MOZ, Nummer 57
November
1990

Keine Angst vor Utopien

Utopien sind keine Sternschnuppen, sondern Konzept gewordene Träume von Menschen, die an ihrem Alltag leiden.

Eine Mehrheit bei den Radikalen Linken hat Anfang Oktober 1990, acht Wochen vor der Reichstagswahl, einen Wahlboykott beschlossen. Im Juni zuvor, beim Kongreß der Radikalen Linken, wurde ein Boykott nicht einmal thematisiert. Was hat sich seitdem verändert? Daß der Prozeß der Annektion der DDR stattfand und weitergehen würde, war absehbar. Die SPD ist noch genauso sehr Kapitalpartei und nationalistisch, wie sie es mit dem Absingen der Nationalhymne im November 1989 durch die Chorknaben Willi Brandt, Walter Momper und anderen vor dem Schöneberger Rathaus demonstriert hat. Bei den GRÜNEN haben staatstragende, marktwirtschaftliche Strömungen weitgehend das Sagen. Das wird auch nicht dadurch besser, daß, der Not geschuldet, inzwischen wieder radikale Reden unter Beifall auf Bundesversammlungen gehalten werden. Es weiß ja tatsächlich jede und jeder, daß kein noch so kleines Zipfelchen Regierungsbeteiligung in Sicht ist Über CDU/FDP brauchen wir nicht zu sprechen. Also was ist anders? Die PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) mit oder ohne Linke Liste ist als Wahlpartei für den Westen dazugekommen. Einigen Gruppen, die in der Radikalen Linken zusammenkommen, laufen die Leute Richtung PDS davon. Ist das der Anlaß für den Wahlboykott? Manche Radikale Linke sagen: Wir brauchen einen authentischen Ausdruck linksradikaler politischer Opposition zur Abgrenzung, Identitätsbildung und Organisierung. Das kann ich verstehen. Und ich bin auch nicht zu allen Zeiten gegen Wahlboykott. Aber all diese wichtigen Aufgaben, Identitätsbildung und Organisierung, soll eine nicht vorbereitete Kampagne erfüllen, die am Tag nach der Wahl erlischt, weil sie keinen weiter tragenden Unterbau hat? Es wird nicht mehr sein, als daß eine kleine Zahl von Menschen eine richtige Haltung zeigt. Ein Prozeß der Einmischung in gesellschaftliche Widersprüche ist es nicht.

Der Boykott wird auch damit begründet, daß diese Wahlen ganz besondere Wahlen seien. Sie dienten der Legitimation der Annektion der DDR. Diese Wahlen sind zwar besondere, aber nicht grundsätzlich andere als sonst. Die Annektion der DDR fand ihre spezifische Legitimation in den Wahlen zur Volkskammer (DDR) am 18. März dieses Jahres. Bei all den anderen Bundestagswahlen in den Jahren davor wurde, wenn mensch so will die Kolonialisierung der „Dritten Welt” ‚legitimiert‘, der Mord an der demokratisch gewählten Regierung Allende und die nachfolgende Militärdiktatur zum Beispiel.

Das hauptsächliche Wirkungsfeld der Linken ist die Gesellschaft und, nur in einem davon abgeleiteten Verständnis und strategisch eingebunden, die parlamentarische Arbeit. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ließen sich 1914 ins kaiserliche Parlament wählen, wissend, daß es zusammentrat, um Kriegskredite zu bewilligen. Ist Luxemburgs Entscheidung aus heutiger Sicht nun falsch oder richtig gewesen?

Unter der Bedingung, daß die parlamentarische Ebene als Mittel der politischen Zuspitzung lodernder gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, als Ort der Öffentlichkeit unterdrückter, oppositioneller Meinungen, den Apparat für die Opposition nutzend, und nicht zuletzt zum Schutz der Linken vor staatlichen Repressionen brauchbar ist, kann die Entscheidung zur Beteiligung richtig sein. Auf den subjektiven Faktor und etwa die Bereitschaft, die Rahmenbedingungen parlamentarischer Arbeit in Frage zu stellen, will ich hier nicht weiter eingehen.

Vielen Linken in Deutschland fehlt eine Auseinandersetzung über Perspektiven und Strategien. Sie diskutieren hauptsächlich über taktische Entscheidungen, die erst Resultate der genannten Auseinandersetzungen sein könnten. Und es fehlt offensichtlich der Anstoß, sich mit konkreten Utopien einer künftigen, ökologischen, feministischen, sozialistischen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Einige Ex-Linke behaupten, der Export von angeblich bis ins Detail ausgearbeiteten Gesellschaftsentwürfen in alle Welt habe verheerende Erfolge gehabt. Und ohne Utopie könne man auch gut leben. Und überhaupt habe es schon immer menschliche Gesellschaften gegeben, die ohne Utopien ausgekommen seien.

Einige bornierte WesteuropäerInnen können sich offensichtlich nicht vorstellen, daß befreiende Utopien je nach den kulturellen Voraussetzungen in dieser Welt völlig unterschiedlich aussehen und ausgesehen haben. Und keine Linke bei Verstand hat je behauptet daß ihre konkrete Utopie die Antwort auf die Probleme der Inkas, nordafrikanischer Nomadenstämme oder eine der neuen osteuropäischen Kolonien sein könnte. Utopien sind keine Sternschnuppen, sondern Konzept gewordene Träume von Menschen aus ihrem Leiden am Alltag. Konkrete Utopie entwickelt sich aus der Kritik der Menschen an ihren konkreten Lebensverhältnissen. Konkrete Utopie hat weder die Absicht noch die Wirkung, die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen zu ersticken. Sie ist kein Gedankengefängnis und keine Bibel. Ohne Utopie versackt linke Politik in dumpfem Reformismus. Sie gibt Power für die notwendigen täglichen Auseinandersetzungen und bestimmt die Richtung und die Qualität der politischen Teilschritte.

Was eine utopische Gesellschaft sein könnte, ist das noch unbekannte Resultat eines offenen, lebendigen Prozesses. Utopische Elemente sind Gleichheit, Emanzipation der Geschlechter, internationale Solidarität, eine partnerschaftliche Beziehung zur Natur, deren Teil wir sind, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung der Menschen einschließlich der ProduzentInnen, die Befreiung der Arbeit, wirkliche demokratische Verhältnisse, direkte Demokratie mit Räteelementen, Abbau von Staat und Freiheit der Andersdenkenden. — Keine Angst.