Weg und Ziel, Heft 1/1997
März
1997
Zum 100. Geburtstag von Margarete Schütte-Lihotzky

Keine Ästhetisierung der Armut

Die Person Margarete Schütte-Lihotzky als sozialrevolutionäre Architektin und Widerstandskämpferin ist bekannter als ihr Werk. Deshalb bringen wir in einer Art imaginärem Dialog eine Collage von An­sichten über das soziale Bauen für die ArbeiterInnen­schaft in diesen 100 Jahren.

Drei Frauen, Architektinnen, Kultur­theoretikerinnen und Österreichs be­deutendster Architekturhistoriker „sprechen miteinander“.

Die radikalen Positionen stammen von einer der ersten marxistischen Kulturtheoretikerinnen aus Deutsch­land zu Beginn des Jahrhunderts, Lu Märten, einer Zeitgenossin von Rosa Luxemburg und Alexandra Kollontai und damit Zeitzeugin der sozialen Re­volutionen des Jahrhundertbeginns. Schütte-Lihotzky greift, ohne Lu Märten genauer gekannt zu haben, diese Ansätze prag­matisch auf und setzt sie in den drei­ßiger Jahren in konkretes Bauen um. Christine Zwingl ist eine zeitgenössi­sche Architektin in Wien, die anknüp­fend an diese Tradition des sozialen Bauens durch Ausstellungen, Publika­tionen und Projekte dem Gedanken sozial engagierter Architektur gegen­über dem postmodernen Formalismus wieder Geltung verschaffen möchte.

Friedrich ACHLEITNER, in: Katalog zur Ausstellung über das Werk Schütte-Lihotzkys, Wien 1993

Wenn ich mich richtig erinnere, kommt die Vokabel Architektur in Margarete Schütte-Lihotzkys Texten nicht vor und wenn, dann in einer sozi­alwissenschaftlichen Bedeutung, als erweiterter Begriff, der das Bauen eben in einen gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhang stellt. Dieser radikale Ansatz war Grete Lihotzky nicht in die Wiege gelegt, schließlich wuchs sie in einem (bildungs-)bürgerlichen Milieu im Wien der Donaumonarchie auf und ihre Lehrer waren sicher keine Sozialrevolutionäre. Interessant ist für uns aber, was sich die junge Studentin — die sich in den Kopf gesetzt hatte, Archi­tektin zu werden — von ihren Lehrern aneignete: Oskar Strnad riet ihr, sich anzuschauen, wie die Arbeiter wirklich wohnen, bevor sie sich an den Entwurf von Arbeiterwohnungen machte; er forderte also den Befund vor einer Stel­lungnahme; Max Ermers und Adolf Loos bestärkten sicher ihre Begeiste­rung für die Wiener Siedlerbewegung und das Interesse einer sich artikulie­renden Wohnkultur des Arbeiters. Was aber Grete Lihotzky von vornherein ausschloß, das war die romantische Ästhetisierung der Armut, den nicht ab­sichtslosen Imperativ nach Beschei­denheit als kleinbürgerliche Tugend, der oft sogar von einer Avantgarde dem Arbeiter ästhetisch zugemutet wurde. Grete Lihotzkys Architekturauffas­sung, in vielem jener von Hannes Mey­er oder Hans Schmidt verwandt, be­stand in der Verbesserung aller Le­bensbedingungen durch Bauen, ja mehr, in einer Architektur, die alle jene Kräfte und Prinzipien widerspiegelt, die eine bessere Zukunft herzustellen vermögen. Dies führte natürlich auch zu neuen Formen, aber diese durften nicht Selbstzweck werden.

Margarete Lihotzky, 1903, 6 Jahre alt

Lu MÄRTEN, Formen für den Alltag, Berlin o.J.

Aber es scheint mir auch wichtiger, sich dafür zu interessieren, was danach kam und weiter kommen muß — für den Typus Mietskaserne. Ihre Geschichte ist noch jung. Und wenn auch schon in Rom ein ähnlicher Häusertypus für die Proleten bestanden haben soll, so hat doch ihre Bedeutung als Wohnhaus al­ler Klassen kaum eine Analogie in der Geschichte. Sie war und ist durchaus die Notwendigkeit einer bestimmten Entwicklung. Ein Massenquartier, wie ihr Name sagt. Die richtige Militärka­serne oder andere staatliche Massen­quartiere könnten trotzdem, oder gerade, weil sie Massenquartiere darstellen, eine Ästhetik der Architektur bieten.

Ihr Zweck ist reinlich bestimmt und durch andere Interessen in seiner Form nicht verhindert oder vernachlässigt. Der Staat, oder wer diese Bauten be­stimmt, kann das erreichen, was Eigen­produktion oder Handwerkszeit er­reichte, er kann den fremden, künstle­rischen Willen beauftragen. Anders die Produktion der Mietskasernen. Unter den Begriffen Zweck und Notwendig­keit steht der volkswirtschaftlich deut­lichere: Angebot und Nachfrage. Unter welchen Umständen wird gefordert und unter welchen wird angeboten. Die Drängung vieler Menschen in der Groß­stadt und der nur in gewissem Umfang vorhandene und zur Bebauung (aus fe­sten Händen) erst zu erwerbende Grund und Boden machte die Bauform der Mietskaserne notwendig.

Sie ist also keine willkürliche ar­chitektonische Konstruktion, sondern eine nach Lage der Dinge erzwungene. Die Nachfrage einer großen Anzahl von Menschen nach Wohnungen bedingte noch nicht ohne weiteres eine Wohn­hauskonstruktion, in der die Menschen über- und nebeneinander gepfercht wurden, sondern zunächst die Notwen­digkeit der nötigen Anzahl Häuser und Wohnungen überhaupt. Da aber die Nachfrage nach Häusern eine solche nach Boden ist und dieser sich in der Großstadt nicht im genügenden Um­fange der Bebauung erschloß, so ent­stand der Zwang, in die Höhe zu bauen statt in die Weite. Damit war auch der Begriff „Raum“, als ein künstlerischer, unverständlich geworden; sein Speku­lationswert erniedrigte ihn selbst unter die Grenze der hygienischen Möglich­keiten, und hier in Berlin mußten ihm Gesetze erst die Grenze bestimmen, die ihn vom „Loch“ noch unterscheiden konnte.

So entstand die neue Bauform der „Mietskaserne“ nicht als ein Zwang neuer Lebensgewohnheiten (eher zwang sie solche auf), sondern aus den kompliziert widerstreitenden Interes­sen derer, die wohnen mußten, und de­rer, die wohnen lassen konnten. Und so wird sie weiter bestehen; denn ihre Form, ob gut oder schändlich, ist nun einmal bedingt. Aus der primitiven und gleichgültigen rohen Form ihrer ersten Periode hat man sie herausgerissen und hat sie brav herausgeputzt mit Türm­chen und Erkern, angeklebten, mit Gips überworfenen Ornamenten (Stuck) und anderen Scheußlichkeiten. Von innen änderte das wenig. Da blieb das Prinzip der Raumausnutzung und dunklen Beengung. Aus all diesem Ne­gativen aber stellt der Mietskasernen­typ positive Aufgaben, die ihre künst­lerische Lösung finden könnten. Eine Reihe angesehener Architekten be­schäftigte sich lange mit diesem Pro­blem und nicht, ohne daß sie hie und da eine glückliche Lösung erbrachten.

Christine ZWINGL im Gespräch mit der »Volksstimme«, 3. Jänner 1997 Soziale Kämpfe — Politische Umwälzungen

Sozialer Wohnbau entwickelte sich in den zwanziger Jahren dieses Jahr­hunderts als Folge der Wohnungsnot in den großen Städten und ging einher mit politischen und sozialen Umwäl­zungen und Kämpfen. Neu war dabei unter anderem, so Christine Zwingl, daß ein „staatlicher“ (genossenschaft­licher, etc.) Auftraggeber „die Aufgabe übernimmt, für ,anonyme Nutzer‘ bau­en zu lassen. Wodurch eine ,kollektive Aufgabe‘ entsteht, mit den klassischen Arbeitsgebieten Wohnungsbau und Bau entsprechender Einrichtungen im Umfeld, wie etwa Kindergärten oder Schulen“.

Die dadurch enstandenen Frage­stellungen wurden von den meisten Ar­chitekten der damaligen Zeit allerdings gar nicht wahrgenommen. Schütte-Lihotzkys herausragende Stellung als Architektin resultiert dagegen für Christine Zwingl gerade aus der Tatsa­che, daß sie in diesem Komplex „sozi­aler Wohnbau/soziale Architektur“ von Beginn ihrer Tätigkeit an, „eine Aufga­be erkannte, die sie direkt betrifft“. Er­ste Anstöße dazu erhielt die junge Ar­chitektin während ihres Studiums.

Entsprechend nahm Schütte-Lihotzky, im Gegensatz zu den meisten ihrer KollegInnen, das Elend „der Mas­sen“, das mit der ungelösten Wohnfra­ge zusammenhing, wahr und entwickelte in der Folge gerade in Auseinan­dersetzung mit dieser Frage ihr gesam­tes Lebenswerk.

Finanzierbarer Wohnraum

Sichtbar wird der entsprechend neue Ansatz, so Zwingl, auch an der Arbeitsweise Schütte-Lihotzkys, die „eigentlich immer in Gruppen und Or­ganisationen gearbeitet hat und dabei an jede Bauaufgabe systemisch heran­gegangen ist, sie immer als eine Aufga­be für eine Gruppe gesehen hat und dabei — konträr zur klassischen Aufgabenstellung eines Architekten — immer (reproduzierbare ,Typen‘ entworfen hat“. Dabei sah Schütte-Lihotzky ihre Herausforderung darin, unter Ausnüt­zung neuer Technologien, standardi­sierter Massenfertigung, neuer Organi­sationsformen etc., für die „verarmten Massen“ Wohnraum zu schaffen, den sich diese Menschen auch leisten konn­ten.

Fragestellungen einer sozial enga­gierten Architektin, die, ungeachtet der eben erwachten Wertschätzung für die Person Schütte-Lihotzky, von einem Großteil ihrer KollegInnen — bzw. vor allem auch der Politik — aktuell kaum noch aufgegriffen würden, so Christine Zwingl. Daß ungeachtet — oder gerade wegen solcher Ignoranz, Probleme wie Wohnungsnot bzw. unfinanzierbarer Wohnraum in den letzten Jahren über­hand nahmen, macht dagegen die Ide­en und das Werk von Margarete Schütte-Lihotzky wohl auch für die aktuelle Architekturdebatte wichtig.

Margarete SCHÜTTE-LIHOTZKY im Ausstellungskatalog 1993

Es ist nicht so, wie man uns Funktionalisten nachsagt, daß, wenn bei ei­nem Entwurf die Funktion erfüllt ist, die Arbeit ihr Ende hat. Ich wäre nicht Schülerin von Strnad und hätte nicht mit Loos gearbeitet, wenn ich so den­ken würde. Nein, erst wenn die Funkti­on gelöst ist, fängt die Arbeit an der künstlerischen Gestaltung an. Der Architektur kann im Grunde genommen niemand entrinnen. Ständig bewegt sich jeder Mensch in Räumen, entwe­der in Innen- oder in städtebaulichen Räumen. Diese erzeugen in ihm, be­wußt oder unbewußt, Wohlbefinden oder Mißbehagen, Ruhe oder Unruhe, Harmonie oder Disharmonie. Und das ist letzten Endes eine künstlerische Wirkung, eine Wirkung auf die Nerven und nicht auf das Auge.

Von Anfang an wollte ich immer nur Wohnbau machen,Wohnbau mit al­lem was dazu gehört: Kinderanstalten, Schulen, Ambulatorien, Bibliotheken, was man eben soziales Bauen nennt. Schon 1917 hab ich mich an der Schule an einem Wettbewerb für Arbeiterwoh­nungen beteiligt. Vorher ging ich in die Außenbezirke und habe dort gesehen, wie die Arbeiter bei uns wohnen. In Wien gab es damals eine strenge Tren­nung zwischen bürgerlichen und Ar­beiterbezirken. Damals habe ich er­kannt, welch angespanntes, schweres Leben Hunderte und Tausende Men­schen in unserer Stadt führen mußten. Mir wurde das erste Mal die große sozi­ale Verantwortung der Architekten be­wußt, mir wurde klar, daß der Wohn­bau letzten Endes ein Spiegel der Le­bensgewohnheiten der Menschen zu sein hat, daß wir, ausgehend von die­sem Leben, von innen nach außen zu projektieren haben und nicht von der äußeren Form ausgehend nach innen.

Natürlich mache ich mir auch mei­ne Gedanken, wie der Wohnbau heute auszusehen hat. Immer wieder komme ich zu dem Schluß, daß es grotesk ist, daß wir immer noch wie vor 60 oder 70 Jahren abgeschlossene Ein-, Zwei-, Drei-, Vierzimmerwohnungen bauen obwohl sich das Leben in den vergan­genen Jahrzehnten so ungeheuer ver­ändert hat. Eine der größten Verände­rungen, die sich im Wohnbau nieder­schlagen muß, ist die allgemeine Be­rufstätigkeit der Frauen. Diese Tatsa­che verlangt aber völlig neue Lösungen. Wir Architekten haben deshalb die verflixte Pflicht und Schuldigkeit, uns den Kopf darüber zu zerbrechen, was im Wohnbau getan werden muß, um den Frauen und Männern das Leben zu erleichtern und den alltäglichen Streß abzubauen, zum Beispiel Räume für Nachbarschaftshilfe, zentrale Dienst­leistungen usw. zu schaffen.

Christine ZWINGL im Ausstellungskatalog 1993

Die wichtigsten Punkte ihrer Vor­träge sind:

  • Die Einkommensverhältnisse, und nicht ideale Formvorstellungen be­stimmen die Grundrißplanung einer Wohnung in Frankfurt.
  • Rationalisierung und Massenpro­duktion sind für die Erzielung von niedrigen Mieten notwendig.
  • Die Rationalisierung der Hauswirt­schaft dient vor allem dem Zweck, mehr Zeit für Erziehung der Kinder, für Kultur, Freizeit und Sport zu ha­ben.
  • Zur Errichtung von Kleinstwoh­nungen ist es notwendig, den minima­len Bedarf an Wohnfläche für eine Fa­milie festzustellen. Fehlende Räume für Kinder in der Wohnung steigern die Kriminalität der Jugendlichen. Je klei­ner die Wohnfläche, desto besser muß die Wohnung ausgestattet sein. Einge­baute Möbel sparen bis zu 30 Prozent an Grundfläche.
  • Gefordert wurden zentrale Einrich­tungen in den Siedlungen, die den Frauen die Arbeit erleichtern sollen. Unbedingt notwendig sind dabei die Zentralwäscherei mit modern ausge­statteten Wascheinrichtungen und der Kindergarten, in welchem die Kinder während der Arbeitszeit oder der Erle­digungen der Mutter versorgt werden.
    Durch ihre Reden möchte sie den Frauen bewußt machen, daß sie sich als Hauptbetroffene gegen den schlechten Wohnungsbau zur Wehr setzen und in Hinkunft den Wohnbau beeinflussen sollen.
Plan des Städtischen Kindergartens (1950-1952) für die Gemeinde Wien, Wien 20, Kapaunplatz

Voraussetzung dafür ist aber, daß die Frauen bereit sind, sich mit dem Fortschritt auseinanderzusetzen (das heißt, bereit sind, sich von konventio­nellen Vorstellungen über Wohnungs­einrichtung und Haushaltsführung zu lösen, A.d.A). „Ein Architekt, der eine Villa plant, spricht mit der Hausfrau. Stadtverwaltungen müssen mit den Frauenorganisationen sprechen, die Erfahrungen von allen sollen allen zu­gute kommen.“

Die Themen ihrer Arbeit sind Bau­aufgaben, die vor allem Frauen zugute kommen, und deren Behandlung be­reits von Frauenvereinen und Frank­furts Politikerinnen gefordert wurde. So setzte sich Elsa Bauer, die sozialde­mokratische Stadtverordnete, für die Ausstattung des Hauswirtschaftsberei­ches mit arbeitssparenden Geräten ein.

Margarete Schütte-Lihotzky arbei­tet an der Lösung der frauenspezifi­schen Wohnprobleme. Die damals übli­chen Ledigenheime lehnt die Architek­tin ab. Sie plädiert für eine Durchmi­schung der Bevölkerung und sieht da­her Wohneinheiten für alleinstehende Frauen im letzten Stockwerk normaler Geschoßwohnhäuser vor. Diese bewuß­te Integration von Sonderwohnungen erweist sich als vorausblickend, inso­fern dies heute wieder speziell für Al­tenwohnungen gefordert wird. Der Entwurf basiert auf sehr konkreten Be­rechnungen zum Einkommensniveau berufstätiger Frauen und versucht, diese Wohneinheiten dem Finanzie­rungskonzept normaler Familienwoh­nungen anzupassen. Zusätzlich gelingt es ihr darzulegen, wie innerhalb eines solchen Konzeptes Dienstleistungen, die die Bewohner von der Hausarbeit befreien sollen, funktionieren könnten.

Lu MÄRTEN, Formen für den Alltag, Berlin o.J. Die Zentralisation der Hauswirtschaft (1903)

Fordert man die Befreiung der Frau und macht sie abhängig von deren end­gültiger materieller Unabhängigkeit, die durch die Erwerbsarbeit als Beruf gesichert wird, so wird man sich der hieraus entstehenden Konsequenz: der Umgestaltung unserer heutigen Haus­wirtschaft, nicht mehr verschließen können. Denn es ist ein Unding zu den­ken, daß es der Masse der Frauen auf die Dauer gelingen würde, ihrem Be­ruf, ihrer Erwerbstätigkeit nachzuge­hen und daneben doch alle Pflichten, die die Einzelwirtschaft erfordert, Be­aufsichtigung der Kinder etc., zu erfül­len, ohne seelisch und körperlich Scha­den zu nehmen, ohne die eine Tätigkeit auf Kosten der anderen zu benachteili­gen. Schon in dieser einen Tatsache, daß nur durch eine Umgestaltung der heutigen Einzelwirtschaftsform jeder einzelnen Frau die Möglichkeit gege­ben werden kann, ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechend eine Lebens­tätigkeit zu wählen und darin bleibend zu wirken, ohne auf die Familie und ihre Beziehungen verzichten zu müs­sen, liegt meines Erachtens der wich­tigste Grund für die Forderung der Einführung von Wirtschaftszentralen, die in möglichst voll­kommenem Ausbau alle hauswirtschaftlichen Bedürfnisse befriedigen und dem individuellen Eigenleben des einzel­nen im weitesten Maße entgegenkommen sol­len. Es unterliegt kei­nem Zweifel, daß obige Forderung noch auf mancherlei Widerstand stoßen wird.

Entwurf für die Erweiterung des Mädchenlyzeums in Ankara (1938) für die Academie des Beaux Arts

Selbst in solchen Kreisen, denen sie nach ihren Bestrebungen die Konsequenz einer fort­schreitenden Entwick­lung sein müßte, wird sie noch nicht immer als selbstverständlich erhoben. Man fürchtet in der Hauptsache Ge­fährdung des alten „heiligen Familienide­als“, Vergewaltigung individueller Interessen und ähnliches mehr. Der lauteste Wider­spruch ertönt naturge­mäß da, wo Neigung und Möglichkeit beste­hen, den Haushalt in mustergültiger Weise selbst oder durch Dienstpersonal zu füh­ren und zu überwachen, wo eigene günstige Wirtschaftslage das Verständnis für die In­teressen der arbeiten­den Massen, auch der Gebildeten darunter, nicht aufkommen läßt oder erschwert. Diese Gegner bedenken in der Hauptsache nicht, daß jenes mit der Einzelh­auswirtschaft verbun­dene Familienideal schon heute für Millio­nen Menschen nicht mehr besteht und nicht mehr verwirklicht wer­den kann, daß viele Tausende verheirateter Frauen gezwungen sind, in oder außer dem Hau­se mitzuerwerben und entweder zu­grunde zu gehen an der Überlastung, die ihre komplizierten Pflichten der Wirtschafts- und Erwerbsarbeit mit sich bringen, oder sie auf Kosten ihrer und ihrer Kinder Gesundheit zu verei­nen. Sie denken ebensowenig an die zahlreichen Beamtinnen, Studentinnen, Handlungsgehilfinnen etc., denen gerade, wenn sie alleinstehen, durch entgegengebrachtes Mißtrauen und ge­ringe Mittel die Führung eines Einzel­haushaltes, sei er noch so klein, er­schwert wird und denen in den wenig­sten Fällen so etwas wie ein „gemütli­ches Heim“ gewährleistet werden kann. Sie bedenken ferner einen Umstand nicht, der fast allen gemeinsam ist, für den Armen und Minderbemittelten aber die größte Bedeu­tung hat: nämlich die Verschwendung von Arbeitskraft und Ma­terial und die unhy­gienische Arbeitswei­se, die mit der privaten Einzelwirtschaft bei den immer schwieriger werdenden Wohnungs­verhältnissen verbun­den ist. Denn da sich für den kleinen Haus­halt die Einführung maschineller und tech­nischer Vervoll­kommnungen nicht lohnt, wird in primi­tivster Weise mit pri­mitiven Werkzeugen gearbeitet. In einem einzigen Hause quälen sich täglich an 20 bis 30 Herden 20 bis 30 Frauen; aus ebensoviel Küchen verbreitet sich die mit Küchendün­sten geschwängerte Luft in die engen Wohnräume, und das Ungesunde dieses Zu­standes wird erhöht durch das Beherbergen von Schmutz­falleimern, offenen und Ab­feuchter Wäsche und andern ungesunden Dingen. Wie viele müde Mäd­chen und Frauen schleppen abends die Kohlen bis in die höchsten Stockwerke und quälen sich täglich bis zur Erschöpfung, um für 100 bis 120 Perso­nen Nahrung, Heizung etc. zu besorgen, ohne dabei bedeutende Er­sparnisse zu erzielen, ohne sich eine Ruhe­stunde gönnen oder anderen Ansprüchen nachkommen zu kön­nen. Daß alle Funktio­nen des privaten Einzelhaushalts, wie Reinigung, Wäscherei, Heizung u.a., in einer zentralisierten Wirtschaftsfüh­rung mit vollkommener technischer Ausrüstung besser, schneller und billi­ger erledigt werden können, daß auch darin der Großbetrieb dem Kleinbe­trieb überlegen ist, versteht sich von selbst und wird keinem modernen Menschen utopisch erscheinen.

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