Streifzüge, Jahrgang 2018
Oktober
2018

Im Garten der Sätze

Soll ich schreiben oder reden? Auch über das Reden würde ich lieber schreiben, denn es ist für mich terra incognita. Aber es ist, als drohte mir jemand mit dem Finger: Nicht einmal über das Reden kannst du reden? Über das Schreiben würde ich gerne reden können, denn es ist ja das Einzige, was ich erlebe, und das Herz ist mir voll davon. Mit dem Schreiben, möchte ich wie die kleine Lisa in „Weihnachten in Büllerbü“ sagen, ist es bei mir so: Es schreibt, wenn ich schreibe. Wie bei einer gut gehenden Mutterbrust die Milch direkt aus der Drüse in den Mund des Kindes strömt, so strömt das Denken durch meinen Kopf und bildet sich auf dem Papier als Gedanke, der hier erst anfängt zu existieren. Darum ist die dümmste Frage an mich: Warum sagst du nicht einfach, was du schreiben willst? Bevor ich es aufgeschrieben habe, existiert es ja nicht! Keine Rede davon, dass mein Kopf etwa ein Speicher wäre. Im Gegenteil, nichts an mir ist so leer wie mein Kopf. Er ist leer, aber er funktioniert. Ich drücke auf den Knopf, und die Ideen wachen auf. Die eigentliche Produktion findet auf dem Papier statt, wo der Gedanke und sein Werden sich verschränken. Denn kaum ist das erste Wort auf dem Papier, will es unbedingt mitreden, glaubt in allem Ernst, es wäre der Zweck der Übung, ihm solle ein Umfeld geschaffen werden, etwas, wo alles zu ihm und es zu allem passt. Was ich beisteuere, so kommt es mir vor, ist nicht viel mehr als das „begleitende Gefühl“ (Freud) der Richtigkeit. In ihm kulminiert das Ineins von Schaffen und Finden. Es ist von Zweifeln frei und apodiktisch, was nicht hindert, dass es nur im Moment gilt, denn der Kontext ist variabel. Ich brauche die Kopfhaltung nur ein wenig zu verändern, metaphorisch ausgedrückt, schon ergibt sich ein anderes Bild. Ich sehe die Dinge etwas anders, genauer, ich sehe etwas anderes, und was ich soeben noch für richtig hielt, ist jetzt falsch, und was ich für einen glücklichen Fund hielt, bloß noch ein willkürliches Produkt meiner Phantasie. Das Ziel der Vereinigung von etwas mit seiner Richtigkeit bleibt indes das Gleiche, das Gefühl der Evidenz, der Eindruck von zugleich Schaffen und Finden, kurz: Erleuchtung.

Da ich mich in meinem Denken von mir weg, auf etwas Unbekanntes außerhalb von mir orientiere, wird es einleuchten, wenn ich den Schreibinstrumenten eine wichtigere Rolle zubillige als gemeinhin angenommen, ja sie als die eigentlichen Partner im Wahrheitsfindungsprozess ansehe, als Partner im Dialog der Sache mit sich selbst. So messe ich dem Unterschied zwischen Display und Papier eine bedeutende Rolle bei, rückt Ersterer das konventionelle Nacheinander des Schaffens doch in die Gleichzeitigkeit und macht das Bearbeiten so leicht und natürlich wie das Hervorbringen. Vielleicht korrigiert sich durch ihn auch nur die konventionelle Ansicht, dass das Hervorbringen ein linearer Prozess sei, der passend zur Zeit verläuft, von ihr die sinnstiftenden Elemente wie Anfang und Ziel übernimmt. Der Gedanke ist für mich eine Linie, so primitiv arbeitet nun mal mein Vorstellungsvermögen. Der Display aber ist eine Fläche; ein ideales Rechteck ist er. Bin ich eindimensional, so ist er zweidimensional. Schreiben bedeutet für mich, die Eindimensionalität meines Denkens in die Zweidimensionalität zu überführen, die dem Denken natürlich ist, wenn es nicht mein Denken, sondern sein eigenes Denken ist, bezogen nicht auf mich und meine Intention, sondern auf sich und seine Bezüge.

Das ist für mich Schreiben. Müsste ich auf eine Wahrheits-Couch und, um die Vorstellungen hinter den gepanzerten Sätzen freizulegen, wie man so sagt, „frei“ assoziieren, so würde mir für die Schreibfläche das Wort „Garten“ einfallen, und für die Bewegungsart, die auf den Garten passt, würde mir das Wort „herumgehen“ einfallen, denn man geht ja nicht vorwärts, sondern herum. Und für das, was in diesem Garten geschieht, würde mir, nein, nicht das Wort „wachsen“ einfallen, gar „reifen“, und für das, was da wächst, würde mir auch nicht das Wort „Blume“ einfallen, gar „Frucht“. Sondern ich würde im technischen Milieu bleiben und auf den Animationsfilm zurückgreifen. Da öffnen bei der Morgentoilette des Waldes die Anemonen ihre Blüten, erst hier eine, dann dort, dann blüht der ganze Wald. (So habe ich „Bambi“ im Kopf.)

Ich erlebe wenig, da ich ja schreibe und mein Vormittag unbemerkt vergeht. Wie alle, die einer regen Tätigkeit nachgehen, stelle ich fest, dass unter meiner Regie etwas entsteht, was mit mir doch wenig zu tun hat. Solange ich damit beschäftigt bin, bin ich wenig anwesend; hinterher macht es sich davon. Nicht einen Satz kann ich jemals wiedergeben, den ich aufgeschrieben habe; die Rekonstruktion ergäbe einen neuen Text. Dass ich mich auf etwas vorbereiten kann, indem ich es aufschreibe, weit gefehlt! (Siehe Kleist) Schreiben ist für mich keine Vorbereitung, es ist eine Lösung. Habe ich mir einen Gedanken notiert, kann ich ihn nur noch ablesen. Auch beim Notizzettel gelten die Regeln des Denkens. Wortwörtlichkeit gilt. Noch die kleinste Änderung ist tabu. Auch kann ich der endgültigen Gestaltung keinen Spielraum einräumen, indem ich mir lediglich Stichworte notiere, die in freier Rede verbunden werden, Ministerium für Einsamkeit, Lateralsklerose, Verblendungszusammenhang, um nur ein paar Beispiele aus den jüngsten Kommentaren zu nennen. Habe ich sie als Stichworte notiert, entfalten sie prompt ein Eigenleben, treten zueinander in eine Beziehung, die mehr mit der ehernen Form der konkreten Poesie als mit der flüchtigen eines Spickzettels zu tun hat. Ministerium für Einsamkeit, Lateralsklerose, Verblendungszusammenhang: So möchten sie von mir abgelesen werden, und wehe, ich ändere auch nur die Reihenfolge.

Das ist für mich schreiben. Und was ist für mich reden? Was am Reden ist so beschaffen, dass ich mich darüber auch schreibend äußern kann? Ich gestehe, dass ich hier zur Fehlleistung neige, denn wenn ich „Soll ich darüber reden, oder soll ich darüber …“ beginne, dann möchte ich unbedingt mit „schweigen“ enden, siehe Wittgenstein: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Für das monastische Redeverbot habe ich durchaus etwas übrig, und ich vermute, dass es nicht für von Natur aus schweigsame Leute geschaffen wurde – das gibt ja wenig Sinn −, sondern für die andern, zu denen ich mich prophylaktisch rechnen würde, die vorzugsweise schweigen, aber wenn sie einmal angefangen haben zu reden, damit nicht mehr aufhören können. Den riesigen Bereich dessen, worüber man schweigen muss, habe ich für mich durch die Umkehrung ein wenig eingegrenzt: Worüber ich nur schreiben kann, darüber kann ich nicht reden. Und ganz und gar ins Pragmatische gewendet: Während ich schreibe, kann ich nicht sprechen. Niemand auf der Welt, behaupte ich, würde sich die Mühe des Schreibens antun, wenn er das, was er mitzuteilen hat, ebenso gut sagen könnte. Daher gehe ich von einem Redeverbot aus, das all die Dinge betrifft, über die man schreibt, weil man nicht über sie reden kann. Tatsächlich erschrecke ich, wenn ich erlebe, wie unbekümmert gegen diese Regel verstoßen wird, indem über Dinge geredet wird, deren Klärung an ihre sorgsame, im unendlichen Wiederholungsgang überprüfte und bearbeitete Hervorbringung gebunden wäre, die das einzige Ziel im Auge hat, einen Sachverhalt so darzustellen, wie er nicht für mich, sondern für sich existiert. Freilich kann, wer ganz allein im Kopf mit komplexen Zusammenhängen umzugehen gewohnt ist, noch den abstraktesten Sachverhalt ohne sichtbare Bearbeitungsmittel erfassen; ich denke dabei an extreme Situationen wie im Gefängnis, wobei die Situation den Gegenstand zweifellos einfärben wird. Eine meiner Angstvorstellungen beschäftigt sich mit einer solchen Situation, in der ich kein Schreibmaterial habe, ewig könnte ich mir Gedanken machen, wie ich mich dann behelfe.

Zu einem Sachverhalt jedenfalls gehört seine Darstellung, und als Ziel jeder Darstellung erweist sich die – Darstellung. Sie ersetzt den Gedanken, den ich ursprünglich als meinen Gedanken im Auge hatte. Gefühlt ist es keineswegs meine Darstellung, so wie es am Ursprung mein Gedanke war, sondern es ist die Selbstdarstellung des Gegenstands, von dem sie handelt. Es handelt sich für mich um eine Darstellung, die den Gegenstand nicht identifiziert, man hätte ihn denn vorher schon gehabt, müsste ihn nur wiedererkennen, sondern ihm, dem Unbekannten, Raum gibt, zu werden. Das entscheidende Mittel der Entfaltung, das, wenn überhaupt irgendetwas, die Regieübergabe an den Gegenstand erlaubt, das ist natürlich die Sprache mit ihren eigenen Gesetzen, und es ist, mehr noch, die Schrift. Sie macht sichtbar, dass die Sprache ein nicht an mir, sondern an sich selbst orientiertes, auf sich selbst bezogenes Regelwerk ist, das über Sein und Schein eines Sachverhalts entscheidet. Je mehr mir an der Unterschiedenheit einer Sache von mir liegt, umso mehr brauche ich die Schrift, die sie auch faktisch aus mir heraus und von mir wegrückt, sie mir face to face präsentiert, sodass ich sie immer wieder und im Ganzen betrachten und auf ihr immanentes Funktionieren hin prüfen kann. Im schreibenden Alltag und in Anflügen stiller Verzweiflung kommt es mir freilich nicht selten vor, als wäre der Gegenstand bloß die Möhre und ich der Esel, der ihr durch ein Labyrinth folgt, in dem ich statt vom bekannten A zum unbekannten B nach A‘ und A‘‘ gelange, nicht unbedingt im Kreis, aber in die Dürre eines am Ende restlos skelettierten Gedankens. Immer deutlicher wird mir auch, dass der ursprüngliche, der für sich seiende Gegenstand, dem ich nachforsche, nur das innere Bild ist, das ich von ihm habe. Wenn das so ist, dann werden Sprache und Schrift dafür in Anspruch genommen, dem, was seiner Natur nach unsichtbar und in seiner Existenz ungeklärt ist, zu einiger Sichtbarkeit und Objektivität zu verhelfen. Das ist nicht viel, was den Ausgangspunkt betrifft, aber es leuchtet ein.

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