er nicht zulassen und von letztgenannter macht er sich keinen Begriff, ja er weiß vielleicht gar nicht, dass es eine solche gibt. Sein Universum gestaltet sich von seiner Projektion her. Der Fan ist eine zentrale Figur des Spektakels, wie es Guy Debord analysiert: „Im Spektakel stellt sich ein Teil der Welt vor der Welt dar, und ist über dieselbe erhaben. „12 Diese Erhabenheit korrespondiert mit einem Desinteresse die Welt betreffend. So bedingt die Überidentifikation in einem Punkt die Indifferenz in vielen anderen Punkten. Je heller etwas beleuchtet wird, desto mehr fällt der Rest ins Dunkel. Fokussierung des Stars meint Ausblendung der Totalität. Nicht in Zusammenhängen soll gedacht (und schon gar nicht gefühlt) werden, sondern eins soll sich auf Exponate kaprizieren und in ihnen aufgehen.

Der Fanatismus von heute ist nicht mehr so statisch wie in vergangenen Tagen, er ist weitgehend beliebig geworden. Die Fixierung folgt keinem monotheistischen Muster, sie ist flexibel. Diese Flexibilität gehorcht den unmittelbaren Sinnstiftungen und Sinngeboten des Marktes. Bedingungslose Identität ist zwar der Idealfall, aber Dauer und Intensität des Abfahrens sind im Abnehmen begriffen. Man drehe die Apparate auf oder blättere die Illustrierten durch, und schon kann man unter VIPs sich den oder die aussuchen. Aufdringlich ist nur der Typus, die Typen selbst kann eins sich aus dem pluralistischen Sortiment auswählen. Die Grundform ist identisch, die Äußerungsform nicht: wie Marken gewechselt werden, so auch Promis. Und immer schneller, Mode und Trend halten hier auf Trab.

Im Phänomen sprießender Fanclubs zeigt sich Formierung der Subjekte zu kleinen Massenpolen. Gegen die Verbreitung der Fanclubs decken etwa linksradikale Gruppierungen ein mickriges Segment der Gesellschaft ab. Fanclubs als populistische Keimzellen bilden eine ideelle Gemeinschaft, die aber auch einen bedeutenden ökonomischen Faktor darstellen kann. Nicht nur für den Star, sondern auch für besonders eifrige Fans. Es geht auch um das Werbematerial, um die Herstellung von Souvenirs, Poster, T-Shirts u. v. m. Nicht nur eine innere Haltung ist gefordert, sondern eine beinahe aggressive Anschaulichkeit: „Ich verehre David Beckham, und daher wollte ich seine Tätowierung auf meinem Körper“, sagt ein junger weiblicher Fan.

Die Linke, insofern sie nicht selbst dem Personenkult erlegen ist (von Stalin bis Che Guevara), hat der Idolisierung eine Anonymisierung entgegengesetzt, so als sei durch die Gleichmacherei der Konkurrenzsubjekte etwas zu gewinnen. Indes hätte man die Leute ernst nehmen sollen, um den und die Einzelne durchaus besser einschätzen zu können ohne sie zur Persönlichkeit aufzublasen, aber auch ohne sie der Gleichgültigkeit anheimfallen zu lassen. Falsche Besonderheit wurde negiert, indem man jede Besonderheit unter Verdacht stellte. Der Führerkult wurde so ersetzt durch den Kult des Durchschnittlichen oder den der Unterdrückten. Als ob gerade das Unterdrückte besser wäre als das Unterdrückende. Im Beherrschten kommt primär das Herrschende zu sich.

Während die Rechten mit der formalen Anerkennung von Führung und Führer keine Schwierigkeiten hatten, setzte sich diese bei den Linken meist hinterrücks als informelle Fügung durch. Deren Muster wurden oft einfach geleugnet, so als gäbe es sie nicht. Anstatt diese objektive Strukturierung der eigenen Kommunikation eingehender zu beleuchten, fiel einem im Konfliktfall nichts besseres ein als die Demokratisierung aller Entscheidungsprozesse einzufordern. Mehr als eine Bürokratisierung der Abläufe ist aber bei all diesen (zuletzt basisdemokratischen) Versuchen nicht herausgekommen. Auch das leidige Spiel, wo die demokratisch Unterlegenen mehr Transparenz und Partizipation fordern, die demokratischen Gewinner aber auf Effizienz und Handlungsfähigkeit pochen, ist so alt wie abgeschmackt.

Befreiung wird um die Negation der Idole, insbesondere auch der eigenen, nicht herumkommen. „Die Bewegung des Kommunismus ist anti-heroisch“, 13 schreibt John Holloway. Nicht andere Führer, Helden und Vorbilder braucht das Land sondern keine. Es waren die Lettristen, die Vorläufer der Situationisten, die das schon 1952 auf ihre Nichtfahnen geschrieben hatten: „Wir glauben, dass die dringlichste Ausübung der Freiheit in der Zerstörung der Idole besteht, vor allem, wenn sie sich auf die Freiheit berufen. „14 Die Besonderheit des Einzelnen hat erst dann eine reale Chance auf Entfaltung. „Unglücklich das Land, das keine Helden hat! „, sagt der Knabe Andrea. Doch Brechts Galilei antwortet ihm: „Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat. „15

3. Mann klein, Masse groß

Es ist der „Kleinheitswahn“16 (Freud), der sich in Größenwahn versetzt und in der Masse versteckt. Masse meint die Transzendierung des Minderwertigkeitsgefühls in eine Stimmung der Überwertigkeit. Masse zeitigt Erhöhung des Unerhöhten, ein Teilhaftigwerden an etwas Größerem als dem „Sich“. Im erniedrigenden und selbsterniedrigenden Gerede vom „kleinen Mann“ steckt der Keim des Größenwahns, der in der Masse sein Betätigungsfeld sucht. Die Masse wird so auch zur gleichen Maske des Subjekts. Sie suggeriert Bedeutung durch Menge, Größe, die sich durch Massierung und Uniformierung potenziert. In der Masse sind sich alle gleich und gleichgültig. Die Masse ist so Ausdruck der vollendeten Demokratisierung, ja der biologische Organismus der direkten Demokratie schlechthin. In der Masse enthemmt sich das Gehemmte: Hier herrscht das Volk.

„Die Masse ist außerordentlich beeinflussbar und leichtgläubig, sie ist kritiklos, die Unwahrscheinlichkeit existiert für sie nicht. Sie denkt in Bildern, die einander assoziativ hervorrufen, wie sie sich beim Einzelnen in Zuständen des freien Phantasierens einstellen, und die von keiner verständigen Instanz an der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit gemessen werden. Die Gefühle der Masse sind stets sehr einfach und sehr überschwänglich. Die Masse kennt also weder Zweifel noch Ungewissheit. „17Ja, sie kann gar nicht im Zweifel sein, denn das Unbezweifelbare ist ihr charakteristisch. Sie erträgt keine Schwäche. Die Masse ist die Ansammlung der Schwachen, die keine Schwäche dulden. „Da die Masse betreffs des Wahren oder Falschen nicht im Zweifel ist und dabei das Bewusstsein ihrer großen Kraft hat, ist sie ebenso intolerant wie autoritätsgläubig. Sie respektiert die Kraft und lässt sich von der Güte, die für sie nur eine Art von Schwäche bedeutet, nur mäßig beeinflussen. Was sie von ihren Helden verlangt, ist Stärke, selbst Gewalttätigkeit. Sie will beherrscht und unterdrückt werden und ihren Herren fürchten. „18

In der Masse wird die Verzweiflung der Einzelnen transformiert. Masse bedeutet Defragmentierung durch Zusammenfügung. Und Zusammenfügung bedeutet in doppeltem Wortsinn Fügung, nämlich als Schicksal sowie Gehorsam. Die Zugehörigkeit manifestiert sich noch eine Stufe höher, als Zusammengehörigkeit. Es handelt sich dabei um eine chronische Depression, (der anders als einer akuten aber kaum individuell beizukommen ist), um eine gesellschaftliche Störung, die jedoch durchaus funktional ist, weil die Gesellschaft eine gestörte ist.

Die mögliche aber misslingende Selbstliebe des Ich wird ausgelagert: „Das Objekt hat sich an die Stelle des Ichideals gesetzt. „19 Das Selbstbewusste wird so zum Dirigenten der eigenen Bewusstlosigkeit. Das Subjekt ist zu beschreiben als das atomisierte und uniformierte. Es ist sich allein, aber es sind ihrer viele. Fans gibt es eigentlich nur im Plural, als massenhafte Erscheinung der vielen Gleichen. Ansonsten hat eins bloß einen Tick oder ist eben ein Freak. Der Fan ist ohne Masse nicht zu denken. Masse ist die Überwindung der Einzelnen im Vielen, aus Atomen wird ein Organismus, aus kalter Funktionalität warme Emotionalität. Masse meint Biologisierung der Ohnmacht zur Macht, ja Allmacht.

„In der Masse, meint Le Bon, verwischen sich die individuellen Erwerbungen der Einzelnen, und damit verschwindet deren Eigenart. Das rassenmäßige Unbewusste tritt hervor, das Heterogene versinkt im Homogenen. Wir würden sagen, der psychische Oberbau, der sich bei den einzelnen so verschiedenartig entwickelt hat, wird abgetragen, entkräftet, und das bei allen gleichartige unbewusste Fundament wird bloßgelegt (wirksam gemacht). „20 In der Herde und noch deutlicher in der Horde kann man sich vergessen (Ich-Vergessenheit), was meint: einlösen und auflösen in einem größeren Ganzen, das jedes individuelle Gefühl, nicht nur jenes der Verantwortung, aber insbesondere dieses, auslöscht. „Die Masse entbehrt der Feinfühligkeit, „21 schreibt Robert Michels. Man folgt quasi einem Trieb, über den man sich keine Rechenschaft ablegt. Bei dieser Anzahl scheint jeder Irrtum ausgeschlossen. Die Masse vermittelt ihren Gliedern Sicherheit, die der Einzelne nie haben könnte, der nun meint: Es kann nicht falsch sein, was ich tue, denn sonst würden es ja die andern nicht tun. Die gegenseitige Unterstellung wird zum endgültigen Beweis. Dass diese Aussage an und für sich absurd ist, fällt nicht auf, ja im Gegenteil, die Verallgemeinerung der Versicherung dient gegebenenfalls auch als Ausrede. Einer kann irren, viele nicht! In seiner proletarischen Form hieß das übrigens: „Die Partei hat immer recht“, besungen von großen Dichtern wie Bertolt Brecht oder Pablo Neruda.

Man fällt als Einzelner in der Masse nicht auf, man verschwindet, ist aber voll zugegen und bei der Sache. Man multipliziert sich in ihr, indem man sich durch sie dividiert: Ich bin keine Nummer mehr, denn wir sind eine große Zahl. Aus Quantität wird Qualität. Sie stecken sich gegenseitig an und stacheln sich auf: mehr, stärker, schärfer, wilder, rücksichtsloser. Der von Freud zitierte Le Bon schreibt: „Die bewusste Persönlichkeit ist völlig geschwunden, Wille und Unterscheidungsvermögen fehlen, alle Gefühle und Gedanken sind nach der durch den Hypnotisator hergestellten Richtung orientiert. „22 Doch dieser Hypnotisator muss nicht im Singular auftreten. Massen hypnotisieren Massen auch selbst.

Ursprünglich mag es schon etwas wie ein ehernes Vergesellschaftungsbedürfnis der Menschen geben, sie sind soziale Wesen. Es stellt sich aber die Frage, ob jenes wie Freud (Trotter folgend) behauptet, 23 einfach mit dem Herdeninstinkt übersetzbar und gleichsetzbar ist. Hier vermuten wir vielmehr eine ganz spezifisch sekundäre, d. h. gesellschaftliche Ausprägung. Nicht etwas „rassenmäßig Unbewusstes“, sondern etwas massenmäßig Bewusstloses. Letzteres meint Unkenntnis der Form, in der es sich dieser entsprechend bewegt, ersteres wäre aber eine anthropologische Wesensbestimmung des Menschseins.

4. Sich als Ich

„Der Vormacht des Allgemeinen ins Auge zu sehen, schädigt psychologisch den Narzissmus aller Einzelnen und den demokratisch organisierter Gesellschaft bis zum Unerträglichen. Selbstheit als nichtexistent, als Illusion zu durchschauen, triebe leicht die objektive Verzweiflung aller in die subjektive und raubte ihnen den Glauben, den die individualisierte Gesellschaft ihnen einpflanzt: sie, die Einzelnen, seien das Substanzielle. „24 Das schreibt Adorno, und man kann dem nur beipflichten. Das Ich ist noch kein Für-Sich, sondern ein An-Sich, organischer Reflektor gesellschaftlicher Konstellationen. Seine wichtigste Rolle ist die des Konkurrenten, die Behauptung am Markt. Es muss sich nach den ungeschriebenen Geboten seiner Verwertung richten: verrichten, anrichten, herrichten, hinrichten, abrichten, nachrichten, unterrichten. Und richtig ist, was sich gestern, heute, morgen verwerten lässt. Auch in Zeiten der Krise des Werts.

Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft leiden an der chronischen Einbildung, eines nicht zu sein, „a face in the crowd“ (Ray Davis), 25 obwohl doch gerade die fundamentale Erkenntnis, als Monade bewegt zu werden, der erste, schmerzhafte wie zaghafte Schritt ihrer ideellen Überwindung sein könnte. Eine Ahnung davon ist ja vorhanden, aber ihr folgt selbstverachtende wie selbstbewusste Verdrängung. Wäre ich kein Ich, was wäre ich? Ein Serienprodukt alltäglicher Geschäftigkeit? Etwa mit beschränktem Auslauf und beschränktem Bewusstsein? Solch bedrohliche Fragen dürfen gar nicht erst gestellt werden. Ich ist für das bürgerliche Subjekt doch die Instanz, die nicht in Frage gestellt werden darf, nein besser noch: kann. Indes wäre die Infragestellung eine ermutigende Intervention, eben weil das Subjekt einmal nicht das Ich, sondern das Ich das Subjekt negiert. Also: „Misstraue deinen Gefühlen und Stimmungen! Möglicherweise sind sie nicht deiner, sondern du bist ihrer! “ – Hier wäre ein Punkt, wo das Ich seine Differenz zum Sich aufmachen könnte.

Das uns bekannte Ich ist das doppelt Durchgestrichene. Einmal durch die objektiven Zwänge, und das andere Mal durch die subjektiven Fügungen. Dieses Ich gibt es nur als Ich. Eins kann also nicht einfach sagen: Das Ich gibt es gar nicht. Das Ich-Selbst ist Versuch und Missglückung in einem und endet meist mit dem, was man Selbstaufgabe durch gesellschaftliche Anpassung bezeichnen könnte. Jenes ist Beschränkung und Zerstörung, aber doch widerstrebt etwas in ihm dagegen und vor allem ist es unauslöschbar. Mensch sein heißt beharrliches Hadern mit diesem Schicksal. Anpassung ist zwar obligat, aber sie vollzieht sich stets in Brüchen und mit Widerständen. Doch das objektive Resultat muss zum subjektiven Ziel gemacht werden, es stellt sich nicht einfach her. Gerade in den sich versuchenden Manifestationen eines Ich gegen das Sich erlebt die Person Momente individuellen Gelingens, spürt es den Hauch ihrer Möglichkeiten. Wo das Ich, obwohl ideologisch so überhöht und angebetet, tatsächlich aber so vernachlässigt wird wie in der bürgerlichen Gesellschaft, ist der Abschied vom Ich eigentlich naheliegend, auch wenn er sich partout nicht als solcher verstehen will. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die egomanische Ichversessenheit als krude Ichvergessenheit. Die freilich wird konsequent geleugnet.

Eins selber sein ist nicht leicht. Den meisten fällt das gar nicht auf. Die Leute sind wie „gehätschelte Haustiere, und sie merken nie, dass sie anderer Leute Normen leben, dass sie wahrhaftig anderer Leute abgelegte Kleider tragen und nie einen einzigen Augenblick lang sie selbst sind. „26 Die öffentliche Meinung nennt Oscar Wilde das „unwissende Gebilde“27, spricht bezüglich des ehrenwerten Mannes vom „Ichwahn seiner Unwissenheit und dem Ichwahn seiner Bildung. „28 Auch Günther Anders verhöhnt diesen „Wahn der Freiheit“. 29 Selbstverständlich ist es eine Zumutung „Ich“ zu sagen. Aber die noch größere Zumutung sind die Verhältnisse, die den Menschen verwehren, ein „Ich“ entwickeln zu können und sich so eines vorlügen müssen.

Dieses Ich definiert sich nicht an sich oder mit anderen, es definiert sich als Gegeneinander, als Gegen-Dich, das immer den Vergleich suchen muss. Es ist der konkurrenzistische Trieb der Markteilnehmer. Das ist wohl mit ein Grund, warum viele sich gern ihrer Kindheit erinnern. Der Behütung wegen. Obwohl auf Konkurrenz trainiert und abgerichtet, waren sie doch der unmittelbaren Konkurrenz entzogen und vor ihr geschützt. Das tut zweifellos gut, lässt spüren, was fein ist.

5. Führer und Führung

Nach Robert Michels – und er spricht hier sicher für die überwiegende Mehrheit – ist das Führerprinzip ein unhintergehbares Apriori, dessen Analyse strikt von der Hand zu weisen ist: „Das Führertum ist eine notwendige Erscheinung jeder Form gesellschaftlichen Lebens. Es gehört deshalb nicht in den Bereich der Wissenschaft zu untersuchen, ob es von Nutzen oder von Übel sei oder welches von beiden überwiege. „30 Zweifellos, Führung ergibt sich aus dem Defizit der vielen. Aber nicht aus irgendeinem menschlichen Defizit (Anleitung braucht man ja für dieses und jenes), sondern aus dem gesellschaftlich dimensionierten psychischen Minderwertigkeitsgefühl.

Der Unmut der Durchflexibilisierten, ihre Haltlosigkeit schreit nach einem festen Halt. Führung verspricht, den Haltlosen Halt zu geben. Auch wenn dieser nur simuliert ist, ergriffen wird er. Der Haltlose will gar nicht verstehen. Er will zugehörig sein. Er will gehörig sein. Er will hörig sein. Er will treu sein. Er will. „Politische Begabung einer Menge ist nichts als Vertrauen auf die Führung„31, behauptete einstens Oswald Spengler. „Unsere Ehre heißt Treue“; in Sedimenten ist dies abgelagert, und wenn auch nicht mehr lebbare völkische Substanz, so doch abrufbare und anrufbare Bezugsgröße, die Grüße aus besseren Zeiten und jene verkündet. Auch wenn der Referenzpunkt außer Reichweite ist, funktioniert er als munitionierter Mythos einer aggressiven Gemeinschaft: Wir!

Das Heillose erwartet im wahrsten Sinne des Wortes Heil. Der Populist entzückt als Heilsbringer. Das Faszinosum aller Populismen des bürgerlichen Zeitalters ist in diesem Charisma (wörtlich: Gnadengabe) der Erlösung zu suchen. Schwäche impft sich durch Unterwerfung und Hörigkeit, die jedoch nicht als solche empfunden werden. Jene, die sich von Bürokraten und Funktionären nicht drangsalieren lassen wollen, schreien nicht nach Emanzipation, sondern nach Führung. Sie wollen richtig rangenommen werden. Nur in einem Führer kommen jene zu sich, die sich selbst fremd sind. Einen Führer brauchen jene, die sich nicht auskennen, aber genau wissen, wo es lang geht.

Fan und Führer gerieren sich als Alternativen zum alltäglichen Dasein, nicht als dessen Zuspitzung. Indes sind sie bloß Avantgarde des Ordinären, Auswuchs der Gewöhnlichkeit. Fan und Führer verkörpern den Typus des Rücksichtslosen, sie sind konzentriert auf etwas Bestimmtes und blenden alles andere aus. Besonders die Rücksichtnehmer in Staat, Partei und Gewerkschaft sind ihnen ein Dorn im Auge. Sie dulden Apparate als Funktionsinstanzen, nicht aber als Regulierungsinstanzen. Insbesondere dort, wo sich der politische Sektor noch in Distanz zur Marktwirtschaft sieht, wird er stigmatisiert. Da ist dann die Rede von Funktionärswirtschaft, Betonierern, Bürokratie etc. – Auch hier verlaufen Populismus und Liberalismus parallel.

Der Führer kann gelten als das aufgeblasene Subjekt, und zwar in doppelter sprachlicher Deutung. Führer wie Star berauschen sich an der Masse, ohne die sie nichts wären. Sie schöpfen Kraft aus dem, was aus ihnen Kraft schöpft. „Ich bin weil du bist“, ist das sinnliche Einmaleins von Fan und Führer. Es ist ihre Gewissheit. Beiderseits. Sie sind durch Angewiesenheit miteinander verbunden. Lust auf Führung korrespondiert mit der weitverbreiteten Lust auf Gefolgschaft. Ja, beide sind eigentlich eins, das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben.

Der Führer ist nicht selbstbestimmter als die, die ihm folgen, auch wenn das die feste Überzeugung der Seinen ist. Seine als Sicherheit wahrgenommene Führung ist ein Trugbild, doch sie ist Realität gewordene Marschrichtung: „Er weiß, wo es hingeht, daher werden wir folgen“. Ihre Ratlosigkeit korrespondiert mit seinem Rat, der als fixe Größe erscheint. Seine Ratlosigkeit kann demnach nur als Entratung, ja somit als Verrat aufgefasst werden. Der Führer ist Gefangener seiner struktiven Konstellation. Sollte er offensichtlich versagen oder gar zugeben, er wisse nicht, wohin er oder es führe, dann wäre er seiner Führung entledigt. Solche Führer gibt es nicht. Ein Führer muss die Masse im Griff haben, hat er sie nicht, ist er seiner Führung ledig.

Gehalten kann die Masse nur als Herde werden, als Horde ist sie ungehalten, wenn auch nicht ungelenkt. Indes sie auch völlig außer Kontrolle geraten kann. Fehlmobilisierungen können so auch zur Katastrophe oder Niederlage führen. Letztere fügte sich Jörg Haider beim Knittelfelder Treffen der FPÖ im September 2002 zu, als das durch ihn aufgestachelte Funktionärskorps der Freiheitlichen wider allem Eigeninteresse ein Schlachtfest veranstaltete, nicht nur die Wiener Parteiführung (Susanne Riess-Passer, Peter Westenthaler) ins Aus schickte, sondern auch die Partei selbst zum Einsturz brachte. 32 Beabsichtigt ist etwas anderes gewesen. So kann es vorkommen, dass die Anhängerschaft den Führer überläuft. Disziplin ist nur möglich durch Aufstauung und Anspannung, sie schreit aber regelrecht und regelmäßig nach Entladung, Enthemmung und Entspannung. Sie muss sich bei Gelegenheit abreagieren, um sich neu aufzubauen. Die reine Disziplin ist nicht zu haben. Die Herde ist immer ein potenzieller Herd der Unruhe. Die „Fähigkeit“ des populistischen Führers offenbart sich darin, dass er es versteht, die Ventile richtig zu betätigen, was meint die Aggregate der Masse richtig zu steuern.

Der Führer hat freilich nur die Führung übernommen und inne. Des Weges zu ziehen ist seine unbedingte Aufgabe, die ihm oft Lust, manchmal auch Last ist. Er steht auf jeden Fall unter Erfolgsdruck, was meint Wachstumsdruck. Er folgt dem komparativen Zwang. Die Masse will sich vermehren. Sie will akkumulieren. Ökonomisch ausgedrückt: Die Verwertung der Masse ist ihre permanente Massierung. Gelingt ihr diese nicht, geht sie bankrott. Wenn der Führer versagt, gibt es Katzenjammer im teilnehmenden Publikum, es ist dann wie nach einem Rausch.

Ziel von Führer und Geführten ist das Obsiegen, und zwar in zugespitzter Form: nicht bloß als gelungenes Geschäft, sondern als Triumph über die Feinde, die personalisiert werden, selbst wenn von „System“ gesprochen wird. In der Niederlage, ja Unterwerfung, in der Zerstörung, ja Vernichtung liegt das Ferment dieses „Glücks“. Die Grundmuster der Konkurrenz werden übersteigert und überhöht. Gerade weil die Vielen Schutz vor der Konkurrenz in einer bestimmten übergeordneten Form suchen, wollen sie jene nicht überwinden, sondern nur für sich selbst außer Kraft setzen, um sie doch auf höherem Terrain (dem des Staates, der Nation, des Volkes) durch Massierung wieder in Funktion zu setzen.

Exkurs A: Renaissance der Wirtschaftsführer

Das Führerprinzip erlebt gegenwärtig eine Renaissance, nicht nur im politischen und kulturellen Bereich. Die allgemeine Klage von heute ist, dass nicht zu viel, sondern dass zu wenig geführt wird. Mediale Flaggschiffe des Wirtschaftsliberalismus machen diesbezüglich mobil: „Leadersphip ist mehr denn ja gefragt“, heißt es in der „Sonderbeilage Führen“ der Neuen Zürcher Zeitung vom 21. November 2000. Was ist schon der Manager gegen den Führer? Ihre Heiligkeit ist letzterer: „Der Manager analysiert, plant, kalkuliert, teilt Ressourcen zu und überwacht die Zielrichtung. Er führt Führungssysteme ein, organisiert Abläufe, koordiniert zwischen verschiedenen Verantwortungsbereichen und stellt Ordnung und Konstanz sicher. Er ist eher der optimierende Technokrat (… ). Im Unterschied dazu erkennt und schafft der Leader eine Marschrichtung, erzeugt großes Vertrauen und bewirkt eine Aufbruchstimmung, die zu Veränderungen führt, und zwar ohne dass der Vergangenheit nachgetrauert wird. Er lebt das vor, was er immer und immer wieder predigt. Und er führt die Menschen direkt, dank seiner überzeugenden Persönlichkeit. Er führt viel weniger als der Manager mit Hilfe institutionalisierter Führungsprozesse. Er konzentriert sich stets nur auf das Essenzielle, vernachlässigt viele Details und kümmert sich wenig um die äußere Form. Er ist in sich selber so konsistent, dass man ihn auch ohne Kenntnis von Fachjargon sofort versteht. Unsere Unternehmen, unsere Verwaltungen, unsere Institutionen benötigen sowohl den Manager- als auch den Leadertyp. Das Wirken des Ersteren führt dazu, dass in komplexen und meistens großen Organisationen keine chaotischen Verhältnisse entstehen. Die Energie und die Ausstrahlung des Zweiten führt dazu, dass das größte Wertpotenzial unserer Unternehmen, die Schaffenskraft der Mitarbeitenden, mobilisiert wird.“ Kurzum: „Führungskräfte sind daher mehr denn je gezwungen, eine Wertekultur aufzubauen, die den erforderlichen Halt wieder schafft. „33 Ziel sei die „positive Grundeinstellung“ zu dieser Wertekultur.

Man beachte bei diesem Prospekt die gesamte Terminologie, in der dieser Werbetext da vorgetragen wird. Da findet sich die „positive Grundeinstellung“, die „Marschrichtung“, die „Aufbruchstimmung“, die „Mobilisierung“, die „Predigt“, die „Persönlichkeit“, das „Wertpotenzial“ und die „Wertekultur“. Und alles läuft auf den Leader genannten Führer hinaus. Es ist schon interessant, dass heute, wo die Unternehmungen immer weniger ordentlich verwaltet werden können, nicht die Betriebswirtschaft zum Gegenstand der Kritik wird, sondern der einst gepriesene Manager seine Entwertung erfährt, um aber den Führer, den Chef, den klassischen Unternehmer zu reinthronisieren. Die Berechtigung liegt darin, dass das Konventionelle bei den Unternehmensführungen zusehends dem Unkonventionellen weicht. Was immer das nun heißen mag – von der Verstärkung der Werbung über das Mitspielen bei der Börsenspekulation bis hin zu mafiotischen Methoden ist hier alles möglich. Auch als Mix.

Der außerinstitutionelle Zusatz verdeutlicht jedenfalls eine Tendenz zum Ersatz obligater Geschäftstätigkeiten. Gefragt ist weniger die fachliche Kompetenz als die Fähigkeit sich im Marktgeschehen entsprechend zu positionieren. Dessen Fluktuationen lassen sichere Prognosen unsicherer werden, was gestern noch stimmte, kann morgen schon der größte Unsinn sein. Die letzten Reste der Gemächlichkeit werden sukzessive entsorgt, Geschäftstüchtigkeit heißt permanentes Anspannen und Zuschlagen. Schon der junge Friedrich Engels bezeichnete die Konkurrenten als „eine Horde reißender Tiere“. 34 Diese Einschätzung dürfte heute noch mehr der Wahrheit entsprechen als dazumals. Gefragt ist ein „Killer-Instinkt“. Es herrscht eine Betriebsamkeit, die keine Freiräume gestattet, sondern Effizienz (was heißt: Verwertungseffizienz) zum Gott erhoben hat, der keinen anderen neben sich duldet, geschweige denn heidnische Bräuche wie Faulenzen, Krankfeiern, Ausrasten durchgehen lassen darf.

Nur weil es den Führer gegeben hat und nicht mehr gibt, ist jedoch nicht zu schließen, dass es keine Führer mehr gibt. Im Gegenteil, Führer gibt es mehr als genug. Diese Kategorie ist also nicht aus dem Vokabular zu streichen. Auch wenn man in den Nachfolgestaaten des Dritten Reichs den Begriff aus naheliegenden Gründen nicht gerne in den Mund nimmt (da spricht man lieber vom „Boss“, „Chef“ oder „Macher“), ist das autoritäre Prinzip stark im Kommen. Autorität ist eine entscheidende Größe der bürgerlichen Freiheit. Gerade im Befehl wie im Gehorchen kommt die Unmittelbarkeit eines unbeschränkten „Verfügen-Könnens“ ungeschminkt zu sich. Der Befehl ist so gesehen nicht die Beschneidung der Freiheit, sondern deren höchster Ausdruck. Nirgendwo ist man so frei wie im Kommando.

Führung ist auf jeden Fall in. Nicht nur in der „Neuen Zürcher Zeitung“. Die liberale Wiener Tagezeitung „Der Standard“ lädt zu einem Seminar mit dem Titel „Führen mit Charisma“. 35 Und das konservative Konkurrenzblatt „Die Presse“ bewirbt das Top-Seminar des Monats September 2003 unter dem Titel „Das Prinzip Führung“: „Klarheit in der Führung statt Konsens-Sauce“, lautet eine Botschaft. „Denn die Praxis hat gezeigt, dass Motivation kein „Mythos“ ist, sondern vielmehr eine Frage der Umsetzung von bewährten Führungsinstrumenten“. „Brigadier Gerald Karner36 vermittelt wirksame Instrumente für den Führungserfolg. „37 In letzter Konsequenz heißt das: Freiheit ist der militärische Akt zur Durchsetzung der Marktgesetze. Die extremste Form der bürgerlichen Freiheit ist das Kommando, der Befehl, dem zu gehorchen ist. Wirtschaftstreibende sind Offiziere der Zirkulation. Nicht umsonst heißt Büro im Englischen „office“. Und „officium“ ist das lateinische Wort für Pflicht.

6. Konformierte Selbstbeherrschung

Führung ist das Wesen des Fans. Der Fan steht auf die Leitung, die er gar nicht wahrnimmt und auf der Leitung, die er ebenfalls nicht erkennt. Er kommt schon formatiert daher. Günther Anders hat auf diese tiefere Fundierung des Konformismus hingewiesen. „Wenn man statt von , Konformanden‘ und von , Konformierten‘ von , Konformisten‘ spricht, dann verwendet man nicht nur einen ungenauen (… ) einen verfälschenden Ausdruck. Denn dann unterstellt man dem Individuum, dass es die Wahl habe, sich konform zu machen oder das auch bleiben zu lassen. Dann setzt man, gleich ob bewusst oder unbewusst, jene Freiheit voraus, die zu liquidieren der Konformismus sich zur Aufgabe macht und die er tatsächlich in höchstem Grade bereits liquidiert hat. In gewissem Sinne stellt daher (… ) der Begriff „Konformist“ bereits eine Ableugnung der Tatsache des Konformismus dar. Diese Ableugnung oder Fälschung ist freilich bereits das Werk des Konformismus selbst; das heißt: wer so spricht, der ist bereits konform. Denn eine der Lieblingsbeschäftigungen, eine der wesentlichen Betrugsaktionen des Konformismus besteht eben darin, Einzelne als Konformisten anzuprangern; ja diese gewissermaßen als willentliche Konformisten hinzustellen, um damit zu verbergen, dass der Konformismus alle konform zu machen sucht. In der Tat blüht der Konformismus am schönsten dort, wo er dem unfrei Gemachten den Wahn der Freiheit belässt, oder ihm den Wahn überhaupt erst einimpft; wo er das Individuum mit Erfolg dazu bringt, ein Individuum-Vokabular nachzuplappern; ein Vokabular, das durch die Tatsache der Plapperei sich selbst widerlegt. „38 „Nichts scheinheiliger, nichts komischer als das von der Konformismusindustrie aufgezogene , self expression‘-racket“39, schreibt Anders an anderer Stelle.

Der Konformand stellt sich also gar nicht die Frage, ob er konformistisch ist. Er ist es einfach. Diese Frage ist jenseits seines Denkhorizonts. Konformismus hieße zumindest, sich absichtlich und bewusst in etwas umgewandelt zu haben. „Soll ich dafür oder soll ich dagegen sein? „, ist nicht in seiner Reichweite. Erreichte er sie, wäre sein Konformandentum passe. Könnte er jene Frage formulieren, wäre seine Formatierung fehlerhaft. Seine Gewordenheit ist ihm kein Problem, ja nicht einmal stellbare Frage. Ignoranz schützt allerdings nicht vor Konsequenz. Im Gegenteil: Er ist für was, von was er nichts versteht. Er ist ganz einfach drauf, wenn geht gut drauf. Er wird aber nicht verleitet, er leitet sich durchaus selbst. Als Demokrat ist er sein Selbstführer, er gehorcht sich, er ist sein „eigener Herr“. Ja, es ist das Ziel sein eigener Herr zu sein, niemanden anderen über sich herrschen zu lassen als das verinnerlichte Sich-selbst, das da als Ich daherkommt, ja geradezu Persönlichkeit behauptet. Im schlechtesten Sinne des Wortes, hier herrscht Selbstbeherrschung.

Natürlich ist es unsinnig, zu verlangen, dass Affirmation nicht stattzufinden habe. Das wäre wahrlich ein aussichtsloses und selbstzerstörerisches Unterfangen. Wer nie drauf ist, ist stets drüber, und das hält der beste Intellektuelle nicht aus. Wer aber immer drauf ist, ist als Ich-selbst, restlos draufgegangen. Es gilt sich aber des Charakters der allgemeinen und spezifischen Affirmation Rechenschaft abzulegen, sie nicht als Selbstverständlichkeit hinzunehmen, sondern als Ausdruck formatierten Bewusstseins. Nicht nur zu fragen Wofür bin ich? , sondern auch Wie komme ich dazu, dafür zu sein? Erst wenn das Ich seine chronische Nichtung begreift, wird es wirklich größer, ja eminent. Es sollte daher nicht a priori behaupten, wofür es eigentlich zu kämpfen hätte und was es nur ansatzweise in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen herstellen kann.

Indes, wie schon ausgeführt, ist der postmoderne Konformismus doch schwerer zu fassen als man denkt, eben weil er sich trotz imperativer Fixierung als unbestimmte Gebundenheit gestaltet, permanent in Bewegung ist. Fix ist die Fixierung, aber nicht das Fixierte. „Die Entfesselung der neoliberalen kapitalistischen Ökonomie im Subjekt wird pervers und paradox als seine Freiheit inszeniert“, schreibt Roger Behrens: „keine Bindung an Gewerkschaften, Berufsverbände, keine Vereinsmeierei, keine festen sozialen Beziehungen, nicht einmal ein fester Beruf, eine feste Liebesbeziehung und Familie, kein festgelegter Geschmack, kein fester Stil, kein festgelegter Standpunkt und keine Utopien über die Zukunft heißen die Leitlinien der bizarren Konformität. „40

7. Passives Passieren

Für den Zuschauer gilt: „Je mehr er zuschaut, um so weniger lebt er; je mehr er akzeptiert, sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wiederzuerkennen, desto weniger versteht er seine eigene Existenz und seine eigene Begierde. „41 Diese zu begreifen, sie nicht nur zu spüren, sondern vielmehr zu erkennen, wäre aber die Bedingung, um sie überhaupt kritisch reflektieren zu können. Was jener tut, entspricht der Vollstreckung eines Vollzugs. Einem schaut der Zuschauer nämlich nicht zu: sich selbst.

„Das Vergnügen erstarrt zur Langeweile, weil es, um Vergnügen zu bleiben, nicht wieder Anstrengung kosten soll und daher streng in den ausgefahrenen Assoziationsgeleisen sich bewegt. Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen, „42 heißt es in „Die Dialektik der Aufklärung“. Zuschauen als Konsum ist passives Passieren. Es ist kein Aufpassen, sondern ein bloßes Anpassen, ein Geschehen-Lassen und Berieseln, kurzum: unaufmerksame Aufmerksamkeit. Selbstvergessenheit meint Verdrängung der Aktivität durch Konsum heißt sich einer Abspeisung hingeben. Eins ist zwar begierig darauf, aber es betrifft einen nicht.

Wir merken uns, was wir uns merken sollen, aber wir bemerken nicht, was wir uns da zu merken haben. Unaufmerksame Aufmerksamkeit konditioniert Menschen. Es zieht in uns ein, ohne je nach dem Einlass zu bitten. Wir wissen gar viel, aber wir wissen wenig über Struktur, Absicht und Hinterlist des Merkbaren. Wir stellen uns vorab keine Fragen, auf die die Matrix keine Antwort gibt, ja umgekehrt, deren Antworten sind unsere Fragen gewesen, egal ob wir sie gestellt haben oder ob sie bloß mitgeliefert wurden. Wir sind nicht nur unserer Antworten enteignet, sondern auch der Fragen. Was wir uns zu fragen haben, werden wir nicht gefragt. Jedes geistige Losreissen von dieser Determination unserer Gedanken und Gefühle, ist mit einem Akt höchster Anstrengung verbunden. Um wie vieles leichter ist es da, das zu wollen, was wir sollen. Und wir sollen wollen. Und wir wollen auch. Emanzipation hieße auch die Fragen zu erobern, nicht wie heute sich Antworten in einem „Multiple-Choice-Test“ auszusuchen.

„Kann das Publikum wollen? „, 43 fragte Adorno zurecht. „Je dichter das Netz der Vergesellschaftung geflochten und womöglich ihnen über den Kopf geworfen ist, desto weniger vermögen ihre Wünsche, Intentionen, Urteile ihm zu entschlüpfen. Gefahr ist, dass das Publikum, wenn man es animiert, seinen Willen kundzutun, womöglich noch mehr das will, was ihm ohnehin aufgezwungen wird. Damit das sich ändere, müsste erst die stillschweigende Identifikation mit dem übermächtig Verfügbaren unterbrochen, müsste das schwache Ich gekräftigt werden, das es soviel bequemer hat, wenn es sich unterwirft, und man wird vergebens nach denen suchen, die unter den gegebenen Verhältnissen das möchten und die Macht dazu hätten. „44 „Gäbe es einen Willen des Publikums, und folgte man ihm unmittelbar, so betröge man das Publikum um eben jene Autonomie, die vom Begriff seines eigenen Wollens gemeint wird. Die Willensbildung derer, denen der Wille ausgetrieben ward, stünde im Dienst des fesselnden und unterdrückenden Prinzips. „45 So ist der „Wille selber willenlos. „46 Der Wille der Willigen hat also die Willenlosigkeit zur Bedingung.

Guy Debord schreibt im §9 von „Die Gesellschaft des Spektakels“: „In der wirklich verkehrten Welt ist das Wahre ein Moment des Falschen. „47 Das Wahre kann nur aus dem Falschen herausdestilliert werden. Als das Dementi wider sich selbst. Aufgabe der theoretischen wie der praktischen Kritik ist es nun nicht nur dieses Dementi zu benennen, sondern aus seinem Gehäuse zu befreien. Denn in diesem gefangen, stirbt es früher oder später ab. Das Dementi ist nämlich ein flüchtiges Moment im Falschen, keine Instanz oder gar eine Sache, sondern das Widerläufige und Widerspenstige am Ablauf selbst, das eingeholt, aufgehoben und beseitigt wird, sich jedoch immer wieder in neuen Formen und Aspekten reproduziert. Vom System her betrachtet kann es nur als Systemfehler identifiziert werden, aber dafür hat es (wenn auch ein schwächer werdendes, aber umso aggressiveres) Immunsystem.

Und doch kann das Individuum, dieses besiegte und doch nie versiegende Ich, nicht gänzlich ausgeschaltet werden, das Subjekt selbst ist kein irreversibles Ergebnis, kein endgültiger Bankrott, sondern bedarf selbst der andauernden Fütterung zum Unwesen. „Mitten unter den standardisierten und verwalteten Menscheneinheiten west das Individuum fort, „48 schreibt Adorno. Und dieses Wesen kommt in die Welt, weil die ernsthafte Reflexion der Widersprüche es stets hervorbringt, wenngleich es von den Verhältnissen immer wieder desavouiert wird. Dieses Wesen ist – wenn auch sein Scheitern vorgezeichnet zu sein scheint – die unaufhörliche Negation und das Überlegen von Alternativen. Dieses Wesen ist das versuchte Herausdenken des Bewusstseins aus dem Sein, wo ersteres Nein zu letzterem sagt. Diese Repulsion kann nicht absterben, sooft sie auch abgetötet wird. Daher ist emanzipatorisches Denken, wird es transvolutionär gefasst, auch kein materialistisches Denken mehr.

8. Gerät und Anschluss

Das bürgerliche Subjekt wird hergestellt und reproduziert in Fabriken und Büros, auf Märkten und in Schulen, durch Medien und Freizeit. Wobei die Kulturindustrie die allermeisten Räume (Orte wie Zeiten) des Lebens bereits erobert hat, wo nicht direkt, so indirekt. Der Einzug etwa des Fernsehers nicht nur in die Wohn- und Kinderzimmer, sondern insbesondere auch in die Schlafzimmer erwachsener Personen ist von geradezu „epochaler“ Bedeutung. Aktivität und Erfüllung der Intimität (was auch sexuelle „Eigenproduktion“ meint), ist auch hier weitgehend der Passivität des Konsums gewichen. Anstatt uns zu betätigen, schauen wir lieber zu, und damit sind keineswegs primär Erotiksendungen gemeint, sondern die Befilmung überhaupt. Wer zuschaut, redet nicht, streichelt nicht, bumst nicht. Die scheinbare Anstrengungslosigkeit beim Konsum der bewegten Tonbilder okkupiert einen. Daraus folgt, dass selbst in den intimsten Zonen der Kontrapunkt gegen den Alltag seltener gesetzt werden kann, weil die Konsummaschinen jene erobert haben.

Schon von Kindesbeinen werden wir trainiert: Fernsehen, Videospiel, DVD, Internet, Handy, Gameboy. Und es ist schwierig, die achtjährige Tochter von diesen Leichtigkeiten wegzubringen und zur tatsächlichen Schwierigkeit (in unserem Fall das Cello spielen) zu ermuntern. In der oft üblen Szene des Szenenwechsels (weg vom Kastl, hin zum Musikinstrument), also von Passivität und Getriebe in Aktivität und Kreativität, demonstriert sich des öfteren die Ohnmacht gegenüber den Dingen und ihrer bereits kindlichen Beschlagnahme, die mehr die Beschlagnahme des Kindes als eine durch das Kind meint. Kreative Potenz erscheint hilflos gegen die restriktiven und regressiven Mächte. Die Bequemlichkeit des Sich-Unterwerfens obsiegt über die Momente möglicher Befreiung. Die Kinderstuben sind ein beinhartes Ausbildungslager, das die Disposition verrät.

Es ist zweifellos die Gerätschaft, die den Eltern jene Zeit für die Kinder abnimmt, die sie sowieso nicht zur Verfügung haben. Sie brauchen dann nicht mehr beschäftigt zu werden, denn sie sind es. Rund um die Uhr laufen die Programme. Außerdem geben die Kleinen dann Ruhe, ja gerade die Beunruhigung durch die Filme sorgt im unmittelbaren Resultat für Ruhe. Unruhe, die die Kinder wahrscheinlich sonst nach außen getragen hä

zuerst erschienen in: Krisis 28-2004

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