Streifzüge, Heft 3/1999
Oktober
1999

Freiheitliche Sirenen 2

„2. Lieferung“ einer längeren ‚dialogischen‘ Auseinandersetzung über den Fall Haider und den Rechtsextremismus

Gerhard Scheit: Von „Inklusion und Exklusion“ zu Volk und Vernichtung

Du rekurrierst in deiner Antwort auf eine ursächliche „Basis“, die allen Abstufungen des Identitätswahns zugrunde liege, sei’s nun der Haß auf die fremde „Rasse“ oder der auf die „Oberen“; jener sei gewissermaßen nur der Superlativ, dieser eine darunter liegende Steigerungsform. Um diese Basis zu begreifen, verwendest du das Begrifispaar „Inklusion“ und „Exklusion“. Das ist nun sehr abstrakt, formalisiert — entspricht aber gerade darum durchaus der realen Abstraktion von Kapital und Staat: die ja darauf hinauslaufen, etwas auszugrenzen und einzugrenzen, zu verwerten und abzustoßen, zu integrieren und auszumustern. Aber um zu pointieren, würde ich sagen, es entspricht ihr zu sehr.

Auch Identitätswahn ist eine treffende Bezeichnung für die Bewußtseinsformen, die in allen kapitalisierten Gesellschaften herrschen, um Exklusion und Inklusion zu regeln. Der Identitätswahn jedoch läßt sich — so mein Gegenargument — überhaupt nur von dem her begreifen, was bei dir als Superlativ firmiert: Rassismus und Antisemitismus, Vernichtung. Phrasen wie die vom kleinen Mann werden erst vorm Hintergrund von Volk und Volksgemeinschaft durchsichtig. Auch du schreibst ja, daß „im Alltagspositivismus der bürgerlichen Gesellschaft, im gesunden Menschenverstand, das eliminatorische Programm der Konkurrenz schon angelegt“ sei, „egal wie es sich dann historisch auslegt.“ Nicht egal, würde ich wiederum sagen. Was als historische Auslegung erscheint, ist der Prozeß, in dem das „eliminatorische Programm“ sich konstituiert.

Die Sache, heißt es bei Hegel, „ist nicht in ihrem Zweck erschöpft, sondern in ihrer Ausführung, noch ist das Resultat das wirkliche Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden ...“. Die reale Abstraktion des Kapitals läßt sich nur als Resultat mit seinem Werden begreifen (und, gegen Hegel gewandt: kritisieren), d.h. als permanente Bewegung des Abstrahierens vom Konkreten, als ständiges Verschwinden; die Identitätslogik, der sie folgt, läßt sich ebenso nur im Vollzug verstehen (wer es nicht tut, geht ihr schon auf den Leim): A = A ist kein Vollzug, sondern das Resultat, ohne sein Werden; ein Resultat freilich, das überhaupt nur dann als Wirkliches angenommen werden kann, wenn von seinem Werden vollständig abgesehen wird. Die Begriffe Inklusion und Exklusion taugen ebenfalls zu nichts anderem als zur Darstellung eines Resultats, sie entsprechen der binären Logik: sind bloß sprachliche Ausdrücke für 1 und 0. Und nicht zufällig, scheint mir, verwendest du, wenn du von „Programm“ sprichst, ebenfalls einen Begriff aus der Welt des Computers. (Ist dies nicht darüber hinaus die Grundlage für deinen an sich sympathischen Vermittlungsversuch zwischen Wertkritik und Postmoderne/-strukturalismus — wenn du nämlich Arbeit/Nichtarbeit, Wert/Unwert als „Code“ bezeichnest?)

Daß aber ‚Arier‘ = ‚Arier‘ die Ausgrenzung und Vernichtung derer bedeutet, die als ‚Jude‘ = ‚Jude‘ identifiziert werden, ist mehr als nur das Resultat. Ohne dieses Werden läßt sich die Identitätslogik nicht begreifen und kritisieren. So ist die Differenz zwischen A = A und ‚Arier‘ = ‚Arier‘ bzw. ‚Jude‘ = ‚Jude‘ ein Unterschied ums Ganze. Das Begriffspaar Inklusion/Exklusion kann darum nicht im mindesten die Kritik von Nation und Volksgemeinschaft, Rassismus und Antisemitismus ersetzen: es bezeichnet nicht das, was ihnen zugrunde liegt, nicht ihre ‚Basis‘, sondern im Gegenteil bloß das Resultat ohne sein Werden.

Die Wertkritik ist keine wirkliche Kritik, wenn sie immer nur die abstrakte Logik des Werts verdoppelt. Sie muß den Prozeß der Abstraktion selber sichtbar machen. Also zurück zum konkreten Fall Haider und seinem aufhaltsamen Aufstieg.

Franz Schandl: Bitte retour — Inklusion und Exklusion

Ja, die ideologische Grundlage aller scharf codierten Differenzierungen ist für mich im gemeinen Menschenverstand zu suchen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, daß er noch mehr ins Zentrum der Gesellschaftskritik gerückt werden muß. Jener ist aber keine ursächliche Basis — weder den Begriff Ursache, noch den der Basis habe ich in diesem Zusammenhang verwendet —, sondern der ideelle Reflex der Verwertung, wie er sich den Marktsubjekten in ihrer Alltagserfahrung darstellt, sich in ihnen lebenslänglich sedimentiert.

Inklusion und Exklusion wären somit ein Bewegungsmodus kapitalistischer Zivilisation, es ist damit nicht nur das Resultat beschrieben, sondern auch des Werden desselben, der ganze Prozeß. Ich will damit nicht die Kritik von Nation und Volksgemeinschaft, Rassismus und Antisemitismus ersetzen, aber doch einordnen. Mit der Exklusion und der Inklusion stellt sich Identität und Differenz her, nicht nur dar, wie du nahelegst. Das, glaube ich, kann man zumindest einmal als beachtenswerte Differenz zwischen uns beiden festhalten. Bezogen auf eine kapitalimmanente etwicklungslogische Konstitutionsproblematik ist sehr wohl folgende Frage naheliegend: Zwingt der Rassismus zur Differenzierung, oder zwingt die Differenzierung des Kapitals in Zeit und Raum zur Rasse, zur Volksgemeinschaft, zur Nation, zum Staat? — Auch wenn das eine ohne das andere nicht zu haben ist, ist aus dieser Interdependenz nicht das Fehlen oder eine Umkehrung der Determinanz zu schließen.

Ich vertrete übrigens im letzten Beitrag auch keine binäre Logik, ich versuche diese nur nachzuzeichnen. Das Denken im Code ist nicht meins. Die Luhmannsche Systemtheorie hat mich aber von seiner Wichtigkeit für das bürgerliche Denken zur Strukturierung seiner „Funktionssysteme“ überzeugt.

Es ist im Konkreten nie und nimmer egal, wie bürgerliche Herrschaft sich auslegt, was mir aber wichtig gewesen ist, das ist die Beschreibung der Gemeinsamkeiten, wie sie sich in den Subjekten des Tauschs gestalten. Zu rassistischen Urteilen wird ja deswegen so eilends gegriffen, weil diese dem Alltagsdenken in seiner Beschaffenheit so naheliegend sind. Die völkische Abneigung erscheint gar als Selbstverständlichkeit. Außerordentlich ist es, kein Rassist zu sein, und zweifellos, niemand, aber auch schon gar niemand kann heute behaupten, davon völlig frei zu sein.

Natürlich macht es einen Unterschied, ob man entlassen und obdachlos wird oder ob man ins KZ transportiert und vergast wird. Den möchte ich nicht kleinreden. Aber ganz wichtig ist mir auch, auf das bürgerliche Grundmuster dieser in der Wirkung so eminent unterschiedlichen Tatsachen hinzuweisen. Das (wenn auch von unterschiedlichen Instanzen) ausgestellte Attest lautet in beiden Fällen: Unwertig! Es geht um das Raus, um die Entwertung des Unwerten durch die Verwertung, dessen letzte Steigerung das Aus, das Ausmachen und Auslöschen ist. Im Betriebssystem des automatischen Kapitals fuhrt ein Weg direkt in die Gaskammern. Die Pointe, auf die ich hinauswollte ist, daß der einfache Tausch und die systematische Vernichtung eine Gemeinsamkeit haben. Was ich konstatiere ist folgender Zusammenhang: Erstens: Die Allgemeinheit hat diese Besonderheit in petto. Zweitens: Die Besonderheit ist nur aus ihrer Allgemeinheit erklärbar und entwickelbar. Drittens: Die Besonderheit ist nicht die Allgemeinheit. Unter Allgemeinheit wird die auf den Wert, also auf abstraktifizierter Arbeit, beruhende Gesellschaftsformation verstanden.

Die Zusammengehörigkeit von Kapital und Rassismus, von Demokratie und Volksgemeinschaft ist evident. Bei dir scheint mir eine eigenartige Verklärung vorzuliegen, wenn du Rassismus, Antisemitismus und Vernichtung zu apriorischen Bedingungen machst, nicht zu Verlaufsformen von Kapital und Staat. Auch wenn man aufpassen soll, daß da kein Henne-Ei-Streit draus wird: Pointiert würde ich den Unterschied darin sehen, daß du den Identitätswahn von jenen her erklären willst, ich hingegen ihn zu denen hin erklären möchte.

Identität und Identitätswahn sind nicht gleichzusetzen. Die Identität als Identifizierung ist rationaler kapitalistischer Ausdruck, der Identitätswahn hingegen Ausdruck der spezifisch prekären Situation der bürgerlichen Identität. Ressentiment, das nicht Kritik werden kann. Der Identitätswahn ist deswegen so ausgeprägt, weil das Kapital selbst die Identität als Geldbesitzer (und somit als bürgerliches Subjekt) stets in Frage stellt, daher auch der linke und rechte Ruf an Staat und Nation, für Sicherheit zu sorgen. Rechte und linke Varianten treffen sich im Staat wieder. Er soll sein nicht nur die Garantie des Marktes, er soll auch sein der Schutz vor ihm.

Was mir in unserem Fall relevant erschiene, ist die Festlegung der von Haider vorgelegten Kriterien der Unterscheidung, sowohl ihrer spezifischen Hierarchisierung bei den Freiheitlichen als auch in der Gesellschaft insgesamt. Die elementare Frage freiheitlicher Menschlichkeit lautet nämlich: Wer soll wie und weswegen ausgeschieden werden? Und weiters natürlich: Was geschieht mit jenen?

Mich interessiert in unserer Debatte aber mehr, was da in Österreich losgeht, wohin das abgeht, was da anspricht, wie es sich durchsetzt, wo es durchbrochen werden könnte, was an der Haiderei objektive Bedingung ist und was subjektive Realisierung (das trifft auch umgekehrt auf Haiders Gegner zu): Wo liegen ihre objektiven Schranken und ihre subjektiven Schwächen?