ZOOM 3/1998
Juni
1998

Gmeiners Gemeinsinn

In ZOOM 1/98 veröffentlichten wir Franz Schandls Beitrag „Über Dialektik und Dimension der Gewalt“. In der letzten Ausgabe folgte eine nicht unscharfe Kritik von Manfred Gmeiner („Schwafeln über Gewalt“). Unterschiedlicher können Positionen und Begriffe schwerlich sein – Franz Schandl versucht in Folgendem, die seinen zu verdeutlichen. Zwischen den beiden bisher vorgetragenen Positionen – oder auch jenseits dieser – vermuten wir reichlich Raum für weitere Diskussionsbeiträge und würden solche sehr begrüßen.

Der gemeine Menschenverstand, den man, als bloß gesunden (noch nicht kultivierten) Verstand, für das geringste ansieht, dessen man nur immer von dem, welcher auf den Namen eines Menschen Anspruch macht, gewärtigen kann, hat daher auch die kränkende Ehre, mit dem Namen des Gemeinsinnes (sensus communis) belegt zu werden; und zwar so, daß man unter dem Worte gemein (nicht bloß in unserer Sprache, die hierin wirklich eine Zweideutigkeit enthält, sondern auch in mancher andern) so viel als vulgare, was man allenthalben antrifft, versteht, welches zu besitzen schlechterdings kein Verdienst oder Vorzug ist.

(Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), Werkausgabe Band X, Frankfurt am Main 1991, S. 225.)

Ein Mißverständnis sei gleich vorweg geklärt: Bei dem in der ZOOM 1/98 veröffentlichten Diskussionsbeitrag „Über Dialektik und Dimension der Gewalt“ handelt es sich um die überarbeitete Kurzfassung zweier in der Volksstimme (Nr. 22 + 23/95) erschienener Artikel nach dem Anschlag in Ebergassing: Jene Passagen, die sich mit diesem direkt, den autonomen Ungereimtheiten oder den grünen Plattheiten auseinandersetzen, sind rausgekürzt worden. Sie sind aber nachlesbar. Die Neufassung wollte nicht konkretisieren, sondern von den Ereignissen abstrahieren; theoretisieren, was meint verallgemeinern in bestem Sinne.

1.

Den Vorwurf der Begriffslosigkeit kann bloß einer machen, der völlig befangen ist in der positivistischen Begriffshuberei. Wer so verliebt ist in sein Alltagsverständnis, tut sich wahrscheinlich schwer mit unserer dialektischen Hermeneutik. Jenes besteht auf metaphysischen Kategorien, auf festen Definitionen à la: Gewalt ist ... Genau dem wollte unser Beitrag aber entgehen. Das Changieren der Kategorien ist nicht nur erlaubt, es ist geradezu geboten. Da werden also wirklich zwei Sprachen gesprochen. Differenziertere Erkenntnisse werden daher von unserem Kontrahenten als Geschwafel wahrgenommen. In seiner Logik können sie auch gar nichts anderes sein.

Es ging jedenfalls darum, Gewalt von der antiquierten eindimensionalen Assoziation unmittelbarer und direkter Handgreiflichkeit loszulösen, die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt als Gewaltverhältnisse begreifbar zu machen, Gewalt als immanente Obligation, nicht als exterritoriale Besonderheit zu erläutern. Aus all dem war zu schließen, daß Gewalt heute nicht einfach beseitigt werden kann. Keine pazifistische Direktive vermag daran etwas zu ändern, kein politizistischer Eifer, der stets meint, daß das schon ginge, würde man die „richtigen“ Interessen durchsetzen. Gewalt ist keine subjektive Willensform, sondern eine aufgeherrschte, weil herrschende Kommunikationsform.

Im Prinzip ist der ganze Artikel ein aktueller Versuch der Ausdifferenzierung einer adäquaten Begrifflichkeit. Gewalt ist eine kritische und prekäre Kategorie, keine positive. Diese hat viele ausufernde Dimensionen, die gleichzeitig jenen alten Begriff (der Handgreiflichkeit) überwinden. Daß sich ein krudes Gewaltverständnis in Zeiten atomarer Bedrohung und gentechnischer Großversuche auflöst, sollte eigentlich selbstverständlich sein.

2.

Manfred Gmeiner unterstellt, daß wir eine Fürsprache für die Gewalt halten. Geschrieben steht jedoch lediglich – und das ist eine zentrale Aussage –, daß Gewalt unter den gegebenen Umständen nicht ausgeschlossen werden kann, daß mit ihr gerechnet werden muß. Die Notwendigkeit wird als Notwendigkeit eingeführt, ist nicht als „Plädoyer für die Notwendigkeit“ zu lesen, wie Gmeiner behauptet. Wir weigern uns aber, Ziel und Weg zu verwechseln, ständig Zweck und Mittel durcheinander zu bringen. Wer Gewalt verachtet, muß sie richtig einschätzen können, ansonsten manifestiert sich darin bloß Hilflosigkeit. Wer Gewalt weghaben will, darf sie nicht leugnen.

Ärgerlich ist vor allem, daß der skizzierte Taschenspielertrick jenem eines Andreas Khol nicht unähnlich ist. Wer die obligaten Bekenntnisse nicht liefert, wird als potentieller Gewalttäter stigmatisiert. Einfache Feststellungen der Rolle der Gewalt in der bisherigen Geschichte werden als Lobgesang aufgefaßt, zustimmende Stellungnahmen zu bestimmten Gewaltakten als Gewaltverherrlichungen. Diese grobschlächtige Argumentation baut auf Ignoranz und setzt auf Ignoranz. Sie kann oder will Erkenntnis und Bekenntnis nicht auseinanderhalten. Derweil ist gerade das unbedingt erforderlich. Wir atmen schlechte Luft, ohne dafür zu sein, wir unterziehen uns chirurgischen Eingriffen, ohne zu applaudieren, wir essen ungesunde Nahrung, ohne in Ovationen auszubrechen. Dabei-sein meint nicht Dafür-sein.

Der Gewaltvorwurf ist der Knüppel der etablierten Politik gegen jedwede radikale Opposition. Er dient dazu, Aufbegehren apriori in die gesetzlichen Schranken zu weisen und obligate Staatsbekenntisse einzufordern. Ein Musterbeispiel für die Domestikation der Grünen war etwa die 6. Sitzung der XVII. Gesetzgebungsperiode am 4. März 1987 (Opernballdebatte). (Vgl. dazu: Franz Schandl/Gerhard Schattauer, Die Grünen in Österreich, Wien 1996, S. 404ff.) Dort wurde vorgeführt, was Gmeiner auf ganz gewaltfreie Weise nachvollzieht.

Eine abstrakte Negation von Gewalt ist Unsinn. Sinnvoll ist der ständige Versuch, sie zu vermeiden bzw. wo das nicht möglich ist, sie gezielt anzuwenden: „Ich leugne nicht, Sabotageakte geplant zu haben. Ich habe sie allerdings nicht aus Verantwortungslosigkeit geplant, und auch nicht, weil ich ein Anhänger von Gewaltakten bin. Diese Pläne entsprangen einer nüchternen Beurteilung der politischen Lage, wie sie sich nach vielen Jahren der Tyrannei, der Ausbeutung und Unterdrückung meines Volkes durch die Weißen ergeben hatte. (...) Wir riefen aus zwei Gründen die UMKONTO ins Leben: erstens, weil wir glaubten, daß die Regierungspolitik unvermeidbar mit Gewaltakten der afrikanischen Bevölkerung beantwortet werden würde, auch waren wir davon überzeugt, daß ohne die Lenkung verantwortungsbewußter Führer diese Volkswut zu Terrorausbrüchen führen mußte, die mehr Bitterkeit und Haß säen würden als ein offener Krieg; und zweitens glaubten wir, daß dem afrikanischen Volk in seinem Kampf gegen die Vorherrschaft der weißen Rasse nur noch ein einziges Mittel verblieben war, um sich durchzusetzen: die Anwendung von Gewalt.“ (zit. nach: Hans-Eckehard Bahr (Hg.), Weltfrieden und Revolution in politischer und theologischer Perspektive, Frankfurt am Main und Hamburg 1970, S. 82.) Nelson Mandela war das übrigens, 1964.

3.

Reden wir doch über konkrete Gewaltakte. Ist der Einmarsch der Nazi-Truppen in der Sowjetunion gleichzusetzen mit dem der Roten Armee im Deutschen Reich, sind die terroristischen Anschläge des Vietcong gleichzusetzen mit dem Bombardement der Amerikaner, sind die Überfälle der Contras gleichzusetzen mit jenen der Sandinisten auf die Somozisten, sind die Übergriffe der Tito-Partisanen gleichzusetzen mit denen der Ustascha-Faschisten?

Formal jederzeit, da passierte zweifellos ähnliches. Auch die Guten waren da nie so gut, wie die heutigen Guten meinen, daß die damaligen Guten gut gewesen sein müßten. Wären die so gut gewesen, wie sie gut hätten sein sollen, wären sie wahrscheinlich schnell tot gewesen. Wofür wir wirklich plädieren, ist der Abschied von der Geschichtslosigkeit: Wider die Blindheit, die Welt vor lauter gutgemeinten Vorsätzen nicht sehen zu wollen!

Ein Standpunkt jenseits von Verklärung und Abgesang tut not. Die Linke und ihre Heroen, das ist nämlich auch so ein Kapitel: Nicht als lebendige Gestalten, sondern als personifizierte Projektionsflächen bestimmter Tugenden werden sie illuminiert. Wenn man dann von manchen Lastern, ja Grausamkeiten erfährt (und das passiert früher oder später immer), dann wendet sich der westliche Demokrat, der feinsinnige Intellektuelle, der sensible Pazifist schnell ab. Ja, wenn er das gewußt hätte. (Manche haben „Glück“ durch Unglück: Des Nelson Mandelas Weste ist z.B. nur deswegen so weiß, weil ihn die Rassisten dreißig Jahre weggesperrt hatten. Die seiner Ex-Frau oder führender ANC-Militärs schaut da ganz anders aus.)

Womit übrigens auch gleich Gmeiners Frage beantwortet ist, ob „Freiheit beschneidende Organisationen wie das Militär Träger progressiver Gewalt sein können“. Sie können. Hierzulande waren die alliierten Truppen gegen die Nazi-Armee eine emanzipatorische Kraft, die dazumals (!) jede Unterstützung verdient hat. Wer gegen diese Gewalt gewesen ist, der war objektiv für die Nazis. Die Liste ähnlicher, wenn auch nicht so krasser Beispiele wäre fortsetzbar, auch wenn unser Trachten in die Richtung zu gehen hat, daß hier nicht auch zukünftig eine Fortsetzung der anderen folgen muß.

Doch reden wir von jüngeren Beispielen: Der Widerstand gegen die WAA in Wackersdorf hat sein Ziel erreicht, weil er in eine regionale und militante Struktur eingebettet gewesen ist, die auch vor Sabotageakten nicht zurückschreckte. Sogar Hausfrauen und Dorfpfarrer begründeten die Aktionen vor laufender Kamera. Die Palmers-Entführung oder der Anschlag in Ebergassing hingegen waren destruktive Akte des Widerstands. Der Fehler bestand nicht darin, zur Gewalt gegriffen zu haben, sondern in per se völlig unsinnigen und untauglichen Aktionen, bei denen niemand fähig gewesen ist, die Dimensionen auch nur ansatzweise zu ahnen. An diesen Akten konnte sich nichts entwickeln, stets war Schadensbegrenzung angesagt, wobei aber nicht alleine die Akteure den Mist anrichteten, sondern ebenso die eilfertige Friedenskompanie der Distanzierer und Bekenner.

Ob und welche oppositionelle Gewalt zulässig, sinnvoll und adäquat ist, entscheiden die konkreten Bedingungen. Gewalt diskutierte der erste Beitrag daher unter dem Titel einer optionalen Größe. Punkt 7 und 8 führen einige Kriterien aus, es ist nachzulesen. Ansonsten: Wer nicht lesen kann, der nicht lesen kann.

4.

Das Gewaltmonopol war durchaus (wie der Rechtsstaat) eine historische Errungenschaft, es ist aber letztlich eine Durchgangsstufe der menschlichen Vergesellschaftung. Wie die notwendige Aufhebung von Recht und Gewalt aussehen könnte, das wissen wir ganz einfach nicht, was wir angeben können, ist, daß dessen negative Auflösung heute schon um sich greift, die Schranken des Rechts, die Grenzen der Demokratie, die Unfähigkeit des Staates sich abzeichnen. Was diese mitunter gefährlicher und unberechenbarer macht.

Daß überstaatliche Gewaltinstanzen (z.B. im Rahmen der UNO) heute von einem zwischenzeitigen Interesse sein könnten, sollte nicht vorschnell abgestritten werden. Daß es hier auch zu militärischen Eingriffen kommen kann, darf nicht ausgeschlossen werden. Intervention ist nicht gleich Intervention.

Synthetisierung der Gewalt meint schlußendlich nicht bloß die angestrebte (schrittweise) Aufhebung des Gewaltmonopols durch die Überwindung jedweder materiellen Bedrohung, sondern wendet sich auch ganz entschieden gegen die regressive Auflösung des Gewaltmonopols in unzählige Gewaltpole (Mafiotisierung). Synthetisierung heißt, daß die zivilisatorischen Errungenschaften nicht hinter uns gelassen werden, sondern auf einer neuen Ebene neue Qualität annehmen können, somit in etwas anderes transformiert werden. Die Kritik des Rechts ist kein Plädoyer für das Unrecht, die Kritik der Gewaltlosigkeit nicht die Propaganda der Gewalt, die Negation der Demokratie nicht der Aufruf zur Diktatur. Es geht nicht mehr um diese internen Gegensätze, sondern um das Bezugssystem insgesamt.

Das gegenwärtige Problem ist, daß die Möglichkeit zur Intervention eine ausschließliche Sache des reichen Nordens geworden ist, daß die ökonomischen Interessen und ihre Staatsapparate bestimmen, was zu geschehen hat. Aus dieser Kritik folgt jedoch kein Bekenntnis zu irgendeiner prinzipiellen Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Diese als Grundsatz prolongiert bedeutete nichts anderes, als ein ahistorisches Bekenntnis zur Form von Nation und Staat abzulegen. Gerade darum kann es aber nicht gehen, deshalb ist auch die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung und eigenständiger Entwicklung mehr und mehr prekär, ja unbrauchbar geworden. Die Integrität der Staaten löst sich mit fortschreitender Globalisierung auf, es geht darum, diesen Prozeß positiv zu wenden und zu dimensionieren, ihn nicht mit alten Konzeptionen aufzuhalten. Ansonsten steht man bald in einer Front mit dubiosen Nationalisten (Marke Novak) verschiedener Couleur.

Das Dilemma verdeutlicht sich auch auf der Ebene der Strategie. Während die einen schön langsam der Interventionitis verfallen (z.B. die Grünen), tun andere noch immer so, als sei die Nichteinmischung der Weisheit letzter Schluß. Daß beides vielleicht falsch sein könnte, will nicht so recht in die Köpfe, hat man doch im Dualismus des Dafür oder Dagegen? denken gelernt. Daß dieser vielleicht desavouiert werden sollte ... – aber woher denn? Unser letzter Beitrag hat gerade an den abgenötigten Fangfragen („Bist du für oder gegen Gewalt?“, „Bist du für oder gegen das Gewaltmonopol?“) versucht, die Verhältnisse ins Tanzen zu bringen, den Abschied vom banalen Bekenntnis einzuläuten. Denn genau das ist notwendig: Die herrschenden Fragen sind in Frage zu stellen. Das Monopol der Fragestellung ist zu enteignen.

Gewalt als Mittel gesellschaftlicher Auseinandersetzungen kann nur dann überwunden werden, wenn die materiellen Voraussetzungen dies ermöglichen. Wenn Gewalt keine eherne Konstante menschlicher Geschichte ist – und da stimmen wir mit Gmeiner überein –, dann gilt es die Bedingungen der Befreiung von Gewalt zu diskutieren. Das abstrakte Postulat hingegen trägt nicht weit. Hier ist auch der Grund zu suchen, warum viele (ehemalige) Friedenskämpfer ihren Frieden nun gerade mit der NATO schließen, nichts mehr anderes darstellen als die linke Flanke westlicher Hegemonie.

5.

Gmeiners Methode ist eine sachliche, somit eine beschränkte. Daher sondert er die Gewalt willkürlich aus. Sie wird dämonisiert, nicht in ihren Zusammenhängen diskutiert. So findet er in den Erfindungen etwas, das angeblich mit der Gewalt absolut nichts am Stecken haben soll. Es wird gerade so getan, als sei eine Erfindung etwas, das sich der Lust und Laune ihres Schöpfers schuldet. Mitnichten. Denken wir etwa an die vorherrschende und sich immer weiter durchsetzende friedliche Computertechnologie, die primär nichts anderes ist als ein Abfallprodukt der Kriegsindustrie. Man muß stets nur genau schauen, um die versteckten Gewaltverhältnisse in den Dingen aufzuspüren. Es gibt keine Parallelwelten.

Unsere Verhältnisse sind Gewaltverhältnisse, eine metaphysische Unterscheidung von ziviler Gesellschaft und gewalttätiger Form ist letztlich nicht zielführend. Im Gegenteil, die isolierte Kritik wäscht die Verhältnisse weiß, läßt das Unliebsame als fremden Zusatz erscheinen. Wogegen wir angehen, das ist die eklektizistische Sicht gesellschaftlicher Wirklichkeit, die, was ihr paßt, als positiv affirmiert, und das, was ihr nicht paßt, als negativ denunziert. Daß das Affirmierte und das Denunzierte möglicherweise nur unterschiedliche Ausdrücke ein- und desselben sind, das will ihr nicht und nicht einleuchten.

Die Durchsetzung der hehren Menschenrechte etwa ist völlig undenkbar ohne Kolonialismus, Kinderarbeit, Arbeiterelend. Das mag man nun nicht sympathisch finden, übersehen sollte man es nicht. Der historische Zusammenhang von Akkumulation und Ausbeutung einerseits und Verrechtlichung und Demokratie andererseits ist jedoch evident.

Die sachliche Sicht der Dinge zerreißt das gesellschaftliche Ganze, seziert es in säuberlich trennbare gute (Demokratie, Politik, Rechtsstaat, Gerechtigkeit) und böse (Diktatur, Bürokratie, Militär, Gewalt, Polizei) Aspekte. Das Zueinanderpassen will man partout nicht wahrhaben. Man kann die Demokratie nicht ohne Bürokratie und Populismus, den Nationalstaat nicht ohne Militär und Chauvinismus, den Rechtsstaat nicht ohne Polizei und Gefängnisse, das Recht nicht ohne Gewalt, die Politik nicht ohne Krieg haben. Wer das eine ohne das andere denkt, denkt nicht. Zumindest nicht weiter, als die Staatsbürgerkunde es den Staatsbürgern erlaubt.

6.

Gmeiner schreibt: „Wenn sich Menschen mit Gewalt gegen das von Herrschaft gesetzte Recht wehren, so tun sie das, wie Barrington Moore in ‚Ungerechtigkeit‘ analysiert, aus einer Vorstellung von Gerechtigkeit heraus. Diese Gerechtigkeit hat sehr wohl etwas mit gesellschaftlichen Spielregen und Ordnung, also auch mit Recht zu tun.“

Benennen wir sie auch gleich. Die Spielregeln sind das Wertgesetz und die Ordnung ist das Kapitalverhältnis. Genau darin liegt aber auch der Kardinalfehler vieler Radikaloppositioneller, daß sie ihren Widerstand ganz selbstverständlich auf den bürgerlichen Postulaten (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit) aufbauen. (Vgl. dazu ausführlicher: Franz Schandl, Jenseits der Gerechtigkeit, Weg und Ziel Nr. 2/97, S. 68ff.; bzw. ders., Kreislauf der Ignoranz, Streifzüge 2/1998, S. 1ff.)

Gmeiners Artikel macht jedenfalls deutlich, daß Recht, Staat, Politik, Demokratie, Gerechtigkeit, nicht als bürgerliche Inhalte, sondern als quasi menschliche Grundformen angesprochen werden, sie sind jeder Überlegung positiv vorausgesetzt. Die Realkategorien werden von den realen Verhältnissen abgelöst. Daß für Gerechtigkeit alle sind (Haider, Khol, Klima und Gmeiner), verstört nicht. Schandl dagegen muß jenseits von gut und böse sein, wenn er sich ernsthaft gegen die Gerechtigkeit ausspricht.

In einer befreiten Gesellschaft wird es allerdings nicht bloß den Staat nicht geben, sondern auch keine Demokratie, kein Recht und keine Gerechtigkeit. Die gehören nämlich allesamt zur bürgerlichen Epoche, sind Ausdruck der Kapitalherrschaft. Mit ihr substantiell verbunden, werden sie mit ihr untergehen. Emanzipierte Kommunikation kann nur gerechtigkeitslos gedacht werden. Wird sie als Verwirklichung der Gerechtigkeit gedacht, sind wir nicht weiter, als wir jetzt sind: da geht es dann um Proportionen, Verteilungskämpfe, Interessen. Die alte Litanei eben. Solange die Portion von der Proportion abhängig ist, wird es Gerechtigkeit und Gewalt geben müssen.

„Das Gerechte ist also etwas Proportionales“, wußte schon Aristoteles (Nikomachische Ethik, Buch V, Stuttgart 1969, S. 127 [1131a 21-b 9]. „So ist das Gerechte als ein Regulierendes nichts anderes als die Mitte zwischen Verlust und Gewinn.“ (Ebenda, S. 129 [1131b 32-1132a 19]. Was dann heißt: „Das Gerechte ist folglich die Achtung vor Gesetz und bürgerlicher Gleichheit, das Ungerechte die Mißachtung von Gesetz und bürgerlicher Gleichheit.“ (Ebenda, S. 120 [1129a 19-b 4].

Gerechtigkeit ist nichts anderes als eine begriffliche Abstraktion äquivalenten Tauschens. Sie meint die gesellschaftlich kodifizierte, proportionale Zuteilung von Ansprüchen, d.h. von Geld, Waren oder Leistungen an verschiedene Individuen oder Gruppen. Kommt es zu Streitigkeiten, dann entscheidet die bürgerliche Justiz.

Die Frage nach der Gerechtigkeit ist immer eine nach dem Recht. Und was Recht ist, ist letztendlich eine Frage der gesellschaftlichen (nicht zu verwechseln mit der politischen!) Gewalt. Die reine Gerechtigkeit wäre demnach die reine Gewalt. Ansonsten ist Gerechtigkeit eine Leerformel, mit der sich dieses und jenes einbilden, behaupten und verlangen läßt. Etwas überspitzt könnte man sagen: Gerechtigkeit ist die subjektive Gewalt, die man nicht hat.

Die gemeinhin eingeforderte Gerechtigkeit kann also nichts anderes sein als die abstrahierte Seele gewünschter Gesetzlichkeit, letztlich zugespitzte bürgerliche Moral in ihrer ideellen Form. Sie repetiert auf ideologischer Ebene, was ökonomisch sowieso faktisch ist, und hält bis zum Überdruss das Ganze auch noch für einen Widerspruch und nicht für eine Entsprechung.

Damit es in aller Gemeinheit gesagt ist: Wer für Gerechtigkeit ist, ist für den Kapitalismus, der nichts anderes ist als jene.

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