FORVM, No. 234
Juni
1973

Industrialisierung der Frau

Fließarbeit und Akkord

Was für eine Verschwendung der menschlichen Fähigkeiten — wenn man bedenkt, was ein Mensch tun, fühlen und ausdrücken kann —, ihn an ein Fließband zu stellen, damit er lediglich Schraubenmuttern anzieht.

John Diebold, Die automatische Fabrik

Es ist noch nicht allzulange her, da der Anblick einer Frau in der Fabrik ein „trostloses Schauspiel“ und das Wort „Arbeiterin“ ein „gottloses Wort‘ war. Heute dagegen gibt es geradezu feminisierte Industriesparten: die Metallindustrie, die Elektroindustrie, die Feinmechanik und die chemischen Industrien. Vor einigen Jahren erschien in Frankreich eine Studie, die sich mit der Stellung der Frau in der Industrie der westlichen Länder befaßt. [1] Diese Studie enthält eine Anzahl äußerst aufschlußreicher Beobachtungen für die als weiblich eingestuften Berufe in der Industrie:

  • Für die sogenannten weiblichen Arbeitsplätze ist das Überwiegen der manuellen Komponente charakteristisch.
  • Von den Frauen wird vor allem Flinkheit, Genauigkeit, rasches Arbeitstempo verlangt.
  • Frauen werden bevorzugt die schmutzigen, unangenehmen oder ekelerregenden Arbeiten aufgehalst; darunter am meisten den älteren, unterprivilegierten, ausländischen Arbeiterinnen.
  • Frauen werden auf Arbeitsplätzen eingesetzt, die den geringsten Schwierigkeitsgrad aufweisen; als Grund dafür wird ihre mangelhafte Ausbildung genannt.
  • Die Arbeiten, die den Frauen vorbehalten sind, weisen am wenigsten Abwechslung auf und erfordern keinerlei technisches Verständnis; das Interesse einer Frau für Maschinen und Technisches gilt als abwegig.
  • Frauen werden nur Arbeiten mit dem geringsten Grad an Verantwortung übertragen. Kostspielige oder neue Maschinen werden nur Männern anvertraut. Bei gemischten Belegschaften sind die Frauen immer einem Mann untergeordnet.
  • Frauen werden viel häufiger als Männer zu sitzender Tätigkeit eingeteilt.
  • Auch wenn sie dazu qualifiziert wären, sind Frauen oft von Posten ausgeschlossen, bei denen sie in den Werkhallen hin und her gehen müßten. Im allgemeinen wird darauf geachtet, daß die Frauen ihre Plätze nicht verlassen: Mobilsein gibt’s nicht.
  • Frauen verrichten bevorzugt jene Arbeiten, die in die meisten Arbeitsgänge zerlegt sind — beispielsweise Montage am Fließband. Dabei handelt es sich immer nur um ausführende Arbeiten.
  • Vorbereitende Arbeiten, wie z. B. die Einstellung der Geräte. überläßt man niemals Frauen.
  • Der eintönige Charakter der Arbeiten, die man den Frauen überträgt, macht sich deshalb so arg bemerkbar, weil es sich stets um kurze Arbeitszyklen handelt — Vernieten, Bohren, kleine Montagen usw.: die Arbeit der Frauen in der Industrie ist viel monotoner als die der Männer.
  • Frauen können niemals mit der Aussicht auf beruflichen Aufstieg rechnen.
  • Generell kann man sagen: Jene Arbeiten, die die geringsten Kenntnisse voraussetzen, gelten als weiblich.

Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang die Antworten der Unternehmer auf die Frage, warum das ihrer Meinung nach so ist:

„Die Frauen können nichts anderes. Sie sind ohne Ausbildung, ohne Kenntnisse.“ — „Sie sind auch so ganz zufrieden.“ — „Sie haben Angst vor den großen Maschinen.“ — „Sie finden sich mit einem Lohn ab, den ein Mann nie akzeptieren würde.“

Das wichtigste Argument lautet jedoch stets: „Frauen bringen bei monotoner Arbeit größere Leistungen als Männer.“

In der sogenannten Arbeitswissenschaft, der Wissenschaft im Dienst der Unternehmer, wird das so ausgedrückt: „Es werden am Fließband vielfach Frauen verwendet, die sich weniger monotonieempfindlich zeigen als die Männer.“ [2] In seinem Buch über Frauenarbeit sagt Jürgen Kuczynski dagegen: „Eine neue Plage kam über die Arbeiterinnen, nicht von so umwälzender Brutalität wie die Einführung der Maschine, aber doch von ganz großer negativer Bedeutung: die kapitalistische Rationalisierung, insbesondere die Arbeit am Fließband.“ [3]

In der Geschichte der Frauenarbeit bedeutet der Erste Weltkrieg eine tiefe Zäsur — in allen Ländern kam es nach dem Krieg zu einer umfassenden Neuverteilung der Frauenberufe, und ebenso zu einer qualitativen Veränderung weiblicher Beschäftigungen. Diese Veränderung ging zwar nicht einheitlich vor sich, sie wies aber zumindest in den kapitalistischen Ländern bestimmte Tendenzen auf: Sprunghaft stieg die Zahl der Frauen an, die in Büros und Ministerien angestellt waren, der Beamtinnen, der Lehrerinnen, des Spitalpersonals, sogar der freiberuflich Tätigen — es begann eine Verschiebung der Frauenarbeit im Dienstleistungssektor, die auch später immer mehr zunimmt.

Die Frauen, die zwischen 1914 und 1918 in Büros eingetreten waren, blieben dort. Ähnlich waren die Verhältnisse auf dem Handelssektor, und sie trafen auch auf einen großen Teil der Arbeiterinnen in den Fabriken zu: in allen kriegführenden Staaten steigt die Zahl der Frauen in der Industrie, und zwar auch auf qualifizierten Posten, in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg an. Jene Frauen, die nach 1919 in der Fabrik arbeiten, sind also meist durch den Krieg dahin gekommen — ehemalige Hausangestellte, ehemalige landwirtschaftliche Arbeiterinnen blieben in großer Zahl in der chemischen und mechanischen Industrie.

Der Kapitalismus kann sich bekanntlich nur durch eine ständige Revolutionierung der Arbeitsteilung am Leben erhalten, d.h. er ist gezwungen, ständig neue und verbesserte Produktionsmethoden anzuwenden er muß rationalisieren. Innerhalb weniger Jahre, kurz vor und vor allem während der Weltwirtschaftskrise, vollzogen sich die großen Umschichtungen auf dem industriellen Sektor: in den Fabriken werden die Methoden des Taylor-Systems und die Fließarbeit, die Arbeit am Fließband eingeführt. Im Krieg, als die Frauen scharenweise in die Fabriken geholt worden waren, hatte sich den Industriellen die Möglichkeit zu interessanten Erfahrungen geboten. Es zeigte sich, daß die Frauen den Männern bei allen Arbeiten, die große Muskelkraft erforderten, weit unterlegen waren, doch sie waren ihnen überall dort überlegen, wo es auf Geschwindigkeit und Genauigkeit ankam. Frauen waren flinker. Wenn man nun die Arbeitsvorgänge so unterteilte, daß jeweils nur ein Bruchteil der körperlichen Anstrengung notwendig war, konnte man weibliche Arbeitskräfte einstellen und erreichte damit eine größere Geschwindigkeit der Ausführung bei geringerer Bezahlung.

Unter „Fließarbeit‘‘ versteht man in der Arbeitswissenschaft „eine auf Arbeitszerlegung beruhende, lückenlose und störungsfreie Folge von Arbeitsverrichtungen, die miteinander örtlich verbunden und zeitlich aufeinander abgestimmt sind.“ [4] Die „Vorteile der Fließarbeit“, heißt es weiter, „liegen vor allem in der wesentlichen Verminderung der Vorratshaltung und der dadurch bedingten Ersparnis an Lagerraum und Arbeitsplätzen, in der Entlastung der Arbeitskräfte von Arbeitsantrieb und Aufmerksamkeit, in der Steigerung der Leistung und Minderung der Kosten.“ [5] Deutlicher kann man das ausbeuterische Prinzip dieser Organisation der Arbeit kaum charakterisieren. Nach Einführung der Fließarbeit konnte in vielen Betrieben mit nur einem Drittel der Belegschaft dieselbe Produktion aufrechterhalten werden, wie früher ohne laufendes Band. In großem Umfang wurden Männer entlassen und Frauen eingestellt. Der Verdienst der Frauen betrug im Durchschnitt zwei Drittel des Männerlohns.

Das Vordringen der Fließarbeitsmethoden war verknüpft mit dem Vordringen der Frauenarbeit, mit dem Ersatz gelernter männlicher durch angelernte weibliche Arbeitskräfte. Dabei arbeiteten die Frauen ebenso lange wie früher die Männer, doch sie produzierten doppelt so viel. Ein anschauliches Bild vermittelt davon der Bericht aus einem Betrieb der Elektroindustrie: „In unserem Betrieb, in dem Fließarbeit eingeführt ist, sind neun Zehntel der Belegschaft Frauen und Mädchen. Die Arbeit ist aber auch so leicht, daß sie bequem von Frauen und Mädchen gemacht werden kann. Wenn ein Fremder in unseren Betrieb kommt, mutet er ihn gar nicht wie ein Arbeitsraum an, weil alles so schön sauber ist. Die Mädchen erscheinen zur Arbeit in weißen Blusen und mit seidenen Strümpfen; sie können das, weil die Arbeit eine durchaus saubere ist. Ein unbefangener Beobachter hat den Eindruck, als ob es sich gar nicht um eine Arbeit handelte, als ob die Sache spielend gemacht würde.“

In dem Betrieb werden elektronische Zähler hergestellt. Die Art der Arbeit geschieht in drei Formen: durch den Rolltisch, das Rollband und an Öfen. Die beiden ersten Arbeitsweisen sind miteinander verbunden. Der Eindruck, den ein unbefangener Beobachter, wenn er die Frauen und Mädchen bei der Arbeit sieht, erhält, erweist sich indessen als trügerisch: „Die Arbeit ist, obwohl sie wie ein Spiel aussieht, so, daß sie die ganze Aufmerksamkeit und äußerste Anspannung der Nerven erfordert. Die Arbeitsleistung wird berechnet, indem man zum Durchschnitt die Fähigkeit dreier Arbeiterinnen nimmt — und zwar einer Arbeiterin, die längere Zeit, z.B. fünf Jahre, im Betrieb ist, dann die Fähigkeit einer Arbeiterin, die ungefähr ein Jahr im Betrieb arbeitet, und die einer Anfängerin.

Man stellt das Band zuerst nach diesem Durchschnitt ein, so daß alle mitkommen können. Dann läßt man jeden Tag das Band ein wenig schneller laufen, so daß es der einzelnen Arbeiterin gar nicht zum Bewußtsein kommt — aber mittlerweile müssen diese ihre ganze Kraft darauf konzentrieren, mitzukommen. Auf eine Zehntelsekunde werden die Arbeiten berechnet. In drei bis vier Wochen wird die Höchstleistung erreicht. Mit einer Stoppuhr, die Hundertstelsekunden anzeigt, wird genau die Schnelligkeit kontrolliet und die Höchstleistung herausgeholt. Zeigt es sich, daß eine gewünschte Leistung herausgeholt ist, so wird diese ungefähr acht Tage beibehalten, um die Arbeiter daran zu gewöhnen. Und dann wird doch mit allen Kräften versucht, ein neues Arbeitstempo herauszuholen, das jetzige noch zu beschleunigen ... Da die Arbeiter bei dieser Arbeitsmethode überhaupt keine Sekunde Zeit für sich haben, müssen sie auch ihre ganzen körperlichen Bedürfnisse darauf einstellen und werden gewissermaßen zu Maschinen degradiert.“ [6] Das System der Fließbandarbeit trug auch durch einen besonderen Umstand dazu bei, die unter den Arbeitern verständlicherweise vorherrschende Feindseligkeit gegenüber der Frauenarbeit noch zu verstärken — die ausgebeuteten Frauen trugen unfreiwillig noch zur Verschärfung der Ausbeutung der anderen Arbeiter bei: „Wenn die Arbeiterin am Fließband drauflos schuftet, um durch Steigerung ihrer Leistung ihren elenden Lohn zu verbessern, so nutzt es dem Arbeiter, der besser als sie weiß, was dabei für ihn herauskommt, wenig, wenn er sich zurückhält, seine Arbeitsleistung nicht überspannt. Denn der Unternehmer wird in diesem Fall das Tempo des Bandes nicht nach der Leistung des Arbeiters, sondern nach der Leistung der Frau bestimmen.“ [7]

Die weibliche Eignung für monotone Arbeit, wie sie die Arbeitswissenschaft stets unterstreicht, bedeutet nichts anderes als den Idiotismus des Fließbands, und der „holde Schwachsinn des Weibes“ ist der Profit der Industrie. Die größere Gewandtheit und Flinkheit der Frauen, diese gepriesenen Vorzüge der Frauenarbeit, fanden ihren Niederschlag nicht in der Entlohnung, sie wurden niemals honoriert — weder am Fließband, noch beim Akkord.

Aus einem anderen Betrieb der Elektroindustrie wird, als Beispiel für viele, berichtet: „Die Arbeiter haben es verstanden, die Verlangsamung ihres Arbeitstempos (am laufenden Band) derart zu übertreiben, daß der Kalkulator darüber stolperte, so daß man es herausbekam. Trotzdem haben die Arbeiterinnen drauflos gearbeitet, so daß das System heute so ist, daß sie nicht in der Lage sind, genügend Geld zu verdienen.“ [8]

Im Zuge der Rationalisierung gewann eine besondere Form der Entlohnung und gleichzeitig der Ausbeutung immer mehr an Bedeutung: der Akkordlohn. Heute ist Frauenfabrikarbeit zu zwei Drittel Akkordarbeit.

Generell wird zwischen zwei verschiedenen Arten der Entlohnung unterschieden: dem Zeitlohn und dem Leistungslohn. Beim Leistungslohn wird wiederum zwischen Prämienlohn und Stücklohn unterschieden. Stücklohn ist gleich Akkord. Ursprünglich gab es den Leistungslohn nur in Form von Stücklohn, das heißt, die Leistungsmenge — die Stückzahl — wurde unmittelbar bezahlt, und zwar aufgrund einer Vereinbarung, dem „Akkord“. (Diese Art der Entlohnung ist vor allem im Bergbau üblich; in seinem Roman „Germinal“ hat Emile Zola ein drastisches Bild von diesem Arbeitsverhältnis gegeben!)

Ursprünglich wurde ein bestimmter Geldbetrag für das bearbeitete Stück vereinbart (Stücklohn oder Geldakkord). Erst während der Zeit der Weltwirtschaftskrise und durch die daraufhin einsetzende Entwicklung der sogenannten Arbeitszeitstudie trennten die Unternehmer den Geldfaktor vom Zeitfaktor; der Geldfaktor wird im Tarifvertrag festgelegt. Der Zeitfaktor ist „die nach den Regeln der Arbeitszeitstudie ermittelte Vorgabezeit in Minuten je Werkeinheit (Zeitakkord).“ [9]

Die Voraussetzung für Stücklohnarbeit ist ihre Akkordfähigkeit: das heißt, eine Arbeit muß so regelmäßig durchgeführt werden, daß sich genaue und sichere Vorgabezeiten ermitteln lassen. In der Arbeitswissenschaft werden die Motive für die Akkordarbeit unverblümt genannt: „Wo Massenarbeiten bei geringer persönlicher Aufsicht vorkommen und hohe Leistungen zur rechtzeitigen Abschreibung der Anlagen nötig sind, ist der Stücklohn am Platze ...“ [10] Und weiter unten heißt es dann: „Durch die stärkere Anwendung der Arbeitsstudien werden im Laufe der Zeit immer weitere Arbeiten akkordfähig.“ Die Grundlagen zu diesen Arbeitsstudien wurden in den höchstindustrialisierten Ländern, in den USA gelegt, und zwar erfolgten sie in drei Phasen — zuerst in der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg, dann jedesmal nach dem Ende der beiden Weltkriege. Der Pionier auf diesem zukunftsträchtigen Gebiet war Frederic W. Taylor; bereits im Jahr 1881 hatte er ein neues Stücklohnsystem ausgearbeitet, das aber für Europa vorderhand noch keine Auswirkungen hatte. Erst gemeinsam mit den Arbeiten von Frank B. Gilbreth und Henry Ford zogen seine Erkenntnisse massive Konsequenzen nach sich, vor allem auch für die Industrie in Deutschland. Nicht zuletzt fanden diese Lehren deshalb so großen Anklang, weil sie „auch ohne Anwendung neuer Maschinen, nur durch methodische Beobachtung des Arbeitsvorganges, durch seine sinnvolle Gestaltung und durch die Messung der Arbeitszeit zu wesentlichen Leistungssteigerungen gelangen konnten. Dabei, schreibt der Arbeitswissenschaftler weiter, „war Taylor insofern einseitig, als er den besten Arbeiter auswählte und aus dessen Leistung verallgemeinernde Schlüsse zog, während Gilbreth durch Heranziehung des faulsten Arbeiters dessen bequemste und dadurch ökonomischste Bewegung erkannte.“ [11]

Im Verlauf einer immer rationelleren Gestaltung der Produktion, in anderen Worten, um die menschliche Arbeitsleistung immer mehr zu steigern, genügte das Taylor-System, also das Zerlegen in Teilarbeiten, nicht mehr. Nach Gilbreth lassen sich alle zusammengesetzten Bewegungen auf eine bestimmte Zahl von Grundbewegungen reduzieren; für diese Grundbewegungen sollen dann allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten leichter zu ermitteln sein — aus dem Zeitbedarf der immer wiederkehrenden Bewegungselemente ist baukastenartig der Zeitverbrauch größerer zusammengesetzter Arbeiten abzuleiten. Diese Grundbewegungselemente nannte Gilbreth „Therbligs“ (sinnigerweise aus den Buchstaben seines Namens gebildet); er unterschied zwischen 17 Elementarbewegungen. Diese Anzahl der Grundbewegungen wird immer mehr verringert — das heute vielfach auch bei uns angewandte sogenannte MTM-Verfahren kommt mit 15 Bewegungselementen aus.

Dieses „Methods Time Measurement“-Verfahren setzt voraus, daß es für jeden Arbeitsvorgang ein meßbares Minimum an notwendigen Bewegungen gibt. Für jede dieser Bewegungen wird eine Normzeit konstruiert, die von jedem Menschen ohne Unterschied erreicht werden soll. Beispielsweise mußten bei den ersten Tests über den Bewegungsvorgang „Gehen“ unterschiedliche Menschen im Kreis herumgehen: Große und Kleine, Gesunde und Kranke, Dicke und Dünne, Junge und Alte, Weiße und Schwarze. Da man zur Ermittlung von Kleinstzeitstudien besonders gern mit Filmanalysen arbeitet, wurden die verschiedenen Gänge mit einer Kamera aufgenommen. Aus der Zahl der Bilder wurde dann ein Durchschnittswert errechnet und auf eine Grundeinheit bezogen: den 100.000sten Teil einer Stunde. Auf diese Weise ermittelte man die Normzeit, die der Normmensch für die Tätigkeit des Gehens braucht. Auch die anderen MTM-Grundbewegungen wurden auf ähnliche Weise gemessen und genormt.

Grundsätzlich unterscheiden die Arbeitswissenschaftler drei Arten von Bewegungen:

  • Wirksame Bewegungen (wie Hinlangen, Greifen),
  • Verzögernde Bewegungen (wie Überlegen, Lesen, Entscheiden),
  • Unwirksame Bewegungen (wie Plaudern, Träumen).

Als Grundbewegungen gelten: Hinlangen, Greifen, Bringen, Loslassen, Fügen, Trennen, Drücken, Drehen, Kurbeldrehen. Die Blickfunktionen: Anvisieren, Blick-Verschieben, Lesen. Die Körper-, Bein- und Fußbewegungen: Fuß-Bewegen, Seitenschritt, Beugen, Aufrichten vom Beugen, Knien, Sich-Setzen, Sich-Erheben, Körperdrehung, Gehen. Wie für Ballettschritte gibt es auch eine Choreographie der Bewegungen.

Für jede dieser Tätigkeiten sind Normwerte vorhanden: sie sind das geeichte Maß aller im Betrieb benötigten menschlichen Bewegungen. Auf der Basis dieser Normwerte werden in jenen Fabriken, die Abnehmer des MTM sind, die Arbeitsplätze analysiert und eingerichtet: ihr alleiniger Zweck ist die Verschärfung des Arbeitstempos. Unter dem Vorwand einer Änderung des Arbeitsplatzes sollen die Normen verdoppelt und verdreifacht werden. [12]

Das MTM-Verfahren kommt hauptsächlich in den „feminisierten“ Industriesparten zur Anwendung; beispielsweise in der pharmazeutischen Industrie als Verpackungsarbeit oder in der Elektroindustrie als Montage. Es sind die Frauen, die die Vorzüge von MTM am eigenen Leib erfahren: sie roboten nun aufgrund exakter Unterlagen und wissenschaftlicher Erkenntnisse. Als einer der Vorzüge von MTM wird dabei die „Vermeidung von Ermüdung“ und die „Vermeidung unnötiger Körperbeanspruchung“ gerühmt. „In Wirklichkeit jedoch bedeutet die sogenannte Körpergerechtheit und die rhythmische Gliederung des Arbeitsvorganges nur, daß die verkrüppelten Bewegungsabläufe der Akkordarbeit harmonischer und arbeitsintensiver organisiert werden; die chronischen Schäden der Bandarbeiterinnen: Bandscheibenschäden, Sehnenscheidenentzündungen, Magen- und Galle-Krankheiten werden durch die Erhöhung der Stückzahl natürlich noch verstärkt.“ [13] Die Löhne dagegen werden unter Berufung darauf, daß mit dem MTM-Verfahren endlich ein Maßstab gefunden sei, „der für alle, die nach ihrer Leistung beurteilt werden, gleich und insoweit auch gerecht ist“, auf dem alten Stand gelassen oder eher noch gesenkt. Eine Arbeiterin sagt darüber: „Früher haben wir etwa ein Drittel von dem produziert, was wir heute machen, sind aber immer auf 3,80, 3,90 DM gekommen. Heute schafft, von einer Handvoll Frauen abgesehen, keine die MTM-Norm, und die meisten verdienen, ihrer Stückzahl nach, nur 3 Mark in der Stunde und darunter, obwohl sie doppelt oder dreimal soviel produziert.“ [14] Außer dem MTM-Verfahren gibt es noch eine Anzahl anderer Systeme, wie WF (Work Factor), DMT (Dimensional Motion Times) und BMT (Basic Motion Times) — zumindest für die Unternehmer „erfüllen diese Systeme einen lange gehegten Wunsch.“

Bei der Akkordarbeit unterscheidet man zwischen Einzelakkord und Gruppenakkord; das akkordfähige Alter beginnt mit 18 Jahren, bis dahin arbeiten die Jugendlichen im Zeitlohn. Wie lapidar drückt dies doch der Arbeitswissenschaftler aus: „Der Lebensweg des arbeitenden Menschen beginnt mit einer Schonzeit in der Jugend und endet mit einer Schonzeit im Alter.“ [15] Wenn für die Mädchen der Akkord beginnt, reagieren sie darauf oft mit Kündigung. „Sie sagen häufig vorher schon: wenn ich 18 bin, haue ich hier ab. Sie versprechen sich von der neuen Fabrik eine nicht so hohe Stückzahl. Wenn sie wechseln, haben sie in der neuen Fabrik nochmal eine Anlernzeit von zwei oder drei Monaten, dann müssen sie Akkord arbeiten. Dem Akkord können sie nur ausweichen, wenn sie erneut kündigen. Bei AEG-Telefunken ist der Anfangsakkord so hoch, daß die Jugendlichen, wenn für sie der Akkord beginnt, den Anfangsakkord einfach nicht schaffen können. Den Anfangsakkord schaffen nur die, deren ökonomische Abhängigkeiten so groß sind, daß sie darauf angewiesen sind, diese und keine andere Arbeit zu machen.“ [16] Die ökonomischen Abhängigkeiten verstärken sich, wenn die Arbeiterinnen heiraten, Kinder kriegen, älter werden.

Oft verrichten die Frauen auch Akkordarbeit, die genausogut von einer Maschine übernommen werden könnte. Hier ein Beispiel: „Die Arbeiterinnen schweißen im innersten Teil der Röhre Bändchen, das heißt, sie schweißen Kontakte zusammen. Natürlich könnten diese Bändchen längst maschinell geschweißt werden, es gibt auch eine Bändchenmaschine, die aber nicht so sicher schweißt wie die Arbeiterinnen. Das liegt daran, daß die maschinell geschweißten Bändchen teilweise zu stark geschweißt sind, daß die Bändchen nicht fest genug sind oder daß die Maschine zuviel Ausschuß herstellt. Ein Hauptgrund liegt in dem ständig wechselnden Material. Die Maschine setzt dem Versuch der Unternehmensleitung, mit immer schlechterem Material zu arbeiten, um die Produktionskosten zu senken, bestimmte Grenzen. Die Akkordarbeiterinnen reagieren auf schlechtes, sich veränderndes Material mit täglich neuen Einfällen ... bis die Bändchen auch mit dem schlechteren Material halten.“ [17] Zusätzlich dienen die Frauen also auch noch zum Ausgleich der Produktionsmängel.

Eine Akkordarbeiterin gilt nach zehn Jahren als alte Arbeiterin. Der Verdienst einer Akkordarbeiterin ist niemals konstant — sie muß sich ihren Lohn jeden Tag neu aus der Maschine stampfen. Eine Akkordarbeiterin kann sich nicht schonen, kann sich die Zeit nicht einteilen. Sie kann nicht gelegentlich ihr Tempo etwas verzögern und manchmal auch etwas weniger arbeiten, immer muß sie um einen guten Akkorddurchschnitt bangen. Die Akkordarbeiterinnen sind darauf angewiesen, diese und keine andere Arbeit zu machen, weil sie ungelernte Arbeiterinnen sind. Dazu kommt ihre Abhängigkeit durch die Kinder. Auf diese Abhängigkeiten ist der Akkord aufgebaut; sie bilden die Grundlage für eine immer höhere Ausbeutung der Arbeiterinnen durch immer rationalisiertere Verfahren.

Rationalisierung und technologische Innovation, die im Gesamtmaßstab der großen Industrie durchaus revolutionär wirken, haben aber die ohnehin schon inferiore und benachteiligte Position der Frau im modernen Arbeitsprozeß immer weiter herabgedrückt. Der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital setzt sich innerhalb des Proletariats fort als Gegensatz zwischen den beiden Geschlechtern.

Einrichtungen und Vorschriften,

nach denen die in der Alberti- und Tappertschen Baumwollen-Manufactur arbeitenden Personen sich zu verhalten haben und was von jeder Person insbesondere verlangt wird

Erster Artikkel

Vor allen Dingen muß jede Person, die länger als einige Tage oder Wochen bey der Arbeit beybehalten zu werden wünscht, gleich von dem ersten Tage ihrer Arbeit sich eines rechtschaffenen Wandels befleißigen und durch ein friedfertiges und freundliches Betragen gegen ihre Mitarbeiterinnen, so wie auch durch strenge zu beobachtenden Gehorsam gegen ihre Fabrikherrn, und gegen alle diejenigen, so als Aufseher oder Aufseherinnen bey dieser Manufactur angestellt sind, zu erkennen geben, daß selbige diejenigen Eigenschaften besitze, die vor allen Dingen erforderlich sind, wo irgend eine beträchtliche Anzahl von Menschen zusammen arbeiten.

Zweyter Artikkel

Wie nun aber überall, wo viele Menschen zusammen arbeiten, die Reinlichkeit nicht genug empfohlen werden kann, die Reinlichkeit an den Maschinen aber überdem noch den Vortheil hat, daß dadurch die Arbeit ungemein erleichtert und befördert wird, so haben sämmtliche Personen, Niemand deren ausgenommen, darauf zu sehen, daß, soviel als nur immer möglich, Reinlichkeit nicht allein in den Arbeitssälen und Arbeitsstuben, sondern ganz vorzüglich an den Maschinen angetroffen werde, wie denn auch, sowohl erwachsene Frauenspersonen, als auch junge Mädchen, und selbst die kleinsten, die Reinlichkeit ihres Anzuges nicht ganz vernachläßigen müssen.

Berlin, Januar 1793

[1Madeleine Guilbert, Fonctions des femmes dans I’Industrie, Paris 1966; cit. in: Evelyne Sullerot, Histoire et Sociologie du travail feminin, Paris 1968, (dt.: Graz 1972).

[2Hubert Hugo Hilf, Einführung in die Arbeitswissenschaft, Berlin 1964, p. 102.

[3Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 18 Frauenarbeit, p. 234.

[4Hilf, lit. cit., p. 101.

[5loc. cit.

[6Kuczynski, lit. cit., pp. 235, 236.

[7loc. cit.

[8Kuczynski, lit. cit., p. 234.

[9Hilf, lit. cit., p. 139.

[10loc. cit.

[11Hilf, lit. cit., p. 25.

[12Kursbuch Nr. 21, Berlin 1970, p. 96.

[13lit. cit. p. 98.

[14loc. cit.

[15Hilf, lit. cit., p. 84.

[16Kursbuch, lit. cit., p. 115.

[17Kursbuch lit. cit., p. 112.

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