MOZ, Nummer 51
April
1990

Institution, Philosophie und Öffentlichkeit

Eine hautdünne Polemik

Hierzulande mußt du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Und um woanders hin zu kommen, muß man noch mindestens doppelt so schnell laufen!

(L. Carrol)

Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.

(Th. W. Adorno)

Und, so Adorno weiter, „das summarische Urteil, sie habe die Welt bloß interpretiert ... wird zum Defaitismus der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt mißlang ... Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung, brach, ist sie genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren ... Der introvertierte Gedankenarchitekt wohnt hinter dem Mond, den die extrovertierten Techniker beschlagnahmen.“ Man sieht sich genötigt, noch einige weitere Sätze zu zitieren, haben sie doch vor 25 Jahren eine Koinzidenz der Bestandsaufnahme des Verhältnisses von — pathetisch formuliert — Philosophie und Welt aufgewiesen, die an Realität nichts eingebüßt hat, im Gegenteil. „Die begrifflichen Gehäuse, in denen, nach philosophischer Sitte, das Ganze sollte untergebracht werden können, gleichen angesichts der unermeßlich expandierten Gesellschaft und der Fortschritte positiver Naturerkenntnis Überbleibseln der einfachen Warenwirtschaft inmitten des industriellen Spätkapitalismus. So unmäßig ist das mittlerweile ... herabgesunkene ... Mißverhältnis zwischen Macht und jeglichem Geist geworden, daß es die vom eigenen Begriff des Geistes inspirierten Versuche, das Übermächtige zu begreifen, mit Vergeblichkeit schlägt. Der Wille dazu bekundet einen Machtanspruch, den das zu Begreifende widerlegt. Die von den Einzelwissenschaften erzwungene Rückbildung der Philosophie zu einer Einzelwissenschaft ist der sinnfälligste Ausdruck ihres historischen Schicksals.“ Aus den Worten Adormos klingt — bei aller Selbstkritik philosophischer Ansprüche — eine Trauer an über einen Verlust, der nicht nur die narzißtische Kränkung eines ganzen ehr-würdigen Berufsstandes implizit thematisiert und damit ein Gefühl des Überflüssig-geworden-Seins, sondern auch eine Melancholie am Weltgeschehen selbst zum Ausdruck bringt.

Wie nun verhält es sich in Österreich mit der akademischen Philosophie und ihrer Rolle in und zur Öffentlichkeit?

Anlaß ...

... für diese Fragestellung nach dem Wert der Philosophie für die Öffentlichkeit und dem des Öffentlichen für die Philosophie und deren Verschränkungen bietet der im März stattgefundene „Zweite Kongreß der österreichischen Gesellschaft für Philosophie“ an der Universität Wien. Thema dieser dreitägigen Veranstaltung mit sechs Arbeitskreisen (Kognitionstheorie, Psychoanalyse, Frauenforschung, Semiotik, Politik, Religionsphilosophie), vier Sektoren (Ethik, Metaphysik, Geschichte, Wissenschaft), einem Workshop (EDV), einer Benjamincollageperformance und vier Plenarveranstaltungen war schlicht und einfach: „Gegenwartsphilosophie in Österreich“. Das sagt erstmal alles und nichts und erweckte den Eindruck, daß diese Scheinoffenheit eigentlich ein Ausdruck dafür ist, daß die Leute sich im Grunde genommen gar nichts Bestimmtes sagen wollten. Auch das buntgewürfelte Programm — mit Titeln wie: „Ebners Lektüre als Hilfe bei der Ebnerlektüre“, „Die Grundstruktur modaler ontologischer Argumente für die Existenz Gottes“, „Cognitive Science als experimentelle Epistemologie“, „Die Entschlüsselung der Kua-Symbolik“, „I Ging“ usw. usf., um nur einige besonders ‚hautnahe‘ Themen zu benennen — evozierte einen fast postmodernistischen Beliebigkeitstouch, was insofern denkwürdig ist, da sich hier akademische Philosophie mit Händen und Füßen gegen diese Ausschreitung wehren würde (Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel). Und — bei netter Schätzung der TeilnehmerInnenzahl kommt man auf durchschnittlich 10 Personen pro Einzelveranstaltung, inklusive Referentin, was natürlich eine immense Anzahl bei immerhin 2.000 im Umfeld der Philosophie Studierenden ist, geschweige denn von anderen Vergleichsgrößen. Bei der Eröffnung, die sinnigerweise, d.h. unsinnlicherweise und jede Alltagsrealität leugnend, Freitag früh um 9 Uhr begann, mußte sich denn auch eine mager vorhandene Philosophen(mann)schaft in den offiziellen Grußadressen den impliziten Vorwurf einer mangelnden Fähigkeit zur Öffentlichkeitsherstellung gefallen lassen. Oder ist Ihnen (als WienerIn) irgendwann und irgendwo in letzter Zeit das Wort Philosophie in Leuchtbuchstaben entgegengesprungen?

Die Klage der Philosophen ob ihres obsolet gewordenen Status in der Öffentlichkeit kann unter diesen Umständen nur als Selbstanklage gedeutet werden, denn einem jeden müßte bekannt sein, daß nicht mehr die Welt zur Philosophie, sondern, wenn schon intendiert, die Philosophie in die Welt gehen muß. Themenstellungen wie „Handeln mit der Tiefe der Welt“ haben dann nur noch selbstreferentiellen Wert, wenn die Frage „Wofür sind wir verantwortlich“ zwar formuliert, aber nicht öffentlich — als Frage — umgesetzt wird. Sie bleibt dann wirklich bloße ‚Geisterseherei‘.

und Auslaß ...

Dieses polemisierenden Untertons kann sich die Verfasserin nicht entziehen, steht sie doch mit einem Bein im ‚Geschäft‘, mit dem anderen ‚außen vor‘, was der Inszenierung eines gefälligen Selbstbetrugs (-verblendung, -erblindung, -täuschung) hinderlich ist. Die Möglichkeit, die die Philosophie hatte und hat, nämlich gerade durch die Distanz vom unmittelbaren Geschehen erweiterte Erkenntnis- und Begriffsmodalitäten von den Widersprüchen der Realität, auch ihrer eigenen, zu haben, wird so — statt zur Aufgabe — zur Auf-gabe.

„Rette sich, wer kann“ (die Philosophie)? Aber wie und welche? Denn, wie in einer neuerdings am Wiener Institut erschienenen Broschüre zu lesen ist, haben „auch die Philosophen selbst in dieser Situation kein Interesse an einer offenen Diskussion mit dem nichtakademischen Teil der Bevölkerung. Denn dessen Alltags-‚Metaphysik‘ würde durch einen solchen als ‚philosophisch‘ zu bezeichnenden Dialog gleichsam zu Philosophie aufgewertet, zumindest bis zu ihrer Widerlegung, d.h. aber — da Widerlegungen meistens nicht alle überzeugen — bis in alle Ewigkeit ... Um einer solchen Verwässerung des Begriffes ‚Philosophie‘ entgegenzuwirken, eignet sich vor allem ein akademischer Habitus, der nicht die Diskussion mit dem außeruniversitären ‚common sense‘ sucht, sondern eher jede Verbindung und Gemeinsamkeit verleugnet, sodaß ein (fast) völlig autonomer philosophischer Raum geschaffen wird. Nur wer sich in diesem bewegen kann und will, indem er die verlangte Fachterminologie, die Schreib- und Sprechweise usw. übernimmt, soll den Titel ‚Philosoph‘ tragen dürfen“ (M. Arnold).

Nun ist aber selbst innerhalb der Fachphilosophen eine derartige Entfremdung eingetreten, daß bloß noch in Binnenzirkeln disputiert wird und ansonsten ein fast feindschaftliches Sich-Beschweigen stattfindet. Analog sitzen lauter kleine Gralshüter in ihren Nischen, wo ängstlich nur noch unter jeweiligen SympathisantInnen gesprochen wird. Besuchte man verschiedene Sektionen und Arbeitskreise, so kam man sich vor wie ein Wanderer auf fremden Planeten.

Aber nicht nur intern mangelt es am Austausch, sondern es fehlt überhaupt die Emphase der ...

... Kommunikation ...

... in der Öffentlichkeit, die, so scheint es, ein vernachlässigbarer Faktor ist. Bedauerlich ist, daß sich damit alle eingefleischten Vorurteile gegenüber der Menschenweisheit und ihrer Vertreter bestätigen. Dieser ‚Tatbestand‘ ist umso erstaunlicher, ist doch das Medium des Öffentlichen die Sprache (-Zeichen), die genuin das Feld der Philosophie ausmacht. Die Bestimmung der Öffentlichkeit läßt sich äquivok der der philosophischen Zunft als indirekte Kommunikation charakterisieren: als Prinzip der Delegation in Form der Schrift, des Gesetzes, des Rechts, der Medien. Nun schaffen es die Protagonisten der philosophischen Bühne weder, untereinander aus der indirekten eine direkte Kommunikation herzustellen, sondern im Gegenteil, sie machen aus der indirekten gar noch eine abstrakte. „Die Welterklärungen der Philosophie im 20. Jahrhundert sind auffallend oft zu hypertotalen Synthesen geraten oder an der sozio-ökonomischen Kompaktheit der herrschenden (faschistischen, marxistischen, kapitalistischen) Systeme zerbrochen ... Das Leben als Darstellung der alten Ideale der Vereinbarkeit von Ursprung und Ganzheit zu inszenieren, bringt den Intellektuellen in eine bemerkenswerte Position gegenüber der Masse. Ohne Ballast kann man den Troß leicht überholen ...“ (H. Hrachovec).

Einzig Philosophinnen können den Ballast nicht leichtfertig über die Schulter schmeißen, stellen sie doch den theoretisch vereinnahmten Ballast selber dar und werden de facto ad personam nach wie vor als dieser empfunden — zumindest dann, wenn sie ihre Stimme als weibliche — laut erheben. Doch wie auch der erstmals auf einem Philosophiekongreß instituierte Frauenarbeitskreis verdeutlichte, passierte dies noch viel zu gezähmt. So, als ob akademisch ‚gesetzter‘ Habitus sich in Text und Gestus gerade bei den Frauen noch besonders eingenistet hätte. Auf Grund der erforderten Anpassungsreglements, die nicht die ihren sind und in welchen sich zumindest schon manche Männer souveräner bewegen können, was logisch ist, könn(t)en sie sich doch historisch leichter davon abgrenzen. Für sie geht es in der Institution gleichsam weniger und mehr um Leben und ...

... oder Tod

Das prekäre Dilemma der Philosophie, die Allgemeinheit zu denken, aber nicht in ihr zu sein, bedarf zur Lösung die gerade von ihr so beanspruchte Fähigkeit zur Selbstreflexion, also ein Wissen zu produzieren, das sich darüber unterhält, was es ‚unterhält‘. Will sie praktisch werden, nicht in Projektionen von Allmachtsphantasien und abstrakten Ethiken, die solcher Art nur Alibifunktion haben, muß sie die Konstitutionsbedingungen ihrer selbst (in Theorie und Praxis) reflektieren lernen. „Unsterblichkeitsphantasie, individueller und kollektiver Tod, sollen in Institutionen strukturiert werden. In der Tendenz, sich auf ‚Dauer‘ stellen zu wollen, liegt der versuchte Anspruch, sich individuell und kollektiv Ewigkeit geben zu wollen ... Gibt es dann überhaupt noch ‚Fortschritt‘ in der Erkenntnis des Wirklichen? Kreist dann nicht Wissenschaft immer nur in sich selbst und wird sie nicht dadurch tendenziell zum eigentlichen Verteidiger der Institution?“ (P. Heintel)

Wenn nach Freud zutrifft, daß Philosophie die allgemeine Paranoia ist (und die Kunst — die Hysterie, die Religion die Zwangsneurose) und ihre Triebgeschichte als die des Todestriebes entziffert werden kann, so erweist sich diese Verkoppelung der inneren mit den äußeren Motiven als un/gemein schwierig zu (er-)lösende. Doch würde gerade die Auflösung einen Austausch mit sich selbst, mit den KollegInnen, der Institution erfordern, um das Nichtverhältnis zur Öffentlichkeit zu einer Verbindlichkeit zu entwickeln — durchaus auch im Sinne einer Affäre, die beides ist: Nähe und Distanz.

Und nicht, wie einer der alten Berühmten auf dem Kongreß sich mit sage und schreibe 30.000 bedruckten Seiten (wer soll das nur lesen, seufz) brüstete und damit, daß seine Frau dieses, sein Vermächtnis — übrigens ganz im Sinne Hegels, der da meinte, daß die Subjektwerdung der Frauen sich erst mit der Bestattung und Betrauerung der gestorbenen Helden vollzöge — einst der Öffentlichkeit zuliebe (!?) verwalten werde. Hingegen, ist das, was die Philosophie inspiriert, nicht vielmehr das, was uns darob traurig macht, noch sagen zu können? „Man möchte fast sagen, sie wolle den Schmerz in das Medium des Begriffs übersetzen. Philosophie ist also nicht ein nach außen gehaltener Spiegel, der irgendeine Realität abbildet, sondern viel eher der Versuch, Erfahrung oder dieses es-sagen-wollen doch verbindlich zu machen“ (Adorno).

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