ZOOM 2/1999
März
1999

„Irrational und rachsüchtig“

Im folgenden dokumentieren wir die Antwort Noam Chomskys auf eine im Netz-Forum des US-amerikanischen Z-Magazins an ihn gerichteten Frage über die Gründe für den US/NATO-Krieg gegen Jugoslawien, die unserer Auffassung nach einige interessante Hinweise enthält. [1]

Frage: Inwieweit hängt die Anwendung militärischer Gewalt durch die USA mit dem Öl im kaspischen Meer, der Sorge über die zu Ende gehenden Ölreserven, der Unsicherheit über Rußland und sein früheres Reich, der Bedrohung westlicher Interessen durch die Ausweitung des Balkankonflikts, dem Wunsch nach Erhöhung des Verteidigungshaushalts oder vielleicht anderen Faktoren zusammen – angesichts der Tatsache, daß die vorgeschobenen humanitären Beweggründe „dubios“ erscheinen?

Chomsky: „Dubios“ ist jedenfalls verniedlichend. Wenn ein Mafia-Capo der lokalen Niederlassung der Mord GmbH gegenüber Kindern Freundlichkeit zeigt, sind die humanitären Beweggründe noch nicht einmal „dubios“ – und dies wird sogar noch eher so sein, wenn er seine humanitären Beweggründe dadurch zeigt, daß er dem Kind ins Gesicht tritt. Wir können das als pure Scheinheiligkeit beiseite lassen.

Aus meines Sicht plausibler ist, was Clinton, Blair, usw. von Anfang gesagt haben. Es ist notwendig, die „Glaubwürdigkeit der NATO“ sicherzustellen. Aber diese Phrase muß aus dem Newspeak übersetzt werden.

Die USA kümmern sich nicht um die Glaubwürdigkeit Italiens oder der Niederlande, sondern die der USA (und ihres britischen Bluthundes). Und was bedeutet „Glaubwürdigkeit“?

Kehren wir zum Mafia-Capo zurück. Wenn jemand kein Schutzgeld zahlt, muß der Capo „Glaubwürdigkeit“ herstellen um sicherzustellen, daß nicht andere auf dumme Gedanken kommen und Befehle mißachten. Was Clinton et al. sagen, ist also, daß es notwendig ist sicherzustellen, daß jeder die gebührende Furcht vor der Weltmacht hat. Ich denke, es ist auch wichtig, sich des strategischen Dokuments „Essentials of Post-Cold War Deterrence“ (Grundzüge der Abschreckung nach Ende des kalten Krieges) [3] der Clinton-Administration zu erinnern, den ich in einem Artikel über „Schurkenstaaten“ im Z-Magazin vor einem Jahr zitiert habe und das Steve Shalom neulich in größerer Ausführlichkeit behandelt hat. In diesem wird als „Teil der nationalen Identität gegenüber allen Widersachern“ befürwortet, daß sich die USA als „irrational und rachsüchtig“ präsentieren, „wenn ihre vitalen Interessen attakiert werden“: „Es schadet, uns selbst als allzu rational und kühlen Kopfes darzustellen“ – und ganz bestimmt, uns den Vertragsverpflichtungen und Bestimmungen der internationalen Rechtsordnung zu unterwerfen. „Die Tatsache, daß manche Elemente [der US-Regierung] als möglicherweise ’out of control’ erscheinen, kann von Nutzen sein, um Ängste und Zweifel in den Köpfen der gegnerischen Entscheidungsträger zu erzeugen und wiederzubeleben.“

Das macht Sinn für eine Schurken-Supermacht, die praktisch das Gewaltmonopol innehat. Die „humanitäre Verbrämung“ wurde von gewalttätigen Staaten die ganze Geschichte hindurch benutzt. Hätten wir Aufzeichnungen, stellten wir vermutlich fest, daß dies sogar auf Dschingis Khan zutraf. Es traf sicherlich auf die Kreuzfahrer zu, die eine schreckliche Spur an Tod und Vernichtung zurückließen. Tatsächlich findet sich die einzige Ausnahme, die ich kenne, in der Bibel, die von offenen Aufrufen zum Genozid ohne vorgeschobene Motive berichtet – die karthagische Lösung.

Dahinter steht der entschiedenen Anschlag der USA gegen jede Institution der internationalen Rechtsordnung: gegen die UNO, gegen den internationalen Gerichtshof und sogar gegen die Welthandelsorganisation, wenn sie aus dem Ruder läuft. Das geht bereits 40 Jahre so, aus Gründen, die sehr klar zu erklären sind und – unter der Bedingung echter Meinungsfreiheit – in jeder Schule des Landes gelehrt würden und in jeder Zeitung und Zeitschrift Schlagzeilen machten: Sie halten sich nicht an unsere Befehle, deshalb könnten wir den Einfluß auf sie verlieren. Deswegen haben die USA in diesem Fall ihre zögernden NATO-Verbündeten genötigt, sogar eine „Ermächtigung“ der UNO zurückzuweisen.

NOTO KOSOWAR 2.22

Eine sehr wichtige Meldung sickerte in den letzten Absätzen eines Artikels auf den hinteren Seiten der New York Times vom 8. April durch, verfaßt von ihrem Belgrader Korrespondenten Steven Erlanger, der einen guten Ruf genießt. Vielleicht das wichtigste Stückchen Information über das, was passiert. Er schreibt, daß „unmittelbar vor den Bombardements das serbische Parlament zwar die NATO-Truppen im Kosovo abgelehnt, aber den Vorschlag einer UNO-Truppe zur Beobachtung einer politischen Lösung des Konflikts unterstützt hat.“ Wenn Erlangers Bericht der Wahrheit entspricht, ist er ein dramatischer Beleg für die Intentionen der USA: Ähnlich der Bombardierung des Irak im Dezember handelt es sich um eine schamlose Attacke auf die Institutionen der internationalen Rechtsordnung. Hinsichtlich des Einsatzes einer UNO- statt einer NATO-Truppe befände sich das serbische Parlament im Recht, und nicht Washington. Wenn der Bericht der Wahrheit entspricht, löst sich das letzte Fitzelchen Legitimiät der US/NATO-Operation in Luft auf. Ich hatte einen solchen Bericht bislang nicht gesehen, andere vielleicht schon. Es wäre jedenfalls am Tag vor dem Beginn der Bombardements eine Schlagzeile wert gewesen, und nicht einen versteckten Hinweis zwei Wochen später – obwohl das besser ist als gar nichts.

Es würde mich sehr interessieren, ob andere über ähnliche Berichte gestolpert sind.

Die anderen Faktoren, die sie erwähnen, könnten stimmen, aber ich denke, sie sind zweitrangig. Die US/NATO-Operation verschlimmert die meisten Probleme. Die Erhöhung des Verteidigungshaushalts ist kein Wert für sich allein. Die Erhöhung, die dieser Episode folgen wird, ist für das Pentagon und den weiten Sektor der „privaten“ Ökonomie, deren Forschung und Entwicklung von diesem abhängig sind, großteils nutzlos.

[1http://www.lbbs.org/ZMag/chomreplieskos.htm. Das Z-Magazin hat eine eigene Website eingerichtet (http://www.lbbs.org/ZNETTOPnoanimation.html), auf welcher sich eine Reihe von interessanten Stellungnahmen zum Krieg gegen Jugoslawien findet. Dieser haben wir auch Jan Myrdals Beitrag „Für eine neue Friedensbewegung“ entnommen (siehe Seite 15). Die Übersetzung einer ausführlichen Stellungnahme von Chomsky, „The current Bombings: Behind the Rhetoric“, ist in Nr. 10 von planet, der Zeitschrift der Grünen Bildungswerkstatt, abgedruckt.

[2http://www.lbbs.org/ZMag/chomreplieskos.htm. Das Z-Magazin hat eine eigene Website eingerichtet (http://www.lbbs.org/ZNETTOPnoanimation.html), auf welcher sich eine Reihe von interessanten Stellungnahmen zum Krieg gegen Jugoslawien findet. Dieser haben wir auch Jan Myrdals Beitrag „Für eine neue Friedensbewegung“ entnommen (siehe Seite 15). Die Übersetzung einer ausführlichen Stellungnahme von Chomsky, „The current Bombings: Behind the Rhetoric“, ist in Nr. 10 von planet, der Zeitschrift der Grünen Bildungswerkstatt, abgedruckt.

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