Heft 5-6/2002
November
2002

Für eine nährende Sexualität!

Eine „nährende Sexualität“ zu kultivieren, bedeutet die „umfassenden und tra­genden Aspekte“ innerhalb einer Gesellschaft nicht zu vernachlässigen. Eine Ab­wertung der einerseits so po­sitiv besetzen und anderer­seits so bedrohlichen, weil zur Regression animierenden Bilder vom „Umfassen und Tragen durch eine gute und sinnvolle Sozialpolitik“ [1] trägt zu größerem Leiden bei als die Angst vor der Regression, wie sie etwa in negativen me­dialen Bildern vom „Sozial­schmarotzer“ deutlich wird.

Es gibt einen Zusammen­hang zwischen der Organisa­tion von Gesellschaften und unserem intimen Bezie­hungsleben, und ich denke, dass durch den Aspekt des „Nährenden“ dieser Zusam­menhang deutlich werden kann.

Wenn wir uns verliebt öff­nen und eine andere Person an uns ziehen, diesen Mo­ment von großer Distanz und Leichtigkeit und süßer Nähe in einem sexuellen Akt erle­ben, geschieht das, weil es ein Hochgefühl von fließender Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit im gegenseiti­gen Nähren gibt. Sexualität übernimmt im Gegensatz zu zerstörerischen Impulsen, wie Gleichgültigkeit, Poker Facing, Coolness sehr stark die Funktion eines gegenseitigen, partnerschaftlichen Nährens. Und gerade weil es in der Be­ziehungsgestaltung „Sexua­lität“ diese stark positive und nährende Komponente gibt, wird diese immer wieder ins Gegenteil verkehrt, kommt es also gerade hier zu inten­siven zerstörerischen Vor­gängen.

Es ist notwendig, Zusam­menhänge zwischen der Möglichkeit, Sexualität auf nährende oder zerstörerische Weise zu gestalten, und ge­samtgesellschaftlichen Wei­sen, „Nahrungsströme“ in Form von Anerkennung, in Form von Kapitalien, mate­riellen und symbolischen Gü­tern zu verteilen, in einer Weise deutlich zu machen, wie dies Christian Maier im Folgenden tut.

Der Vater der ‚Urhorde‘, den Freud in Totem und Ta­bu (Freud, 1912/13) einge­führt hatte, wurde in der spä­teren Schrift Massenpsycho­logie und Ich-Analyse wie folgt charakterisiert: „Seine intellektuellen Akte waren auch in der Vereinzelung stark und unabhängig, sein Wille bedurfte nicht der Be­kräftigung durch den ande­rer. Wir nehmen konsequen­terweise an, daß sein Ich we­nig libidinös gebunden war, er liebt niemand außer sich, und die anderen nur, inso­weit sie seinen Bedürfnissen dienten. Sein Ich gab nichts Überschüssiges an die Ob­jekte ab.“ (Freud, 1921, S.138)

Die Vaterimago, die Freud hier entwarf, ist das Bild eines wenig gebundenen Herrschers, sicherlich nicht das Bild eines „nährenden“ Vaters. Freuds Urvater passt zu den Herrschaftsverhält­nissen der industrialisierten Länder mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung, in de­nen das Zurückhalten von Gefühlen bis hin zum An­häufen von „Kapital“ hoch besetzt ist und die gesell­schaftlichen Verhältnisse die narzisstischen Gratifikatio­nen gegenüber den objekt­bezogenen Befriedigungen begünstigen. [2]

Mein Verständnis von Se­xualität stimmt mit dem psy­choanalytischen Begriff von Sexualität [3] insofern überein, als ich davon ausgehe, dass sich der Begriff des Sexuel­len nicht auf genitale Akti­vitäten beschränkt, sondern eine sehr viel größere Anzahl notwendiger körperlicher und zwischenmenschlicher Aktivitäten umfasst. Meinem Verständnis nach ist Sexua­lität und die Gewinnung von Lust nur in einer Verbindung mit „Grundbedürfnissen“, die physiologischer und sozialer Natur sein können, sinnvoll zu verstehen. Die Nahrungsaufnahme als physiologisches Bedürfnis ist da­mit ein Teil von Sexualität und wird von mir als Metapher für bestimmte Aspekte von Sexualität eingesetzt.

Zurück zu Christian Mai­er. Wir kennen das negative Bild dieses Vaters, wir könn­ten es auch das negative Bild der Eltern nennen, das Maier hier mit Hilfe eines Freud-Zitates evoziert. Wir werden, verwandeln uns immer wie­der selbst — und andere ver­wandeln sich für uns — zu dieser unergiebigen, geizigen, mit der eigenen Kraft, Ener­gien und Gefühlen zurück­haltenden, sehr sehr strate­gisch „investierenden“ Bezugsperson, die sparsam und ungeheuer „ökonomisch“ mit ihren emotionalen, körperli­chen, sensitiven, erfahrungs- und erlebnismäßigen „Res­sourcen“ haushalten muss!

Und dennoch gibt so eine Figur wie dieser „libidinös wenig gebundene Vater, der die anderen nur liebt inso­weit sie seinen Bedürfnissen dienen“ eine sehr attraktive Projektionsfläche für die ei­genen Wünsche nach Be­dürfnislosigkeit, Stärke, Autonomie und Unabhängigkeit ab. Mit unserer Bekräftigung wird so eine ungebundene Bezugsfigur zur völlig autar­ken „Zugmaschine“ einer Be­wegung, die scheinbar „kei­ner Bekräftigung“ durch an­dere bedarf und deren Kraft­quellen und Energieströme — selbst wenn sie öffentlich sind — geheim und unsichtbar bleiben, geschützt von den massiven Identifikations­sehnsüchten mit einem un­antastbaren, immunen und „bedürfnislosen“ Reichtum. Dieser selbstbezogene, immer bereits gegen einen mögli­chen Angriff oder eine Aus­beutung von Außen gerich­tete Reichtum, diese Selbst­immunisierung gegen Schwä­che, Bedürfnis- und Bittstel­lungen, gegen Angewiesen­heit, Legitimitätsverlust und Selbstauslieferung, so Maiers Überlegung, macht einen „nährenden Austausch“, macht die Vorstellungen, die Gedanken- und Erlebniswelt eines „nährenden“ Austau­sches unmöglich!

Jedes Lächeln, jeder war­me Ton, jeder Kuss, jede Berührung, jeder Hände­druck, jedes freundliche Wort, jede sexuelle Regung, Annäherung und Phantasie wird getragen von der un­abänderlichen Notwendigkeit eines gegenseitigen, und sei es sehr aggressiv gefärbten, Austausches, der in einer for­cierten kapitalistisch orientierten Dynamik unter dem beständigen Druck gegensei­tiger Ausbeutung stattfinden muss.

Die Fähigkeit, uns in ein „nährendes“ Gegenüber zu verwandeln, das produktiv, kreativ, gebend, spendend mit anderen Menschen in Be­ziehung treten kann, bedarf zur Entfaltung „geschützter Räume“, in denen eine hohe Sensibilität für unsere Bedürfnisse und Sehnsüchte vom sozialen Umfeld ent­wickelt, getragen und gelei­stet werden muss. Diese ge­schützten Räume, diese „ge­schützten“ Weisen des Miteinander-Umgehens bedür­fen zur Kultivierung öffent­licher positiver Symbolisierungen, die verhindern, dass diese geschützten Räume und nährenden Ströme totge­schwiegen, wegrationalisiert, eingespart und entwertet werden.

Diese „geschützten“ Räu­me oder „nährenden Strö­me“, in welchen ein sehr in­timer Austausch überlebens­notwendiger Energien, eine notwendige Weitergabe von Emotionen und Anerken­nung gegenseitiger Bedürf­nisse stattfindet, erfahren in der medialen Öffentlichkeit und damit im öffentlichen Bewusstsein kaum wirksame, nur sehr eingeschränkte Sym­bolisierungen, die Herkunft und Bedingung der Erhal­tung dieser „geschützten Räume“ nicht thematisieren.

Politische Eliten stellen sich am Besten selbst in der Öffentlichkeit als gebende, kraftstrotzende, spendende, handgreifliche, nahe, be­greifbare Bezugsperson dar, deren Kraftquellen, Bedürf­nisse, deren „intime“ Bezie­hungen und hochsensible Freundschaftsverbindungen, deren finanzielle und soziale „Kapitalflüsse“ im Verborge­nen stattfinden. Wie soll es zu Symbolisierungen von nährenden Austauschvor­gängen kommen, wenn alle, die es nur irgendwie leisten können, unmittelbar nach dem „Abstillen“ so tun als hätten sie keine Lust erfah­ren, nichts verdient, nicht abgecasht, sie keinen weitläufi­gen Freundeskreis, sie „kei­ne Nahrung“ aus einem ge­samtgesellschaftlichen Pool an Ressourcen bezogen?

Jemand, die/der selbst wohlgenährt ist, ohne von an­deren, in „medial symbolisierbaren Denkstrukturen“, also auf „sichtbare“ Weise et­was wegzunehmen, zu brau­chen, entspricht den von Maier skizzierten, von kapi­talistischer Ideologie durch­drungenen, gesellschaftlichen Verhältnissen, in welchen es keinen gemeinsamen Pool an Ressourcen, kein „öffentli­ches Allgemeingut“, d.h. aber auch kein gemeinsames Ver­schmelzen, keine gemeinsa­me und nährende Sexualität geben kann, ohne dass diese geplündert, entwertet, ge­schlossen, privatisiert, für an­dere unzugänglich gemacht oder versteckt, bzw. schwer zugänglich gemacht werden muss.

Wie sieht eine Person, ei­ne Institution aus, die der Öf­fentlichkeit, dem gemeinsa­men Pool zwischen zwei Menschen scheinbar immer nur gibt, nie aber etwas dar­aus zu entnehmen scheint, ei­ne völlig immunisierte und bedürfnislose Produktivitätsmaschine also, wie sieht so ei­ne Person, behängt mit allen symbolisch wirksamen wirt­schaftlichen, politischen und akademischen Weihen vor der Folie von Sexualität aus?

Sympathisch, attraktiv. Wir bekommen alle gerne, wir geben alle ungern, wir le­ben in ständiger Angst, dass unsere Rechnung nicht stimmt.

Aber es stellt sich ganz si­cher bei genauem Hinsehen, Erleben und Erfühlen heraus, dass die Poker Faces, jene vordergründig Bedürfnislo­sen und also auch scheinbar nicht Bedrohlichen, deren ge­heimnisvolle Kraftquellen für uns so unsichtbar sind, die so smart, so cool, so sexy sind, dass wir annehmen, sie ha­ben mit unserer energetischen Ökonomie nichts zu tun, durch sie unsere Gier beflügelt und unseren Geiz abgesichert fühlen, dass also diese Personen, die wir sehr bewundern, die wahrhaften Minusposten auf unseren emotionalen, finanziellen und sozialen Bilanzen sind, weil ihre Herkunft aus einem ge­meinsamen Pool an Ressour­cen und Anerkennung nicht mehr erkennbar ist.

Klaus Ottomeyer formu­liert dieses Verhältnis einer wenig nährenden Bezugsper­son, einer wenig nährenden Gesellschaftsordnung, das Christian Maier oben skiz­ziert, in folgender Weise. Die Bedrohung, die in einer for­ciert kapitalistisch organi­sierten Gesellschaft von der Aggressivität, der Konkur­renz, der Abgrenzung und dem Poker Face unseres Ge­genübers strukturell ausgeht, führt zu einem beständigen Mangel und einem beständig zu versteckenden Bedürfnis nach nährenden menschli­chen Beziehungen, wobei sich diese Bedürfnisse, weil sie nicht erkannt, nicht ausgesprochen, nicht öffentlich symbolisiert werden dürfen, in Form eines zerstörerischen Hungers und rücksichtsloser Ausbeutung gegen andere und uns selbst richtet.

In der kapitalistischen Gesellschaft aber, wo eine ex­treme Knappheit an zwischenmenschlichen „Binde­mitteln“ herrscht, an ge­meinsamen Gegenständen für eine fundierte Perspekti­venübereinstimmung und ein wechselseitiges Verstehen — in dieser Gesellschaft muß es notwendig zu einer Überla­stung der sexuellen Bindung mit unbefriedigten sozialen Ansprüchen kommen. Wenn ich auf Grund der enttäuschenden Erfahrung im ka­pitalistischen Markt- und Produktionsbereich beständig mit der angstvollen Fra­ge herumlaufe, ob es eine verlässliche Bindung zwischen mir und den anderen überhaupt gibt, dann bietet sich die Sexualität — und hier insbesondere die leicht meß- und zählbare genitale Betäti­gung — als kurzfristiges Beru­higungsmittel und als buch­stäblich handgreiflicher Ge­genbeweis für diese verbrei­tete Angst geradezu an. Die Fetischisierung von genitaler Sexualität, Potenz, Orgas­mushäufigkeit usw. in der bürgerlichen Gesellschaft muß man vor diesem Hinter­grund interpretieren. [4]

Was ist das für eine „zähl­und messbare“ Sexualität, bei der wir nie aus dem Bilanzenmachen herauskommen, auch wenn eine scheinbar übermächtige, immunisierte Bezugsperson jede Angst vor dem Ausgebeutet-Werden zu verdrängen scheint?

Die Menge an Filmen, d.h. öffentlichen Bildern und Denkstrukturen über dieses Sujet einer/s dominanten, mehr oder weniger zerstöre­rischen, Nahrung zurückhal­tenden Partnerin/s in einer sexuellen Beziehung stellen eine Norm in der medialen und künstlerischen Darstel­lung von Sexualität dar. Sie gilt auch für kritisches Kino, ich erinnere an „Tropfen auf heiße Steine“ nach dem Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder, das Zu­schauerinnen wie Figuren durch das Gefangensein in ei­nem ewig gleichen sexuellen Wiederholungsschema quält, ohne zu Gegenentwürfen vor­dringen zu können.

Eine nährende Sexualität im Gegensatz zu einer zer­störerischen Sexualität muss sich etwas von der Rech­nungslegung emanzipieren können, eine nährende Se­xualität bedarf einer Gesell­schaft, die sich geschützte Räume leisten kann und will, in welchen die Menschen un­abhängig von Status, Ein­kommen und sozialer Her­kunft, so viel aufnehmen und bekommen können wie sie brauchen, um anstehende un­umgehbare Auseinanderset­zungen durchzustehen.

Schneelied

Mein Brunnen ist im Schnee versunken
Und du sankst mit
Von euch zweien habe ich getrunken
Sooft ich litt
 
Jetzt in der Zukunft trink ich Scherben
Und eß mein Blut dazu
Ich will bei Gott um Schneeschnee werben: Kälte sättigt fast wie du
 
in: ’Königinnenflug’ von Margit Macho

Literatur:

  • Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frank­furt: Suhrkamp. 1973
  • Margit Macho: „Schneelied“, in: Königinnenflug. Gedichte. Dublin/New York/Vienna: Edition Mosaic. 1998
  • Möhring/Apsel: Interkulturelle psychoanalytische Therapie. Frankfurt: Brandes und Apsel Verlag GmbH. 1993
  • Klaus Ottomeyer: Ökonomische Zwänge und menschliche Be­ziehungen. Soziales Verhalten im Kapitalismus. Hamburg: Rowohlt. 1984
  • Thomas Rauschenbach: Das sozialpädagogische Jahrhundert. Analysen zur Entwicklung Sozialer Arbeit in der Moderne. Weinheim: Juventa. 1999

[1Eduard Heimann: 1980. S.290f in: Thomas Rauschenbach:
Das sozialpädagogische Jahrhundert. Analysen zur Ent­wicklung Sozialer Arbeit in der Moderne. Weinheim: Juventa 1999 S. 27 „Sozialpolitik ist der institutionelle Niederschlag der sozialen Idee im Kapitalismus und gegen den Kapitalismus, der Idee also von einer sozialen Freiheitsord­nung, welche die arbeitenden Menschen umfassen und tra­gen soll. ... Der Kapitalismus muß ihm wesenswidrige Verwirklichungen zulassen, er muß sich also Sozialpolitik auf­zwingen lassen, weil er auf die Menschen der sozialen Be­wegung angewiesen ist.“

[2Christian Maier: Der Fremde und der Zauberer, in: Möhring/Apsel: Interkulturelle psychoanalytische Thera­pie. 1995. S.175

[3Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frank­furt: Suhrkamp. 1973. S. 466 „In der psychoanalytischen Erfahrung und Theorie bezeichnet Sexualität nicht allein die Aktivitäten und die Lust, die vom Funktionieren des Genitalapparates abhängen, sondern eine ganze Reihe von Erregungen und Aktivitäten, die bereits in der Kindheit be­stehen und eine Lust verschaffen, die nicht auf die Stillung eines physiologischen Bedürfnisses (Atmung, Hunger, Ausscheidungsfunktion) reduzierbar ist.“

[4Klaus Ottomeyer: Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen. Soziales Verhalten im Kapitalismus. Ham­burg: Rowohlt. 1984. S.137

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