Streifzüge, Heft 45
März
2009

Kapitalismus am Abgrund

Angesichts der im atemlosen Tempo voranschreitenden Implosion des in den letzten drei Dekaden errichteten internationalen Finanzsystems ist allenthalben eine hektische Suche nach den Ursachen dieses Zusammenbruchs ausgebrochen, die oftmals in der mit neoliberaler Deregulierung und Liberalisierung einhergehenden Expansion der Finanzmärkte verortet werden. Der vorliegende Text sieht hingegen bereits die Genese des Neoliberalismus – mitsamt der von den Finanzmärkten dominierten Ökonomie – als die Folge einer fundamentalen Krise der Kapitalreproduktion in der realen, warenproduzierenden Wirtschaft.

Der Aufstieg des neoliberalen, durch die Dominanz des Finanzkapitals geprägten Weltwirtschaftssystems – dessen Finanzüberbau gerade über uns zusammenbricht – resultierte aus der tiefgreifenden ökonomischen Krise der frühen 70er Jahre, die nahezu alle westlichen Industrieländer erfasst hatte. Diese Krise beendete eine seit den frühen Fünfzigern anhaltende Periode wirtschaftlicher Prosperität. Die führenden westlichen Wirtschaftsnationen verbuchten zwischen 1950 und 1970 ein rasantes ökonomisches Wachstum, das wesentlich zur Vollbeschäftigung, ja zum Arbeitskräftemangel in etlichen Industrieländern beitrug.

Dieses „Goldene Zeitalter“ (Hobsbawm) des Kapitalismus fußte auf einer „inneren Kapitalexpansion“ in den avancierten kapitalistischen Ökonomien, innerhalb derer zuvor ausgeklammerte Gesellschafts- und Lebensbereiche für die Kapitalverwertung erschlossen wurden. Durch die stürmisch voranschreitende wissenschaftlich-technische Entwicklung der Produktionsmittel boomten zwischen 1950 und 1970 beispielsweise die Haushaltsgeräteindustrie, die Nahrungsmittelbranche, die Unterhaltungselektronik und der zivile Flugzeugbau. Zudem erlebten die ersten Einzelhandelskonzerne und der Massentourismus ihren wirtschaftlichen Durchbruch. Neue Werkstoffe wie Kunstfasern oder Plastik führten zu einer weiteren Umwälzung bereits etablierter Industriezweige.

Im Zentrum dieses langanhaltenden, stürmischen Wachstums stand die Massenmotorisierung. Von der Autobranche ging der größte Impuls für die Massenbeschäftigung bis in die 70er Jahre aus. Das vorherrschende Produktionsprinzip bei den Fahrzeugherstellern wie auch in vielen anderen Gewerbezweigen war der Fordismus: Mittels Fließbandproduktion und unter massivem, intensiviertem Einsatz von Arbeitskraft und Maschinen (Taylor-System) wurden Massengüter hergestellt, die – dank relativ hoher Löhne – in ihren Produzenten zugleich ihre Konsumenten fanden. Begleitet wurde diese Expansionsbewegung des Industriekapitals auf den sich neu formierenden Märkten von der – zurzeit eine scheinbare Renaissance feiernden – keynesianistischen Wirtschaftspolitik. Im Kern handelte es sich hierbei um einen nachfrageorientierten Politikansatz, der dafür Sorge zu tragen hatte, dass die massenhaft hergestellten Güter auch auf eine massenhafte kaufkräftige (staatliche wie private) Nachfrage trafen.

Tendenzieller Fall der Profitrate

Für die nahezu alle westlichen Industrieländer spätestens seit 1973 erfassenden wirtschaftlichen Verwerfungen etablierte sich der Begriff der Stagflation – einer überhandnehmenden Inflation, die mit einer stagnierenden Ökonomie einherging. Die besagte Phase der „inneren Expansion“ war ab den 70er Jahren abgeschlossen, sodass sich das rasante Wirtschaftswachstum des „Goldenen Zeitalters“ angesichts erschlossener Märkte erschöpfte. Zudem erwies sich der immer enger mit der Industrie verzahnte wissenschaftlich-technische Fortschritt der Produktionsmittel als ein zweischneidiges Schwert: Konnten Produktivitätssteigerungen und neue Technologien bis in die 70er Jahre zur Erschließung neuartiger Märkte beitragen und immer mehr Arbeitsplätze schaffen, als durch Rationalisierungen in älteren Industrien wegfielen, so kippte diese Entwicklung ab 1973.

Ab diesem Zeitpunkt – dem letzten Jahr mit Vollbeschäftigung innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – kehrte die seit Jahrzehnten in den Industrieländern nicht mehr gekannte Massenarbeitslosigkeit zurück. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führte dazu, dass immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden konnten. Neue Industriezweige wie die Mikroelektronik und die Informationstechnik beschleunigten diese Tendenz in den kommenden Dekaden noch weiter, da die neuen Technologien weitaus weniger Arbeitsplätze schufen, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurden.

Dieser qualitative Sprung innerhalb der Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Massenbeschäftigung – die ab den 70er Jahren beständig erodierende Verausgabung „abstrakter Arbeit“ (Marx) innerhalb der industriellen Kapitalverwertung – ließ die der kapitalistischen Wirtschaftsweise immanenten Widersprüche voll aufbrechen. Der Neoliberalismus trat ab den 80er Jahren gerade mit dem Anspruch an, diese Krisentendenzen zu „überwinden“. Zentral war hierbei der tendenzielle Fall der Profitrate, der sich vollends durchsetzte, als die besagte Phase stürmischer Marktexpansion abgeschlossen war und sich die kapitalistische Konkurrenz auf den gesättigten Märkten voll entfaltete.

Wie von Marx im „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ (MEW 25, S. 221 ff.) dargelegt, lässt die beständige Produktivitätssteigerung durch den Einsatz neuartiger Produktionsmittel (Automatisierung) den Anteil des konstanten Kapitals (Maschinerie) im Verwertungsprozess steigen und den des variablen Kapitals (Arbeitskraft) sinken. Ein Unternehmen, das durch die Einführung neuer Produktionstechniken mehr Waren in kürzerer Zeit mit weniger Arbeitskräften herstellen kann, erwirtschaftet Extraprofite, da es für seine Produktion weniger als die durchschnittliche gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit aufwenden muss, die ja die tatsächliche Wertgröße einer Ware bestimmt (siehe MEW 23, S. 49 ff.). Sobald aber der Einsatz der neuartigen Produktionsmittel sich gesamtwirtschaftlich durchgesetzt hat, sinkt die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die zur Herstellung der betreffenden Ware aufgewendet werden muss. Die Extraprofite unseres „innovativen“ Unternehmens schmelzen also mit der Zeit dahin.

Da im Produktionsprozess verausgabte Lohnarbeit (variables Kapital) die Quelle des Mehrwerts bildet, geht diese „Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals“ (Marx) bei gleichbleibenden Aufwendungen für das besagte variable Kapital mit einem Fall der Profitrate einher. Der (nun geschrumpfte) Anteil des variablen Kapitals innerhalb des Produktionsprozesses teilt sich bekanntlich in notwendige Arbeitszeit (Lohn) und Mehrarbeit (Mehrwert) auf – die Relation zwischen diesen beiden Elementen des variablen Kapitals konstituiert die Mehrwertrate.

Kapital wandert in Finanzmärkte

Hier setzten die neoliberalen „Reformen“ der „Reaganomics“ von US-Präsident Ronald Reagan (1981–1988) und des „Thatcherism“ der englischen Regierungschefin Margaret Thatcher (1979–1990) an. Sie zielten darauf ab, die sinkende Profitrate durch die Erhöhung der Mehrwertrate zu sanieren. Durch das Absenken der Kosten für die „Ware Arbeitskraft“ konnte der Anteil der notwendigen Arbeitszeit am variablen Kapital verkürzt, derjenige der Mehrarbeit erhöht werden. Die Profitraten in den USA konnten sich tatsächlich merklich erholen, wobei dies auf Kosten der amerikanischen Arbeiterklasse geschah. So stagnieren seit der Reagan-Ära die realen, inflationsbereinigten Löhne der US-Bevölkerung. Heute verdienen die Lohnabhängigen der USA faktisch weniger als 1973.

In dieser objektiv gegebenen Krise des Verwertungsprozesses des Kapitals in den 70er Jahren findet sich auch eine wichtige Ursache für die überhandnehmende Inflation jener Zeit: Konfrontiert mit weiterhin erhobenen Gewerkschaftsforderungen nach substantiellen Lohnerhöhungen, gingen die Unternehmen dazu über, die Mehrausgaben für die Gehälter auf die Preise ihrer Waren draufzuschlagen. Eine Art lohnpolitischer, die Inflation antreibender Wettlauf setzte ein, in dem Gewerkschaften ihre Lohnforderungen an die immer schneller galoppierende Inflation anzupassen trachteten. Erst die neoliberalen Regierungen brachen den Gewerkschaften im angelsächsischen Raum das Rückgrat und setzten fortan auf den Monetarismus.

In unserem Zusammenhang sind vor allem die Folgen dieser mit Lohndumping, Sozialabbau und Outsourcing einhergehenden neoliberalen Politik von Relevanz. Die von den Neoliberalen eingeleiteten Reformen brachten bald die ihnen immanenten, unüberwindlichen Widersprüche zum Vorschein. Die stagnierenden Löhne, die Steuergeschenke an Wohlhabende und der Sozialabbau ließen tatsächlich bald die Profite und die Vermögen kräftig wachsen, doch zugleich sank die Massennachfrage. Zu den Warenbergen, die keine Käufer fanden, gesellten sich Berge von Kapital, das kaum in der weiteren Warenproduktion profitable Investitionsmöglichkeiten finden konnte. Es drohten somit klassische Überproduktions- und Überakkumulationskrisen. Abhilfe schuf hier der seit den 80er Jahren immer weiter expandierende und fortwährend deregulierte Finanzsektor, der zu einer regelrechten finanziellen Explosion ansetzte, für die sich im angelsächsischen Raum schnell der Begriff „Financialisation of capitalism“, Finanzialisierung des Kapitalismus, etablierte.

Auf scheinbar magische Weise löst die Finanzialisierung dieses spätkapitalistische Dilemma. Die wild wuchernden Finanzmärkte nehmen das überschüssige Kapital auf, die während der Boomphasen diverser Spekulationsblasen generierten Gewinne sorgen hingegen für kaufkräftige – aber auch fiktive, kreditfinanzierte – Nachfrage, die stimulierend auf die Warenproduktion wirkt. Es sind also gerade die im spekulativen Fieber verfangenen Finanzmärkte, die der schwindsüchtigen realen Wirtschaft vermittels Nachfrage auf die Sprünge helfen. Dies ist auch das „Geheimnis“ der anscheinend so stürmisch wachsenden US-Konjunktur in den 90ern: Die anhaltende Hightech-Spekulation ermöglichte den langen Aufschwung in der Regierungszeit von Bill Clinton (1993–2001). Die Vorstellung von einem zersetzenden Finanzkapital, das das kerngesunde produzierende Gewerbe mit in den Abgrund der Rezession reißt, stellt somit die Realität geradezu auf den Kopf.

Schwarzes Loch USA

Anhand der letzten Immobilienspekulationen können wir diesen Effekt im Rahmen einer regelrechten „Blasenökonomie“ besonders gut studieren. Nach dem US-amerikanischen Ökonomieprofessor Rick Wolff können zwei Drittel des US-Aufschwungs der letzten fünf Jahre auf den wild wuchernden Immobiliensektor der USA zurückgeführt werden, sogar drei Viertel aller neugeschaffenen Arbeitsplätze in diesem Zeitraum sind aufgrund der Immobilienblase entstanden! Der Soziologe John Bellamy Foster fasste diesen Prozess folgendermaßen zusammen: „Die Wahrheit ist, dass das avancierte kapitalistische System von dem Prozess der Finanzialisierung (dem Anwachsen der finanziellen Struktur in Relation zur ,realen Ökonomie‘) abhängig war, der sich als das wichtigste Mittel erwiesen hat, die Stagnation in der Produktion und der Investitionstätigkeit in den vergangenen Dekaden zu bekämpfen – beginnend in den 60er Jahren, aber beschleunigend in den 80ern und nochmals zusätzliche Fahrt aufnehmend in den 90ern. Das war es, was vorwiegend das ökonomische Wachstum in den Vereinigten Staaten und anderswo im Zentrum des Systems anspornte – unter Berücksichtigung der Stagnation bei den Investitionen in neue Produktionskapazitäten (die wegen existierender Überkapazitäten niedrig blieben).“

Die gute globale Konjunktur der letzten Jahre lebte, wie dargelegt, als Anhängsel der explosionsartig wachsenden Finanzmärkte, sie bildete sozusagen deren Wurmfortsatz. Dieses oberflächlich betrachtet unwahrscheinliche Verhältnis zwischen der globalen, realen Wirtschaft und der Finanzsphäre war nur aufgrund der astronomischen Größenordnung möglich, in welche die permanent wuchernden und mutierenden Finanzmärkte vorstießen. Es scheint geboten, die eigentlich unvorstellbaren Dimensionen des Finanzsektors am besten in Relation zur realen Ökonomie zu erhellen. Das Verhältnis zwischen dem Gesamtumsatz der US-Finanzmärkte und dem Bruttonationaleinkommen der Vereinigten Staaten ist in diesem Zusammenhang besonders erhellend für diese in den letzten Dekaden voranschreitende „finanzielle Explosion“. So entsprach das amerikanische BSP 1960 noch 66,2 Prozent aller Umsätze der US-Finanzmärkte. In 1970 fiel dieser Anteil auf 37,8 Prozent, in 1980 auf 15,7 und ein Jahrzehnt später waren es nur noch 2,6 Prozent. Im Jahr 2000 betrug die Summe aller in einem Jahr hergestellten Güter und Dienstleistungen der größten Volkswirtschaft der Welt gerade einmal 1,9 Prozent der Umsätze der US-Finanzmärkte! Weit über 90 Prozent aller globalen Devisentransaktionen sollen zur Hochzeit der Finanzialisierung des Kapitalismus rein spekulativen Zwecken gedient haben. Symptomatisch ist auch das explosionsartige Wachstum der Märkte für Derivate, wie John Bellamy Foster erläuterte: „Der durchschnittliche tägliche Umsatz bei Devisentransaktionen stieg von 570 Milliarden Dollar in 1989 auf 2,7 Billionen in 2006. Seit 2001 wuchs der globale Markt für Derivate (der globale Markt für Instrumente zum Risikotransfer) um über 100 Prozent jährlich. Von relativ geringer Bedeutung zu Beginn des Millenniums, blähte sich der totale Nennwert der global gehandelten Kreditderivate auf 26 Billionen im ersten Halbjahr 2006 auf.“ Nicht anders sieht es bei den im Finanzsektor und in der realen Ökonomie realisierten Gewinnen aus. Auch hier sind die Profite des Finanzkapitals mit drei Prozent des BSP längst höher als im produzierenden Gewerbe, dessen Gewinne bei zwei Prozent des BSP liegen. Der Anteil der im Finanzsektor erzielten Gewinne an den Gesamtprofiten in den USA ist langfristig angestiegen: von ca. 17 Prozent in 1985 auf nahezu 40 Prozent.

Diese Finanzialisierung erreichte globale Dimensionen, indem sich mit der Zeit Defizitkreisläufe mit den USA als deren Mittelpunkt ausbildeten, die als eine Art globaler Konjunkturmotor fungierten: Die exportorientierten Länder wie China, Japan oder Deutschland lieferten ihre Waren in die USA und investierten das Geld dort sogleich wieder – vornehmlich in deren Finanzsektor. Somit fließen in dem größten pazifischen Defizitkreislauf die chinesischen Waren in Richtung USA und auf dem Rückweg strömt ein geisterhafter Fluss von amerikanischen „Wertpapieren“, oder grün bedruckten Papierzetteln, die liebevoll „Greenback“ genannt werden, in Richtung China zurück.

Die Vereinigten Staaten bildeten sozusagen ein „schwarzes Loch der Weltkonjunktur“ aus, in dem die Überschussproduktion der exportorientierten Volkswirtschaften verschwand. An die 20 Milliarden US-Dollar müssen monatlich in den Finanzsektor der USA fließen, um deren gigantische Defizite auffangen zu können. Das Handelsdefizit zwischen den USA und China betrug beispielsweise 2007 über 250 Milliarden US-Dollar. Die Chinesen leihen den USA somit das Geld, damit diese weiter ihre Produkte kaufen können. Es ist klar, dass die gute Konjunktur der letzten Jahre einfach auf Pump realisiert wurde, insbesondere durch die Verschuldung innerhalb der Vereinigten Staaten.

Inzwischen ist die Gesamtverschuldung der USA in wahnwitzige Dimensionen vorgerückt, die absolut keine Parallelen in der Geschichte dieser größten Volkswirtschaft der Welt aufweist. Ende März 2008 standen die Vereinigten Staaten mit einer Summe, die 350 Prozent ihrer jährlichen Gesamtwirtschaftsleistung entspricht, in der Kreide! Man könnte dieses System auch als eine Art „privatisierter Keynesianismus“ bezeichnen, in dem US-Bürger mit ihrem „deficit spending“ (Defizitfinanzierung) die Konjunktur stützen. Dasselbe tut im Endeffekt der amerikanische Staat, dessen Verschuldung – jüngst verstärkt durch die diversen, billionenschweren Rettungsmaßnahmen für den Finanzsektor und das Konjunkturprogramm von nahezu 800 Milliarden Dollar − ebenfalls längst astronomische Höhen erreicht hat. Global ist dieses System deswegen, weil dieser schuldenfinanzierte Nachfrageboom im Zentrum der globalen Defizitkreisläufe steht, die auch die Volkswirtschaften in Südostasien und Europa über Wasser hielten. Es ist dieses auf Pump betriebene weltwirtschaftliche Perpetuum mobile, das das Herzstück der globalen „Finanzblasenökonomie“ bildete und nun im Zuge der Finanzkrise zum Stillstand kommt. Die Industrie des „Exportweltmeisters Deutschland“ profitierte übrigens von der globalen Defizitkonjunktur im besonderen Maß. Die vermittels Hartz-IV-Gesetzen durchgesetzte Verelendung in der BRD dient der Zurichtung der deutschen Gesellschaft auf die Interessen des exportorientierten, „schaffenden“ deutschen Kapitals, dessen Exportoffensive im Rahmen der globalen Defizitkreisläufe eine komplementäre Funktion zum steigenden Handelsdefizit der USA einnahm.

Lohnarbeit verflüchtigt sich

Der Zusammenbruch dieser nahezu drei Jahrzehnte andauernden Ära der Finanzialisierung des Kapitalismus lässt nun die der spätkapitalistischen Produktionsweise innewohnende Krisendynamik erneut voll ausbrechen. Die zum Wesen des Kapitalismus zählende beständige Revolution der Produktivkräfte und die permanenten Produktivitätssteigerungen führen nun zu einer regelrechten „Krise der Arbeitsgesellschaft“, wie sie unter anderem der linksliberale bürgerliche Ökonom Jeremy Rifkin thematisierte. Laut Rifkin gingen zwischen 1995 und 2002 über 31 Millionen Industriearbeitsplätze in den 20 größten Volkswirtschaften verloren, wobei jede Region der Welt einen Rückgang der Beschäftigtenzahl in der Industrie verbuchte – und das in einem Zeitraum, in dem die globale Industrieproduktion um 30 Prozent anstieg. Ähnliche Entwicklungen prognostiziert Rifkin für den Dienstleistungssektor, in dem „intelligente Technologien“ ebenfalls menschliche Arbeitskraft zusehends überflüssig werden lassen. Die bereits angedeutete, seit den 80er Jahren mit den Umwälzungen der Mikroelektronik und IT-Technik einhergehende „dritte industrielle Revolution“ macht Lohnarbeit innerhalb des Reproduktionsprozesses des Kapitals in nie zuvor erlebtem Ausmaß überflüssig.

Das über Jahre mit zweistelligen Zuwachsraten beim BSP im Dauerboom befindliche China, die neue „Werkstatt der Welt“, bildet hier keine Ausnahme. Zwischen 1995 und 2002 verlor das Reich der Mitte 15 Millionen Arbeitsplätze in der Produktion, das waren 15 Prozent der gesamten Industriearbeiterschaft. Die Wirtschaftsfakultät der University of Michigan bemühte sich 2004 in Kooperation mit der chinesischen Akademie der Wissenschaften, die wahre Arbeitslosenquote im Reich der Mitte zu ermitteln (die offiziellen Zahlen Chinas haben in etwa denselben Wahrheitsgehalt wie die deutschen oder amerikanischen Statistiken). In den Jahren des stürmischen chinesischen Wirtschaftsaufschwungs, zwischen 1996 und 2002, stieg laut der Studie die Arbeitslosenquote in ganz China von 6,1 auf 11,1 Prozent bei den angemeldeten Stadtbewohnern und von 4,0 auf 7,3 Prozent bei den Arbeitsmigranten.

Da nun die globalen, kreditfinanzierten Defizitkreisläufe zusammenbrechen, explodiert die Arbeitslosigkeit weltweit. In China waren bereits im Januar 2009 ca. 15 Prozent der 130 Millionen Wanderarbeiter des Landes ohne Arbeit. Das sind 20 Millionen Menschen, die, aus ländlichen Gebieten kommend, in den zahllosen Fabriken der Küstenregionen meist prekäre Beschäftigung fanden. Im Dezember 2008 wurde die Zahl der arbeitslosen Wanderarbeiter von der chinesischen Statistikbehörde noch mit sechs Millionen angegeben.

Dabei muss beachtet werden, dass die Wirtschaft im vierten Quartal 2008 immer noch um 6,8 Prozent gewachsen war! Ähnlich dramatisch ist die Lage in den Vereinigten Staaten, wo die reelle Arbeitslosenquote im Februar bei 17 bis 18 Prozent liegen dürfte. In der EU, insbesondere in Großbritannien, Spanien, Irland und weiten Teilen Mittelosteuropas, schießt die Erwerbslosenquote rasant in die Höhe und dürfte bald den zweistelligen Bereich erreichen. Die nun millionenfach aus dem Prozess der Kapitalreproduktion herausgeschleuderten Menschen, das rasch wachsende Millionenheer der Arbeitslosen illustriert vor allem die ungeheuere, zeitweilig stabilisierende ökonomische Wirkung, die der nun kollabierende Prozess der Finanzialisierung des Kapitalismus in den vergangenen drei Dekaden ausgeübt hat. Die reale Wirtschaft, das von reaktionären Kapitalismuskritikern fetischisierte „schaffende Kapital“, bricht an seinen eigenen Widersprüchen zusammen, sobald die über Kreditvergabe und spekulative Blasenbildung vom Finanzsystem erzeugte Nachfrage wegbricht.

Es ist kein Zufall, dass sich ausgerechnet der Fahrzeugbau im Zentrum der Wirtschaftskrise befindet. Dietmar H. Lamparter schrieb am 16.10.2008 in der Zeit über die Auswirkungen erhöhter Produktivität auf die deutsche Autowirtschaft: „Die Crux an der Situation: Selbst wenn die deutschen Hersteller die Verkäufe ihrer Fahrzeuge konstant halten können, wächst mit jedem neuen Modell der Druck auf die Arbeitsplätze. Die Produktivität beim Wechsel von Golf V auf Golf VI sei in Wolfsburg um mehr als 10 Prozent und in Zwickau sogar um mehr als 15 Prozent gestiegen, verriet ein stolzer VW-Chef Winterkorn bei der Präsentation der Neuauflage des wichtigsten Konzernfahrzeugs. Das bedeutet, dass für die Montage der gleichen Zahl von Autos 15 Prozent weniger Leute nötig sind. Wenn also vom Golf VI nicht entsprechend mehr abgesetzt wird, sind Jobs in Gefahr. Genauso läuft es bei neuen Modellen von BMW, Mercedes oder Opel. Teilweise werden dort Produktivitätssprünge von 20 Prozent erzielt.“

Die Lohnarbeit, letzten Endes die Substanz der Kapitalverwertung, „verflüchtigt“ sich also aufgrund dieser ureigensten kapitalistischen Dynamik aus dem Akkumulationsprozess. Der tendenzielle Fall der Profitrate – wie auch die damit einhergehende, von Rifkin konstatierte „Krise der Arbeitsgesellschaft“ – scheinen auf eine innere Schranke des kapitalistischen Systems hinzuweisen. Obwohl Lohnarbeit seine Substanz bildet, ist das Kapital als „prozessierender Widerspruch“ (Karl Marx) gesetzmäßig bestrebt, den Anteil der Lohnarbeit an seiner Reproduktion immer weiter zu senken. Die Finanzialisierung des Kapitalismus hat diese Krisentendenzen vermittels Defizitkonjunktur, Blasenbildung und Verschuldung für einige Dekaden absorbiert, doch nun brechen sie verstärkt hervor: „Die einzige wirkliche Barriere der kapitalistischen Produktion“, prognostizierte bereits Marx, „ist das Kapital selbst“. Wir befinden uns somit am Vorabend einer veritablen Systemkrise des kapitalistischen Weltsystems. Die sich im Schoße der kapitalistischen Produktionsweise beständig revolutionierenden Produktivkräfte geraten immer weiter in einen fundamentalen Widerspruch mit denselben kapitalistischen Produktionsverhältnissen, die inzwischen als deren Fesseln fungieren. Wollte man das Wesen dieser nun alle Weltregionen erfassenden Krise auf einen kurzen, prägnanten Nenner bringen, so wäre es wohl dieser: Die Produktivkräfte sprengen gerade die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Es ist dies die klassische revolutionäre Situation, wie sie Marx im Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ vor 150 Jahren dargelegt hat: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen. (…) Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“ (MEW 13, S. 9)

Die Tragik unserer Epoche besteht nur darin, dass weit und breit keine revolutionäre Klasse, kein revolutionäres Subjekt auszumachen ist. Der ideologische Sieg des Kapitalismus scheint gerade in seiner Niederlage absolut zu sein, für breiteste Bevölkerungsschichten sind Alternativen zur kapitalistischen Vergesellschaftung schlicht undenkbar. Sollte keine breite, progressive, antikapitalistische Bewegung innerhalb des einsetzenden Krisenprozesses entstehen, droht uns der zivilisatorische Zusammenbruch. Die Aufgabe der revolutionären, antikapitalistischen Linken besteht zuvorderst darin, das öffentliche Bewusstsein über diese höchst gefährliche Situation – die jederzeit in Barbarei umschlagen kann – zu verbreitern und postkapitalistische, jenseits der uferlosen, fetischisierten Kapitalreproduktion angesiedelte gesellschaftliche Alternativen zu diesem autodestruktiven, spätkapitalistischen System zu diskutieren und aufzuzeigen. Wir müssen – in den konkreten Kämpfen vor Ort – zuerst revolutionäres Bewusstsein schaffen; also das Bewusstsein darüber, dass wir uns in einer revolutionären Situation befinden, dass das kapitalistische System an seine Entwicklungsgrenzen gestoßen ist. Die konkrete Aktion, der Abwehrkampf vor Ort, der Streik, die Betriebsbesetzung, die Straßenblockade, die Demonstration – diese vor uns liegenden Kämpfe müssen bereits als Teil des Ringens um eine postkapitalistische Gesellschaft aufgefasst und propagiert werden. Wir müssten ja an konkreten Kämpfen ansetzen − mit den Menschen streiten, die in dieser Krise unterzugehen drohen, diese konkreten Kämpfe zusammenführen zu ihrem gemeinsamen, objektiven, um des Überlebens der menschlichen Zivilisation willen absolut notwendigen, scheinbar so „abstrakten“ Ziel: der Überwindung dieses über uns zusammenbrechenden kapitalistischen Systems.

Das Räsonieren über Konjunkturprogramme – die ohnehin nur die mit der Finanzialisierung untergegangene Defizitkonjunktur in staatlicher Regie bis zum Staatsbankrott fortführen werden – können wir getrost der CDU und SPD überlassen. Ein „Zurück“ zum bereits in den 70ern in der Krise befindlichen Keynesianismus, zu massiven Konjunkturprogrammen, wird ebenso wirkungslos bleiben wie eine erneute Regulierung der Finanzmärkte. Genauso könnte man einen Krebskranken mit Hustenbonbons zu heilen versuchen.

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