Streifzüge, Heft 60
März
2014

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Ich wohne anders

Wie möchte ich eigentlich mein Leben leben? Diese mir sehr wichtige Frage umfasst viele Aspekte und einer davon ist mein Wohnumfeld. Ich wohne seit einem guten Jahr in einem Mehrgenerationen-Wohnprojekt, und mein Alltagsleben hat sich dadurch ziemlich verändert. Es ist vor allem reicher geworden; reicher an (geschütztem) Raum, an Möglichkeiten und Lernerfahrungen und reicher an Begegnungen. Ich habe hier einen Raum für Entwicklung und Reflexion gefunden, und der intensive Kontakt zu Menschen gibt mir Stabilität und Halt. Was uns verbindet, ist eine ökologisch und sozial nachhaltige Lebensvision, wir wollen gemeinsam gut wohnen.

Was das gute Wohnen ausmacht? Unsere Wohnungen sind tendenziell kleiner als in anderen Neubauten, dafür haben wir große Gemeinschaftsräume, die im übertragenen wie im Wortsinne Raum für Begegnung, Spaß und Freude miteinander bieten. Sie bilden das bunte, vielfältige Herz des Projekts, denn dort wird getanzt, meditiert, gesungen, musiziert, getagt, geplant, diskutiert, Filme geschaut, gespielt, gegessen und gefeiert.

Wir nutzen und kümmern uns gemeinsam um viele unserer Ressourcen. Das beginnt bei Haushaltsgegenständen im Ausleihregal, geht über den Verschenketisch und den Kleidertausch hin zu Gemeinschafts-KFZ, Werkraum, Bibliothek und natürlich den großen Garten. Dadurch gibt es eine Menge zu tun, denn die Selbstverwaltung der Genossenschaft und die Organisation des gemeinsamen Lebens wollen gemeistert werden. Freiwilligkeit, persönliches Interesse, Motivation und Fähigkeiten sind dabei die Prinzipien, die wir zu verfolgen versuchen.

Ein bekanntes Phänomen hier ist das „Zeitloch“, denn so ein Gang zur Waschküche oder zum Kompost kann schon mal eine gute halbe Stunde dauern oder in einem gemeinsamen Abendessen enden. Die Möglichkeiten, auf Menschen zu treffen, Freude und Leid zu teilen, sich auszutauschen oder Unterstützung zu erfahren, sind vielfältig und groß. Hier lerne ich immer wieder aufs Neue, dass die Gemeinschaft, die ich mir wünsche, nicht automatisch entsteht und zu mir kommt, sondern ich muss sie aktiv mitgestalten, damit sie sich mir erschließt. Sobald ich das tue, beschenkt und bereichert sie mich ungemein. Denn mein Alltag hier ist erfüllt mit vertrauensvollen Begegnungen mit mir wichtigen Menschen.

Ich mache mir trotzdem keine Illusionen. Wir erleben hier beide Seiten, sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen und Widersprüche unserer Gemeinschaft. Ich erkenne in vielem, was wir hier tun und wie wir hier leben, einen anderen Stil, eine andere Qualität, miteinander umzugehen, als es „da draußen“ stattfindet. Es gibt hier mehr Bereitschaft zu Auseinandersetzungen mit uns selbst. Es geht nicht nur um Können und Haben. Es geht auch um Freiwilligkeit, Motivation, Lust, Freude. „Viel ist möglich, wenig muss“ – so wird manchmal unser Zusammenleben charakterisiert. Deswegen passiert allerdings vielfach auch weniger, als ich mir wünsche. Es scheint, als sei vielen nicht klar, über welches Potential wir verfügen. Unsere Prozesse sind sehr langsam, da bremst das Kollektiv dann die Kreativität und den Mut einzelner aus.

Unsere Heterogenität ist mir sehr wichtig, und sie ist häufig sehr bereichernd, aber die rechte Balance zu finden, ist schwierig. Ich empfinde uns häufig als sehr konservativ, geradezu ängstlich vor der eigenen Courage. Es gibt (zu) wenig gemeinsame Reflexion über unsere Möglichkeiten innerhalb der Bewohnerschaft, aber auch in der uns umgebenden Gesellschaft, Veränderungen anzustoßen. Denn so gern wir es wären, wir sind kein Abbild dieser Gesellschaft, sondern eine kleine Nische. Eine kleine Nische mit dem Potential, Impulse zu geben. Es ist nicht das Paradies, aber der beste mir momentan mögliche Ort zu wohnen und innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu leben.

Sarah Scholz

Landnahme

Auch mich hat das Mapping-Fieber gepackt. Mapping, so nennt man das Erfassen von Geodaten in der Community von OpenStreetMap (OSM).

Am Anfang reizten vor allem die weißen Flecken. Unbekanntes Terrain für die Community, das erschlossen werden will. Also hinaus in die Welt und Daten sammeln, Wissen befreien und damit bislang so vernachlässigten Aktivitäten wie Radfahren und Spazierengehen eine übergeordnete Bedeutung geben. Sinnstiftung für das, was ohnehin schon Spaß macht, dem Alltag aber bislang immer nur abgerungen werden konnte als so genannte „Freizeit“. Außerdem ist Mappen eine wunderbare Beschäftigung für mehrere Personen – ob zu zweit oder in der Gruppe, es macht gemeinsam einfach noch mehr Freude. Einer setzt die Wegpunkte, der oder die andere hält per Audio, Foto oder mit Stift und Zettel fest, was in die Karte für diese Stelle eingetragen werden soll. Das alles wird später beim Eintragen noch einmal durchgesprochen, das HowTo wird zu Rate gezogen – sah unser Weg wirklich auch so aus? Und wie nennt man Gestrüpp zwischen den Feldern? Was wie lästige Arbeit klingt, ist aufregende Vertiefung des Gesehenen, Rekapitulation des gemeinsam Erlebten.

Das Fieber, der Suchtfaktor kommt dann von ganz alleine. Das Mappen beginnt mit einem Weg, der noch nicht in der Karte verzeichnet ist. Doch diesen Weg kreuzen andere – auch sie wollen in jeder Hinsicht erfahren werden. So kommt jedes Mal ein Puzzlestück hinzu, und die Neugier auf die angrenzenden Wege und Gebiete wächst. Die Entdeckungsreisen werden gezielt geplant, um Lücken zu schließen. Und jedes Mal sehen wir etwas Neues – einen Teich, ein Wasserhäuschen, eine Brücke. War das schon immer hier? Ich bemerke es erst jetzt, wo es gilt, die Karte zu vervollständigen. Nichts ist unwichtig und erstaunlicherweise gibt es für das alles ein Wertepaar, mit dem es eingetragen werden kann.

Durch das Einzeichnen verändert sich auch meine Sicht auf die Umgebung. Denn mit dem Aufzeichnen und Protokollieren der zurückgelegten Wege ist es ja nicht getan. Meine Punktwolke soll Spuren hinterlassen in der Karte. Ich zeichne also eine Linie entlang der aufgezeichneten Punkte und erinnere mich: Dies war der Feldweg, der so breit und matschig war. Und dieser Punkt bedeutet: Jägersteig. Im OSM-Wiki finde ich Erklärungen und Beispiele, die mir helfen, meine Wahrnehmungen zu ordnen. Mit diesen Kategorien im Kopf sehe ich beim nächsten Ausflug genauer hin, weiß, worauf ich achten muss, um meine Erfahrungen in der Karte korrekt dargestellt zu sehen. Eine Bank ist eine Bank, doch sie kann auch mit oder ohne Lehne sein, aus Holz oder Plastik. Wofür ist das wichtig? Ich weiß es nicht, aber es könnte doch sein, dass irgendwann einmal jemand genau das wissen möchte.

Das HowTo des OSM-Wiki wird zur Quelle des Staunens, was es alles gibt und was für Diskussionen vermeintlich einfache Tatsachen auslösen können. Stromleitungen mappen – ja klar, denn es gibt sie ja schließlich. Aber wie? Was ist wichtig? Voltzahl? Anzahl der Adern in einer Leitung? Was zunächst übertrieben klingt, hat doch seine Berechtigung, und ich lerne einiges über die überirdische Stromversorgung in unserem Lande. Noch mehr darüber erfahre ich bei einem kleinen Mappertreffen im Norden, wo ich jemanden kennenlerne, der sich auf Verteilerkästen spezialisiert hat. Auch eine Sicht der Welt. Außerdem zeigt er uns, wie Google Maps vergiftete Informationen in seine Karten einbaut, um Lizenzverstöße ahnden zu können. Wie verrückt ist das denn? Da werden bewusst Fehler in eine Karte eingebaut, um das Geschäftsmodell zu schützen – wehe dem, der gerade in diesem Abschnitt eine Adresse sucht.

All die kleinen Straßen und Dörfer, die Feldwege, das große Waldstück haben wir durch das Mappen entdeckt, erfasst und begriffen – und dadurch für uns in Besitz genommen. Natürlich glaubte ich vorher, meine nähere Umgebung zu kennen, aber sie dann in der freien Weltkarte abgebildet zu sehen, macht mich doch so stolz und froh, als hätte ich sie selber erschaffen. In Besitz nehmen durch Teilen – das ist meine wichtigste OSM-Erfahrung.

Heute weiß ich wohl: Nicht fürs Rendering – also die Darstellung in der Karte – mappen wir, sondern um zukünftige Karten zu ermöglichen, die ganz andere als geographische Fragen beantworten können sollen. Es gibt so viele Details am Wegesrand, die Auskunft geben über die Beschaffenheit meiner Umwelt, die ich für OSM und über OSM wieder für mich erschließe. Zum Beispiel Schilder, die bisher immer unbeachtet blieben wie etwa die für das in hessischen Wäldern vorherrschende Privateigentum! Aber auch die kleinen grünen Schilder, die dem Rettungsdienst als Anfahrtspunkte dienen. Wer weiß schon, dass es diese sinnreiche Einrichtung gibt?

Es gibt so viele unterschiedliche Weltanschauungen, und OSM hat Platz für jede. Was wichtig ist, entscheidet der Nutzer mit seinen je eigenen Fragestellungen an die Umwelt. Wo ist der nächste Briefkasten? Welche Stadt hat wo ihre historischen Stolpersteine? Ist dieser Weg geeignet für Rollstuhlfahrer? Wie gut ist die Straßenausleuchtung in diesem Viertel? Je detaillierter die bei OSM hinterlegten Informationen sind, desto mehr Möglichkeiten eröffnen sich für deren Nutzung. Denn es ist unsere Umgebung, unsere Infrastruktur, unsere Welt. Der erste Schritt, sie uns wieder anzueignen, besteht darin, freie Karten zu ermöglichen.

Barbara Grün

Keimformen, Wünsche und Zufallsfunde

Einem lieben Wunsch kann leicht passieren, dass er etwas findet, was er zu schnell für das Gesuchte hält. Columbus glaubte bis an sein Lebensende daran, 1492 den Seeweg nach China (das damals zu „Indien“ zählte) entdeckt zu haben, obwohl er auf einem ganz anderen Kontinent gelandet war. Manchmal ist es sicherer, auf unerwartete oder gar unerwünschte Entdeckungen zu setzen.

Zwei ganz normale VWL-Professoren (Ralf Reichwald/Frank Piller, Interaktive Wertschöpfung, Wiesbaden 2006) entdeckten z.B. vor sieben Jahren etwas Neues, was sie in ihrer gewohnten wertfixierten Sprache „interaktive Wertschöpfung“ nannten. Sie hatten routinemäßig betriebswirtschaftliche Modelle untersucht und zu ihrer Überraschung festgestellt, dass es tatsächlich etwas Neues zu beobachten gab, das mit der klassischen BWL nicht zu erklären war: „Die interaktive Wertschöpfung ergänzt die … beiden klassischen Koordinationsformen (Hierarchie und Markt) durch einen dritten Weg: das Organisationsprinzip einer ‚commons-based-peer-production‘. Diese Organisation des Wertschöpfungsprozesses verlangt eigene Organisationsprinzipien und Kompetenzen der Akteure. Beispiele bilden die Selbstselektion und Selbstorganisation von Aufgaben durch (hoch) spezialisierte Akteure, deren Motivation vor allem die (eigene) Nutzung der kooperativ geschaffenen Leistungen ist. Hinzu kommt jedoch eine Vielzahl weiterer sozialer, intrinsischer und extrinsischer Motive“ (S. 314).

Auch in der aktuellen Keimformdebatte sind mir die Entdeckungen am liebsten, die nicht durch eine allzu präformierte Sicht zustande kommen; Keimformen also, die auf den ersten Blick kaum als solche zu erkennen sind. Keimformen, die in der Mitte oder am progressiven Rand des alten Systems entstehen und dann empirisch nachweisen müssen, dass sie eventuell die Potenz haben, auch über die Logik des bestehenden Systems hinauszugehen.

Zum Beispiel das Geschäftsmodell „Flatrate“ oder „all inclusive“: Diese beiden erfolgreichen Geschäftsmodelle der letzten 10 Jahre sind vollständig kapitalistisch kalkuliert: Sie sollen Kunden anlocken und Marktanteile vergrößern (müssen sich also „rechnen“), beinhalten aber eine Logik, die durchaus im Widerspruch zum ehernen Äquivalenztausch-Prinzip unserer Geld-Logik steht. Sie erlauben in einem begrenzten Rahmen (der natürlich zuvor mit Geld dem Geltungsbereich der Geldlogik abgekauft wurde) nach eigenen Bedürfnissen zu leben – ohne sich auf die Matrix des Wertes zu beziehen.

Wenn die Unternehmer und Manager der Geldlogik eines können (müssen), dann ist es das: Rechnen. Und wenn dabei das Geschäftsmodell Flatrate oder all inclusive erfolgreich wird, ist das nicht nur kein Nachteil, sondern in der Form der „Nachfrage“ ein Beweis dafür, dass das Neue tatsächlich (massenhaft) verstanden und gewollt wird. Offensichtlich ist es nicht nur denkbar, sondern empirisch feststellbar, dass Menschen auch ohne monetäre Fremdbestimmung mit (hier erst einmal temporär) freien Gütern vernünftig umgehen können.

Ein Hotelier auf Mallorca sagte mir in einem Interview, er glaube an „all inclusive“ und gehe davon aus, dass es sich in nächster Zeit weiter durchsetzen werde. Es zeige, dass sich seine Kunden spätestens am dritten Tag daran gewöhnt hätten, nach ihren Bedürfnissen zu leben. Spätestens dann würden sie aufhören, sich die teuersten Speisen und Getränke vom Buffet zu nehmen und die pauschal bezahlten Ansprüche nach dem alten Nachkriegsmotto auszunutzen: lieber den Magen verrenkt als dem Wirt was geschenkt! Sie würden dann tatsächlich nur das und soviel davon nehmen, wie sie gerade Lust hätten – so wie alle anderen Lebewesen auf der Erde.

Uli Frank
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