Grundrisse, Nummer 16
Dezember
2005

Kollektives Gedächtnis, Herrschaft und Befreiung

Theoretische und persönliche Überlegungen

Erinnerungen an Vergangenes sind für jede Herrschaft, aber auch für Widerstand von zentraler Bedeutung. Mit Denkmälern, Jahrestagen, Straßennamen, Schulbüchern, Bildern oder Fernsehsendungen versucht der Staat bestimmte Ereignisse in unserem Gedächtnis zu etablieren. Er stellt sich in eine legitimierende Kontinuität, dass seine Herrschaft vernünftig und das notwendige Ergebnis der Geschichte ist. Widerstand kann sich hingegen nicht nur über eine versprochene bessere Zukunft legitimieren, sondern muss auch versuchen, die Ereignisse, die uns die Herrschaft vergessen machen will, erinnerbar zu machen. Zum Beispiel kämpft der Grundrisse-Redakteur Robert Foltin (2004) gegen das Vergessen der subversiven Bewegungen in Österreich nach 1945. Nein, „Und wir bewegen uns doch“, setzt er der herrschenden Gedächtnislücke entgegen. Der Kontinuität der Herrschaft tritt die Kontinuität des Widerstandes gegenüber.

Die revolutionäre Linke hätte aber auch Gründe genug, ihre Reihe schmerzhafter kollektiver und persönlicher Niederlagen aufzuarbeiten. Sie neigt nicht weniger zur Verdrängung als die Herrschaft selbst. In diesem Artikel sollen Theorien zur Funktionsweise des kollektiven Gedächtnisses dargestellt werden. Vor dem Hintergrund der Gedächtnistheorien von Walter Benjamin und Friedrich Nietzsche wird die Frage aufgeworfen, welche Rolle die Aneignung von Erinnerungen im Kampf für die Befreiung vom Kapitalismus spielen kann. Dieser Artikel hat eher fragmentarischen Charakter und stellt Fragen, auf die ich momentan noch keine vollständigen Antworten geben kann.

A. Herrschaft und Gedächtnis

In der westlichen Welt findet seit den 80er Jahren ein wahrer Memory-Boom statt. Erinnerung und kulturelles Gedächtnis sind Lieblingswörter der Feuilletons. Mensch streitet über das Holocaustdenkmal, die alliierte Bombardierung Deutschlands oder den 8.Mai. In Österreich ließ die Regierung mit großem Aufwand 2005 den 50.Jahrestag des Staatsvertrages feiern. Der Zeitzeuge hat den Historiker fast schon aus den TV-Dokumentationen verdrängt. Erinnern ist „in“.

Was sind nun die oft undefinierten Begriffe kollektives und kulturelles Gedächtnis und wie funktionieren sie? Das Gedächtnis ist keine Festplatte, auf der Ereignisse wirklichkeitsgetreu abgespeichert werden und per Klick wieder abgerufen werden können. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Maurice Halbwachs versuchte in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts die Fragen nach dem Inhalt und der Funktionsweise des Gedächtnisses zu beantworten.

1. Das kollektive Gedächtnis und seine sozialen Rahmenbedingungen

Der Soziologe Maurice Halbwachs (1877-1945) entwickelte in Abgrenzung zu Freud und seinem ehemaligen Lehrer Henry Bergson eine Theorie des „kollektiven Gedächtnisses“. In seiner zentralen Schrift „Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen“ von 1925 stellt er die These auf, dass „das gesellschaftliche Denken wesentlich ein Gedächtnis ist, und dass dessen ganzer Inhalt nur aus kollektiven Erinnerungen besteht, dass aber nur diejenigen von ihnen und nur das an ihnen bleibt, was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihrem gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann“ (Halbwachs 1985: S.360). Die Geschichte wird von Epoche zu Epoche neu retuschiert, um sie den aktuellen Denkweisen der Menschen und ihren Vorstellungen von Vergangenheit anzupassen (ebenda: S.231). Die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft, wie Familie, Religionsgemeinschaften oder Klassen, haben jeweils ihr eigenes kollektives Gedächtnis. Das Individuum braucht diese sozialen Rahmen, um sich erinnern zu können und macht sich den Standpunkt der Gruppe zu eigen (ebenda: S.199). Zerbricht eine Gruppe, verschwinden die mit ihr verbundenen Erinnerungen. Verändern sich die sozialen Rahmen, passt sich die Konstruktion der Erinnerungen an (ebenda: S.350).

Jede Familie schafft sich durch Erinnerungen ihre eigene Identität, die sich von anderen unterscheidet. Religiöse Gemeinschaften versuchen durch Rituale, Texte und Traditionen ihre Vergangenheit immer wieder zu rekonstruieren (ebenda: S.296). Bei den gesellschaftlichen Klassen sieht Halbwachs den Adel während des ancien regimes als Grundpfeiler des kollektiven Gedächtnisses, weil der Titel und die damit verbundene Familiengeschichte von Generation zu Generation weiter vererbt wurde und diese Klasse legitimierte (ebenda: S.378). Auch das aufsteigende Bürgertum musste sich zunächst legitimieren, indem es sich wie die Adeligen eine glorreiche Familiengeschichte zulegte.

In dieser Schrift „Stätten der Verkündigung im Heiligen Land“ machte Halbwachs eine Anmerkung, wie Konflikte durch Erinnerungen auftreten können. Er nahm an, dass die Gegner des Christentums versuchten, Orte zu entstellen, die zum Zeichen des christlichen Glaubens wurden. „Es wäre dies ein ganz ähnlicher Vorgang wie jener, bei dem eine Ordnungsmacht in einer frühern aufrührerischen Großstadt ganze Viertel zerstört, Herde des Aufstands oder Schauplätze revolutionärer Kämpfe, die dort breite Prachtstraßen anlegt, große öffentliche Gebäude errichtet, um alle Erinnerungen auszulöschen, die diese Orte überschatten“ (Halbwachs 2005: S.166f.). Diese Stelle ist wohl offensichtlich eine Anspielung auf Paris nach der Pariser Kommune von 1871. Erinnerungen an Aufstände werden schwächer, wenn die mit ihnen verbundenen Orte einfach verschwinden.

Halbwachs unterstrich in der Schrift „Das kollektive Gedächtnis“ die räumliche Einbettung des Gedächtnisses. Wenn zum Beispiel ein Gewerkschaftsfunktionär an einer Fabrik vorbei geht und sich ihre Lage vergegenwärtigt, so ist das für ihn nur ein Teil eines ausgedehnten Raumes, der alle Fabriken umfasst und Erinnerungen an Lohnverträge und Streitigkeiten wach ruft (Halbwachs 1967: S.140). Die Erinnerungen von Bauern in traditionellen Agrargesellschaften sind an den Boden und den Familienbesitz gebunden und bleiben besonders gut bewahrt, da sich die Umgebung mit der sie verbunden sind, kaum verändert (ebenda: S.139). Auch eine Familie richtet ihre Umgebung so ein, dass Gegenstände Erinnerungen repräsentieren. Versucht jemand von außen diese materielle Ordnung, zum Beispiel durch den Abriss von Häusern und Straßen zu verändern, wird er auf den Widerstand der Gruppe stoßen, da diese Räumlichkeit die Macht der lokalen Traditionen und Erinnerung repräsentiert (ebenda: S.134).

Halbwachs, der stark von Emil Durkheim beeinflusst wurde und gemäßigter Sozialist war, entwirft mit seinen Thesen zum sozialen Charakter von Erinnerungen keinesfalls eine marxistische Theorie, dass Erinnerungen Klassencharakter hätten und um das Gedächtnis der verschiedenen Klassen ein Kampf ausgetragen würde. Die Gruppen erscheinen als abgeschlossene Zirkel und ihr gesellschaftliches Sein spiegelt sich in ihrem Bewusstsein, sprich Gedächtnis, nicht einfach wieder, sondern das Individuum kann durch die Kommunikation mit der Gruppe sein/ihr Gedächtnis überhaupt erst herstellen. Erinnerungen sieht Halbwachs relativ konfliktfrei, weil sie ja immer so konstruiert werden, dass sie den aktuellen Vorstellungen und Konventionen der Gruppen entsprechen, scheinbar ohne Beeinflussung von außen. Auch in stark hierarchischen Organisationen, wie z.B. die christlichen Kirchen rekonstruiert die Gruppe ihr Gedächtnis selbst, ohne dass Halbwachs zwischen oben, dem bürokratischen Apparat und unten, den Gläubigen, unterscheidet. Konflikte treten erst dann auf, wenn räumliche und soziale Bezugsrahmen von außen zerstört werden.

2. Das kulturelle und kommunikative Gedächtnis

Der Ägyptologe Jan Assmann (1999) untersucht in seinem in Fachkreisen berühmten Buch „Das kulturelle Gedächtnis“ die Erinnerungen in den frühen Hochkulturen Ägyptens, Israels und Griechenlands unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Schrift. Bei der Entwicklung seiner eigenen Gedächtnis-Theorie knüpft er positiv an Halbwachs an und versucht das heute noch gültige an dessen Thesen herauszuarbeiten. Was Assmann vor allem von Halbwachs übernimmt, ist der „sozial-konstruktivistische“ Ansatz (Assmann 1999: S.47) der sozialen Bedingtheit der Vergangenheit. Anknüpfend an diese Erkenntnisse differenziert Assmann den Begriff des kollektiven Gedächtnisses weiter aus.

Das kommunikative Gedächtnis entsteht naturwüchsig aus der Interaktion von Individuen, die der Mensch mit seinen ZeitzeugInnen teilt. Es ist wenig geformt und nicht kanonisiert. Diese meist mündlich weitergegebene Geschichte reicht höchsten 80 bis 100 Jahre zurück. Mit dem Tod ihrer TrägerInnen stirbt auch das Gedächtnis (ebenda: S.50). „Die Teilhabe der Gruppe am kommunikativen Gedächtnis ist diffus. Zwar wissen die einen mehr, die anderen weniger, und das Gedächtnis der Alten reicht weiter zurück als das der Jungen. Aber es gibt keine SpezialistInnen und ExpertInnen solcher informellen Überlieferungen, auch wenn sich Einzelne mehr und besser erinnern als andere“ (ebenda: S.53). Im Unterschied dazu ist das kulturelle Gedächtnis hierarchisch. Seine Träger sind „ExpertInnenen“ wie SchamanInnen, KünstlerInnen, PriesterInnen oder GeschichtsprofessorInnen. Diese Elite versucht jenseits der Alltäglichkeit eine absolute Geschichte zu wahren. In schriftlosen Gesellschaften spielen Mythen, Feste und Riten eine wichtige Rolle bei der Festigung des kulturellen Gedächtnisses. Allgemein hat es aber eine hohe Affinität zur Schriftlichkeit. Mit Festschreibung ist Interpretation verbunden, die von ExpertInnen vorgenommen wird.

Vor diesem Hintergrund kann auch Geschichtsschreibung als Teil des kulturellen Gedächtnisses definiert werden. Die absolute Gegenüberstellung von Gedächtnis und Historie stammt aus der Zeit des preußischen Historismus und basierte auf einem Objektivismus, der heute überholt ist.

3. Herrschaft, Erinnerungen und Vergessen

„Staat und Schrift gehören zusammen und bilden zusammen das Symbolsystem der kulturellen Memoria sowie die Rahmenbedingungen seiner Stabilisierung. Der Staat und das heißt: die Ungleichheit, die Unterwerfung unter ein hierarchisches System von Befehl und Gehorsam, ist der Preis, den die Menschheit für die Humanisierung des kulturellen Gedächtnisses zu zahlen hatte“ (Assmann 1999: S.56f.). So glaubte mensch im ägyptischen Altertum, dass ohne den Staat, der das Vergessen unter Strafe stellte, die Gesetze der Mitmenschlichkeit aus der Erinnerung verschwinden würden. So ist Gedächtnis auch immer mit sozialen Verpflichtungen für die Gegenwart verbunden. Verlust von Vergangenheit wurde mit dem Verschwinden von sozialen Tugenden, Gemeinsinn und Gerechtigkeit gleichgesetzt.

Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche erkannte diesen Zusammenhang zwischen Moral und Erinnerungen. Nietzsche will den Menschen aber im Gegenteil aus diesen sozialen Verstrickungen befreien, da dieses Gedächtnis durch Rituale, Verstümmelungen und Opfer den Menschen eingebrannt wurde. In seiner Schrift „Genealogie der Moral“ von 1887 preist Nietzsche die Vergesslichkeit, weil damit wieder Platz für Neues und für Regieren sowie Vorausbestimmen geschaffen werde (Nietzsche 1999: S.291f.). Die Vergesslichkeit sei eine „Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung“, ohne die es kein Glück und keine Gegenwart gäbe. Ein Mensch, dessen Hemmungsapparat beschädigt werde, wird mit nichts mehr fertig. Nietzsche sieht, dass Erinnerungen ebenso wie das schlechte Gewissen, welche durch Strafen geschaffen wurde, ein Mittel sind, natürliche Instinkte nicht nach außen zu verlagern, sondern nach innen, gegen sich selbst (ebenda: S.322). So schaffe sich die staatliche Ordnung furchtbare Bollwerke gegen die alten Instinkte der Freiheit. Nur was nicht aufhört, weh zu tun, würde ins Gedächtnis eingebrannt werden „Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Castrationen), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Culte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grund Systeme von Grausamkeiten) – alles das hat in jenen Instinkten seinen Ursprung, welche im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth“ (ebenda: S.295). Nietzsche nimmt hier mit seinen wenigen Ausführungen zwei Theorieansätze der Postmoderne vorweg: Die Körperlichkeit von Erinnerungen, sowie die Verinnerlichung der staatlichen Gewalt durch die Individuen selbst. Auch den Gedanke von Adorno / Horkheimer, dass der Mensch sich furchtbares antun musste, bevor er zum zivilisierten Wesen wurde, hat Nietzsche hier schon formuliert. Interessant ist, dass er damit schlechtes Gewissen mit Erinnerungen und Strafen in Verbindung bringt. So hätten sich besonders die Deutschen mit furchtbaren Mitteln ein Gedächtnis gemacht, um pöbelhaften Grund-Instinkten und brutaler Plumpheit Herr zu werden (ebenda: S.296). Nur ein Mensch, der sich aus der Zwangsjacke des Gedächtnisses und des schlechten Gewissens befreit, hat die Fähigkeit und den Willen zur Macht.

Schon in der Abhandlung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ beschäftigt sich Nietzsche mit der Rolle von Erinnerungen. Er wendet sich gegen die Mumisierung des Lebens durch die Historie. Das Leben soll über die Historie zur Gericht sitzen und in seinem Interesse mit unnützer Vergangenheit brechen, anstatt sie wie eine Kuh immer wiederzukäuen. Hier spricht er sich für ein aktives Vergessen aus, in dem der Mensch bewusst versucht, Perioden und Ideen aus seinem Gedächtnis zu streichen: „Mitunter aber verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergangenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung dieser Vergessenheit; dann soll es eben gerade klarwerden, wie ungerecht die Existenz irgendeines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient. Dann wird die Vergangenheit kritisch behandelt, dann greift man mit dem Messer an seine Wurzel, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg“ (Nietzsche 2000: S.119). Dieser Prozess sei aber für die Menschen nicht ungefährlich, da sie selbst Produkte dieser Vergangenheit sind. Die neue Natur, die die Menschen dadurch nehmen, könnte auch schwächer sein als die alte.

Assmann kritisiert an Nietzsche, dass ihm die Möglichkeit eines rettenden Charakters von Erinnerungen entgangen sei (Assmann 1988: S.73). Gibt es einen staatlich festlegten verbindlichen Kanon, dann heißt erinnern gehorchen. Es gibt aber auch ein subversives und alternatives Gedächtnis von unten. Mit ihm kann Erinnerung einen befreienden Charakter haben, in dem sich das „Volk“ als geschichtliches Subjekt legitimiert. Assmann spielt hier auf die jüdische Erinnerungskultur an. Aber auch jede andere Gruppe, die sich gegen existierende Herrschaftsverhältnisse stellt, schafft sich ihre Gegenerinnerung, sucht in der Geschichte Alternativen und stellt sich in Traditionen. Nietzsche könnte mensch auch entgegnen, dass gerade das Vergessen bestimmter schmerzhafter Ereignisse im Interesse der staatlichen Gewalt liegt. Auch Assmann weist darauf hin, dass es im Falle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie den Holocaust, nicht von der heilenden Kraft des Vergessens gesprochen werden kann. Das Schweigen ist in diesen Fällen eines von TäterInnen gegenüber ihren Opfern, die versuchen den Genozid durch einen „Memozid“ dem Vergessen preis zu geben.

Der Zusammenhang zwischen Gedächtnis und (staatlicher) Gewalt sei Halbwachs, der Nietzsche nie rezitierte, entgangen, lautet ein Kritikpunkt von Assmann. Ein gemachtes oder angezüchtetes Gedächtnis, das durch Fremdeinwirkung geschaffen wurde, kommt bei Halbwachs nicht vor. Bei ihm entsteht das Gedächtnis vielmehr „autopoietisch“ durch die Kommunikation der Gruppe (ebenda: S.59). In seinem theoretischen Konzept gäbe es deshalb kein kulturelles Gedächtnis.

Assmann weist hier sicherlich auf einen zentralen Schwachpunkt in Halbwachs’ Theorie hin: Den Staat, der mit Denkmälern, Feiertagen oder Schulbüchern versucht, das historische Gedächtnis seiner BürgerInnen zu formen, ignoriert Halbwachs weitgehend. Er macht dabei keinen Unterschied zwischen der rekonstruierten Vergangenheit einer Familie und einer Religionsgemeinschaft wie dem Christentum. Da Halbwachs Staat und Herrschaft in seiner Theorie der kollektiven Erinnerungen ignoriert hat, wurde ihm die politische Brisanz des Themas nicht deutlich.

B. Befreiung und Erinnern

Der Post-Operaist Antonio Negri empfahl 1981 der Linken das Vergessen. Mit dem Vergessen ihrer schmerzhaften Niederlagen, vor allem in Italien, bekäme die Linke wieder eine gesunde Psyche und Kraft für neue Kämpfe. Ewiges Kopfzerbrechen und Wiederkäuen der Vergangenheit sei kontraproduktiv. Das Proletariat könne sein Verhältnis zur Vergangenheit nur über die Arbeit herstellen, deshalb erinnere es sich in erster Linie an Entfremdung. Bezogen auf die revolutionäre Jugendbewegung der damaligen Zeit glaubte Negri, dass eine Generation ohne Gedächtnis revolutionärer wäre. „Die bestehenden Erinnerungen an 1968 und an die zehn Jahre danach sind heute nur noch die Erinnerungen des Totengräbers (…). Die Jugendlichen von Zürich, die Proletarier von Neapel und die Arbeiter von Danzig brauchen keine Erinnerung (…), kommunistischer Übergang bedeutet die Abwesenheit der Erinnerung“ (zitiert nach Wright 2005: S.188). Negri warf damals seinen ehemaligen GenossInnen vor: „Euer Gedächtnis ist eurer Gefängnis geworden“ (ebenda: S.188).

So versuchen Negri und Hardt im „Empire“ auch die ganze Welt zu erklären, nicht aber die Gründe für die Niederlagen der KommunistInnen aller Facetten im 20.Jahrhundert. Ganz ohne geschichtlichen Bezug kommen sie dann aber doch nicht aus, wenn sie im letzten Kapitel den Heiligen Franz von Assisi, die antifaschistischen WiderstandkämpferInnen und den AktivistenInnen des IWW (Industrial Workers of the World) in Abgrenzung zu den ParteibürokratInnen der Kommintern hinstellen (Negri /Hardt 2003: S.418f.).

1. Erwachen als Wiederaneignung der Geschichte

Im Gegensatz zu Negris Appell zum Vergessen entwickelte Walter Benjamin eine Theorie von Erinnerung, die er ganz in den Dienst der Befreiung der Menschheit und der Utopie stellte. Benjamin gehörte zum Kreis um das Institut für Sozialforschung und somit zur Frankfurter Schule um Adorno und Horkheimer. Das Thema Erinnerungen beschäftigte Benjamin über 10 Jahre. Sowohl in der „Berliner Chronik“ von 1932 als auch in dem unvollendeten Passagen-Werk spielen sie eine wichtige Rolle. Nach seiner Flucht vor der deutschen Wehrmacht nach Frankreich und kurz vor seinem Selbstmord schrieb er 1940 die berühmten „Geschichtsphilosophischen Thesen“. Dieser Text gilt als einer der schönsten, aber auch rätselhaftesten, philosophischen Texte des 20.Jahrhunderts.

Vor dem Hintergrund der Niederlage der Arbeiterbewegung und dem Sieg des Nationalsozialismus versuchte er den historischen Materialismus neu zu bestimmen, da der Sieg der Barbarei über die Zivilisation mit der herkömmlichen marxschen Geschichtstheorie nicht mehr zu erklären war. Vor allem verabschiedete sich Benjamin von dem Geschichtsbild der deutschen Arbeiterbewegung, die an die kontinuierliche Entwicklung des Fortschritts glaubte und führte einen neuen Zeitbegriff ein.

Nicht in der Zukunft, sondern in der Geschichte und in den Erinnerungen sah Benjamin das Potenzial für die Befreiung der Menschheit. Es könne für die revolutionäre Klasse, das Proletariat nicht darum gehen, objektive Entwicklungsgesetze zu vollstrecken, sondern im Gegenteil das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen (Benjamin 1969: S.276). Revolutionen sah Benjamin nicht als Lokomotiven der Geschichte, sondern als ihre Notbremsen. Bei der Sprengung des Kontinuums sollen Erinnerungen helfen. Über die jüdische Gedächtniskultur schrieb er: „Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eindenken. Dieses entzaubere ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte“ (ebenda: S.279). Im Passagen-Werk zitierte Benjamin den jungen Marx: „Die Reform des Bewusstsein besteht nur darin, dass man die Welt ... aus dem Traum über sich selbst aufweckt“ (zitiert nach Benjamin V I, 1982: S.570). Erinnerung und das Erwachen als Form der Bewusstwerdung des Vergangenen bieten die Möglichkeit, vergangene Glückserfahrungen zu aktualisieren und gegen die offizielle Überlieferung zu bewahren, sowie sich alle Ereignisse zu vergegenwärtigen, um der Herrschaft jeden Sieg in Frage zu stellen (Opitz /Wizisla, Band I, 2000: S.290). Erinnerungen waren für Benjamin aufblitzende Bilder. „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten“ (Benjamin 1969: S.270). Die Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnern, gestalten die Vergangenheit in neuer Form (Opitz / Wizisla, Band I, 2000: S.265). Diese Vergangenheit war nie so aktuell wie im Moment des Erinnerns, deren Auslöser für Benjamin vor allem Momente der Gefahren waren. Die Bilder seiner eigenen Kindheit versuchte Benjamin hingegen auf Spaziergängen durch Berlin wiederzugewinnen.

Neben diesen spontan aufblitzenden Bildern sprach Benjamin aber auch von der Möglichkeit eines aktiven Erinnerns, das einem Graben in den Schichten der Vergangenheit gleiche. „Denn Sachverhalte sind nur Lagerungen, Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, was die wahren Werte, die im Erinnern stecken, ausmacht: die Bilder, die aus früheren Zusammenhängen losgebrochen als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemälden unserer späten Einsicht (…) stehen. Und gewiss bedarf es, um Grabungen mit Erfolg zu unternehmen, eines Planes“ (zit. nach ebenda: S.266). Durch das bewusste Erinnern können sich die Menschen das Wertvolle der eigenen Vergangenheit wieder aneignen.

Vor dem Hintergrund der Neubestimmung des historischen Materialismus zog Benjamin den Schluss, dass die unterdrückte Klasse nicht mehr im Namen der Zukunft kämpfen kann. Sie tritt als Subjekt der historischen Erkenntnis als rächende Klasse auf, „die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt“ (Benjamin 1969: S.275). Erst eine befreite Menschheit hätte eine zitierbare Vergangenheit erkämpft (ebenda: S.269).

Benjamins Erinnerungstheorie wurde lange nicht wahrgenommen und erst mit dem Memory-Boom seit den 80er Jahren erforscht.

Nach der abstrakten theoretischen Ebene möchte ich nun das Problem der Erinnerung auf einer persönlichen Ebene behandeln.

2. Haben wir (k)eine Tradition und (k)ein kollektives Gedächtnis?

Für mich spielte Geschichte in Form des kollektiven Gedächtnisses immer eine wichtige Rolle. In der Anfangsphase meines politischen Engagements ging es mir darum, die Darstellungen der Schulbücher in Frage zustellen. Ich wollte den anderen Jugendlichen zeigen, welche Leichen die Sozialdemokratie im Keller hat, welche Revolutionen und RevolutionärInnen ausgelassen wurden und warum. Gegen die „Geschichtsfälschung“ der Herrschaft (LehrerInnen) sollte die wahre Geschichte der Revolutionen und des Antifaschismus gestellt werden. Uns in der Gruppe gab das zwar Kraft, aber den anderen SchülerInnen fehlten die „sozialen Rahmen“, um mit diesem kollektiven Gedächtnis etwas anfangen zu können. Auf der Suche nach alternativen Darstellungen landeten wir bald bei der DDR-Geschichtsschreibung und damit bei einer Legitimationswissenschaft.

In der zweiten Phase änderte sich mein Verhältnis zur Geschichte völlig. Nun ging es nicht mehr darum, sich die RevolutionärInnen ins Gedächtnis zu rufen und zu verteidigen, sondern die Ursachen ihrer Niederlagen wissenschaftlich zu analysieren. Die Frage der Tradition wurde ausgespart und die Fakten der sozialgeschichtlichen „bürgerlichen“ Forschung zusammengetragen statt widerlegt, um zu begreifen, warum der Sozialismus scheiterte. Ich trat nun von außen an die Geschichte heran, als wenn ich selbst nicht Teil von ihr wäre. Warum beschäftige ich mich eigentlich immer mit Geschichte? Weil es dort Kämpfe gab, die in meinem Leben nicht stattfanden?

Geschichte und kollektives Gedächtnis spielten in der kommunistischen Linken oft die Rolle der Selbsttäuschung. Auf dem Boden eines orthodoxen Verständnisses des Historischen Materialismus sah es so aus, als ob die Geschichte auf der eigenen Seite mitkämpfe. Entweder weil mensch glaubte, historische Gesetzmäßigkeiten zu vollstrecken oder sich in Endzeiten wie der „Fäulnis des Imperialismus“ oder „Spätkapitalismus“ zu befinden. Eine ähnliche unrühmliche Rolle spielten Traditionen, besonders in den K-Gruppen der 70er Jahre. Sie fühlten sich weniger klein und bedeutungslos, weil sie in der Tradition der KPD Ernst Thälmanns mit Millionen Anhängern standen oder sich auf die GenosseInnen an der Macht bezogen. So stritten sie sich um das Erbe der revolutionären ArbeiterInnenbewegung der Zwischenkriegszeit, deren Konkurrenzmasse in den sozialdemokratisierten KP’s eine schmähliche Karikatur abgab. Die 68er hatten sich noch als „Neue Linke“ bezeichnet, das war aber den K-Gruppen anscheinend zu wenig an Identität. Nach dem Scheitern des Staatssozialismus 1989 versuchten viele ost- und westdeutsche Linke, die DDR in ihren Erinnerungen zu retten, indem sie ihre Ausführung mit dem Satz, „In der DDR war ja nicht alles schlecht“, begannen, statt eine Flasche Sekte aufzumachen.

Heute müssen wir mit der Tradition des Staatssozialismus restlos brechen. Der Versuch den Sozialismus als Staat zu denken (zentralisierte Kommandowirtschaft basierend auf Staatseigentum mit dem Herrschaftsmonopol einer Kaderpartei) ist kläglich gescheitert und konnte nicht zur Befreiung und Emanzipation der ArbeiterInnenklasse führen. Der Staatssozialismus löste noch nicht einmal sein Versprechen ein, rationaler, effektiver und sozialer als der Kapitalismus zu sein. Wer die Welt verändern will, ohne die Macht zu übernehmen, der kann sich nicht in die Traditionen von Staaten oder Institutionen stellen. Ebenso wenig macht es Sinn, heute nach alternativen Traditionen zu suchen, weil der Linkskommunismus oder Anarchismus nur unmittelbar nach der Novemberrevolution eine Rolle spielte und Kinder ihrer Zeit waren.

Sind wir deswegen unbeschriebene weiße Blätter ohne Traditionen und kollektives Gedächtnis? Eine andere Möglichkeit wäre sich in die Tradition der Rebellion und des Widerstandes gegen Unterdrückung von Staat und Kapital zu stellen. Wir könnten uns auf alle Revolten von der Oktoberrevolution 1917, Spanien 1936 über die Befreiungsbewegungen in der „3.Welt“ bis zu den Aufständen von Budapest 1956, Paris 1968, Italien 1969 sowie Peking 1989 stellen. Ausgangspunkt dieses Bezuges wäre dann der kategorische Imperativ des jungen Marx, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist. Diese Ereignisse sprengten, um mit Benjamin zu sprechen, das Kontinuum der Herrschaft für blitzartige Momente auf.

Ist es nicht anderseits anmaßend sich in die Tradition von Kämpfen zu stellen, für die wir als „Revolutionäre in einer nicht revolutionären Zeit“ nicht unsere Knochen hinhalten mussten? Wir sollten zumindest das kollektive Gedächtnis an die Möglichkeit des Widerstands wach halten. All diese Bewegungen und Aufstände waren Momente, in denen sich Menschen gegen die Macht erhoben und diese nur für kurze Zeit als „Papiertiger“ erscheinen ließen. Außerdem demonstrierten sie das „Lob der Dialektik“. Einige Monate vor den Erhebungen wäre jedeR, der sie voraussagt hätte, zum Geisteskranken erklärt worden. Heute wollen uns die Herrschenden vergessen machen, dass es Momente der Rebellion gab, wenn es sich auf ihre eigene Geschichte bezieht. Andere Möglichkeiten sind Vereinnahmung oder Dämonisierung. Wie schon Lenin schrieb, werden RevolutionärInnen nach ihren Tod entweder mit zügellosen Lügen verleumdet oder in „harmlose Götzen“ verwandelt, denen mensch die „revolutionäre Spitze“ abbricht. So wird heute versucht, die 68er Bewegung zu dämonisieren als GeburtshelferInnen des Terrorismus oder mit ihren netten Anekdoten die Geschichte der BRD etwas aufzupeppen. Aus Rosa Luxemburg wird eine linkssozialdemokratische Frauenrechtlerin.

Beim Rückblick auf die Geschichte geht es nicht darum, nostalgisch zu seufzen und ein „Ach, damals“ auszustoßen. Wenn wir mit dem heutigen Bezugsrahmen vergangene Ereignisse rekonstruieren, dann geht es darum, daraus einen Nutzen für den Kampf in der Gegenwart zu ziehen. Auch wenn wir in keiner Tradition stehen, müssen wir nicht alles neu erfinden. In der Geschichte können wir unzählige Formen von Widerstand gegen den Kapitalismus finden: Demonstrationen, ziviler Ungehorsam, Sabotage, Befehlsverweigerung, Ausstieg, Boykott, unterschiedliche Formen von Aufständen und Streiks sowie Angriffe auf Ideologie in Form von Kunst. Um zu entscheiden, welche Kampfformen noch heute effektiv oder uneffektiv sind, müssen wir sie erst einmal kennen. Auch Erfahrungen müssten nicht immer wieder neu gemacht werden. Wir wissen auch vor dem ersten Schuss, dass die Herrschenden über Leichen gehen werden, um ihre Macht zu verteidigen.

Für die Erforschung von Widerstandsformen von unten bietet sich Oral History (mündliche Befragung von Zeitzeugen) an. Ohne mündliche Quellen werden wir Geschichte immer nur durch die Brille von Staaten, Organisationen und Parteien sehen. Außerdem waren und sind diese Institutionen oft nicht in der Lage, verdeckten Widerstand überhaupt zu dokumentieren.

Was für die Widerstandsformen gilt, gilt auch für die Theorie. Ein „Zurück zu Marx“ oder „Zurück zu X“ ist heute zu wenig. Dennoch wurden bei Marx, den LinkskommunistInnen, AnarchistInnen, im westlichen Marxismus, im Operaismus oder in der Kritischen Theorie Debatten geführt, aus deren Splittern wir Bausteine für eine Theorie der Befreiung zusammensetzen können. So muss gerade das theoretische Wissen aufgearbeitet und erinnert werden. Dabei kann es nicht darum gehen, diese Theorien bis in kleinste Detail mit all ihren Widersprüchen und unterschiedlichen Phasen zu rekonstruieren. Ausgangspunkt sind die Fragestellungen der heutigen Zeit.

Um eine Analyse der Gründe für die Niederlage des Kommunismus im 20.Jahrhundert werden wir nicht vorbei kommen. Die Herangehensweise „hätte Lenin nur diesen oder jener Fehler nicht gemacht“ oder „es war einfach noch zu früh“ können wir uns sparen. Geeigneter wäre die Herangehensweise Benjamins, der 1940 erkannte, dass die Niederlage, der Sieg des Faschismus und der Hitler-Stalin-Pakt, zu einer grundlegenden Neubestimmung der Theorie führen müsste. Auf die Frage nach den Ursachen der Niederlage muss die theoretische Neubestimmung folgen.

3. Brauchen wir (k)eine Identität?

Kollektives Gedächtnis ist laut Halbwachs eine Konstruktion auf dem Boden der gegenwärtigen Bedürfnisse einer Gruppe. Wenn wir uns in keine Tradition von vergangenen Staaten oder Bewegungen stellen, so heißt das, dass wir auch ihre Identitäten nicht übernehmen. John Holloway begreift Identität in erster Linie negativ. Die Herrschaft möchte, dass wir der Identität entsprechen, die sie uns vorgibt: „JedeR an seinem Platz“ und „Nicht aus der Reihe tanzen“. Wir sind zwar die ArbeiterInnenklasse, aber wollen sie nicht sein. Rebellion ist nach Holloway Widerstand gegen Identität.

Auch linke Politik wurde in identitäre Formen gekleidet, die einem Kleingärtnerverein in Nichts nachstanden. Die Autonomen hatten Anfang der 90er Jahre einen strengeren Dress- und Geschmackscode als jede Yuppie-Disko. Kurzgeschorene Haare, blaue oder schwarze Kapuzenpullis, Aufnäher auf dem Rucksack, Punk-Musik im Ohr und schlechte Ernährung galten als Tugend. Die einen borgten ihre Identitätssymbole von Punkbewegung und Intifada, die KommunistInnen aus der untergegangenen AbeiterInnenbewegung. Mensch schuf sich seine Parallelwelt, wo mensch sich im „warmen Mief der Gruppe“ wohl fühlte und sich vom Rest der Gesellschaft immer mehr isolierte.

Viele Dinge sollten wirklich im Museum für die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung verschwinden. Das Hammer- und Sichelsystem ist heute nicht nur durch die Verbrechen des Staatssozialismus diskreditiert, sondern antiquiert, weil die EU-subventionierten Bauern nur ein paar Prozent der Bevölkerung ausmachen, weltweit die StadtbewohnerInnen die Mehrheit bilden und die Bedeutung von körperlicher Arbeit im Postfordismus zunehmend geringer wird. Viele ArbeiterInnenlieder preisen die Arbeit und wir wurden nicht „in düstern Kinderjahren früh schon alt“. Die heutige Gesellschaft hat keinen „sozialen Bezugsrahmen“ zu diesen Symbolen. Warum sollte mensch versuchen, diese untergegangene Welt wiederherzustellen?

Eine neue revolutionäre Bewegung muss Symbole neu erfinden. Wir wollen aus den verschiedenen Teilen der Gesellschaft an gemeinsamen Kämpfen und Debatten teilnehmen und keine neue ständische Parallelwelt, heute auch Subkultur genannt, aufbauen. Ohne jegliche Identität und Symbole wird eine revolutionäre Bewegung aber nicht auskommen.

4. Das autobiographische und kommunikative Gedächtnis als Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte

Statt uns nur über die Gedächtnislücken der Eliten zu ereifern, sollten wir auch über unsere eigenen nachdenken. Neben dem kollektiven Gedächtnis des Widerstandes gibt es auch das autobiographische Gedächtnis jedes/r Einzelnen. Auch dies wird laut Halbwachs in Bezug zu unseren sozialen Rahmen immer wieder neu „upgedated“ und ist auf die Kommunikation mit Anderen angewiesen. So sind auch unsere Erinnerungen verformt, durch Vergessen, Verdrängen oder durch Übertragung unseres heutigen Wissens in die Vergangenheiten. Selbst Erlebtes, Angelesenes und Gehörtes vermischen sich zu einem Brei, der nur schwer wieder zu zerlegen ist. Da unsere Geschichte von Niederlagen und Irrtümern geprägt ist, beinhaltet sie viel Schmerzhaftes: Hoffnungen wurden enttäuscht, Freundschaften und Beziehungen gingen kaputt oder Berufschancen wurden zerstört. Wie alle Menschen neigen auch wir dazu, eine „Flussbegradigung“ durchzuführen. „In der Rückschau wird der nahezu unüberschaubar mäandrierende, sich in einer Vielzahl von Seitenarmen ergießende, mal aufgestaute und dann wieder voranstürzende Strom des eigenen Lebens kanalisiert zu einem breiten, geraden und gleichmäßigen dahin fließenden Wasserlauf“ (Wischermann 2002: S.94). So erscheint in den Erinnerungen alles Vergangene nur als notwendige Vorgeschichte zu unserem heutigen Verständnis. Chaos, Sinnlosigkeit und Diskontinuität verschwinden.

Wenn wir versuchen, diese „Flussbegradigung“ zu überwinden, können wir wahrscheinlich viel aus unseren Alltagserfahrungen in der Linken lernen und kritisch reflektieren, warum wir so geworden sind, wie wir sind. Welche Fehler wurden im Umgang mit Menschen oder bei Aktionen gemacht? Wie und warum sind bestimmte Hierarchien in Gruppen entstanden? Wie und warum kam mensch zu bestimmten Positionen? GenossInnen, die früher in gleichen Organisationen waren, werden schnell merken, wie selektiv ihr Gedächtnis ist, wenn sie mit anderen ZeitzeugInnen sprechen. Langfristig wäre es nicht schlecht, wenn es Oral-History-Projekte gäbe, um so die Geschichte des Widerstandes und Erinnerungen kritisch aufzuarbeiten. Kommunikatives Gedächtnis kann es nur geben, solange ZeitzeugInnen noch am Leben sind. Die bürgerliche Öffentlichkeit hat schon mit der Historisierung von 68 begonnen. Vielleicht könnten wir dem etwas entgegensetzen.

Wenn nämlich alle die alten Broschüren wegwerfen und schweigen, kann die Geschichte nicht mehr als Geschichte von unten rekonstruiert werden. Unsere kritischen Maßstäbe gegenüber der Gesellschaft sollten wir auch bei uns selbst anlegen. So kann die Auseinandersetzung mit unser autobiographischen Geschichte und Erinnerung dazu dienen, unsere Identität kritisch zu reflektieren.

5. Freude und Trauerarbeit

„Am Anfang war der Schrei“. Holloway hat die Gefühle wieder zum berechtigten Teil des Kampfes gemacht. Wer kann gegen das Unrecht kämpfen, der/die es nicht im tiefsten Inneren empfindet? Gefühle können eine wichtige Kraftquelle sein. Der kommunistische Vorbild-Kader der Komintern hatte keine Gefühle oder hatte sie zumindest fest im Griff. Ob Streikorganisation oder Liquidierung von „AbweichlerInnen“, er setzte die Entscheidungen der Partei unabhängig von den eigenen Empfindungen um. Gefühle waren Schwächen oder chaotische Elemente. Mitleid, Liebe oder Freundschaft waren dem Klassenkampf unterzuordnen. Die Geschichte hat gezeigt, dass sich solche „stahlharten“ Kader zu Instrumenten für irrationale Verbrechen instrumentalisieren ließen. Auch die AkademikerInnen des wissenschaftlichen Sozialismus glaubten Gefühle überwunden zu haben.

Wenn wir uns Erinnerung aneignen wollen, müssen wir lernen, wieder zu empfinden. Für die abermillionen Menschen, die im Namen des Kommunismus ermordet worden sind, ist Trauerarbeit angebracht. Für die Verbrechen, die von Kapitalismus, Kolonialismus und Nationalsozialismus begangen wurden, müssen wir Wut empfinden können und sie nicht nur als rationale Argumente gegen Krieg und Herrschaft anführen.

Neben Trauer kann Geschichte aber auch Quelle von Freude sein. Die schönen Momente der Geschichte versetzen mich in diese Freude. Welche Frauen sind schöner, als die drei Partisaninnen auf dem Plakat, die 1945 mit Gewehr selbstbewusst durch Mailand stolzierten. Was war jemals so witzig und entlarvend wie das Gesicht des chinesischer Führers Li Peng bei den Verhandlungen mit StudentInnenvertreterInnen der Demokratiebewegung 1989. Der im Schlafanzug des Hungerstreiks sich auf den Sesseln der Großen Halle des Volkes herumlümmelnde StudentenInnenvertreter, Wu Erkaixi, fuhr Li Peng bei der TV-Live-Übertragung über dem Mund und gab ihm zu verstehen, er wolle sich die ganze Scheiße nicht mehr anhören. Li Peng war so geschockt, dass ihm die Kinnlade herunter fiel. So hatte noch niemand mit einem chinesischen Staatschef gesprochen.

Sich Geschichte anzueignen, heißt für mich auch, sie wieder empfinden zu können.

Schluss: Brauchen wir die Zukunft?

Walter Benjamin setzte bei seiner Befreiungstheorie ganz auf die Vergangenheit. Auch die bürgerliche Gesellschaft beschäftigt sich ausgiebig mit Erinnerung. Vielleicht hängt die ständige Thematisierung der Geschichte auch mit mangelnden Zukunftsperspektiven zusammen. Agenda 2010 oder Harz IV reißen als Zukunftsvisionen niemanden vom Hocker. Keine Partei tut auch nur so, als wenn sie die grundlegenden Probleme der Gesellschaft lösen könnte. An Stelle der Programme und Ideologie ist die reine Notwendigkeit als Begründung getreten auf Grund der Zwänge der Globalisierung, zur Sicherung des Standortes usw. Versprachen die „Volksparteien“ in den 50er Jahren noch „Wohlstand für alle“ hier und jetzt, so begründen sie heute schmerzhafte Sparprogramme im Namen künftiger Generationen, denen mensch keine zu großen Staatsschulden hinterlassen oder zu viele zu versorgende Rentner aufhalsen möchte. Indem Francis Fukuyama (1992) das Ende der Geschichte verkündete, verkündete er im Grunde das Ende der Zukunft. Kapitalismus und Demokratie hätten weltweit gesiegt, nun sei nichts mehr Neues zu erwarten.

Wir müssen gerade jetzt aufzeigen, dass andere Welten möglich sind. Dabei werden wir ohne die Vergangenheit und ihre aufblitzenden Bilder der Möglichkeit des Anderen nicht auskommen. Gerade weil wir keinen utopischen Blueprint für die kommunistische Gesellschaft haben, stellen wir sie uns als Negation des Kapitalismus, aber auch als Negation des Staatssozialismus vor. In den Erinnerungen an die Momente, in denen Herrschaft überwunden wurde, liegt die Hoffnung auf Befreiung. Wie beim nächsten Versuch verhindert werden soll, dass die Decodierung von Herrschaft nicht wieder zu einer neuer Codierung führt, daran müssen wir arbeiten. Bei diesem Projekt sollten wir Nietzsches Warnung beherzigen, dass wir uns nicht von der Geschichte mumifizieren lassen sollen. Die Wiederaneignung von Erinnerung steht im Dienst einer anderen Zukunft.

Literatur

  • Assmann, Jan (1999): Das kulturelle Gedächtnis – Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, Verlag C.H. Beck, München.
  • Benjamin, Walter (1982): Gesammelte Schriften, Suhrkamp Verlag, Frankfurt (M).
  • Benjamin, Walter (1969): Illuminationen, Suhrkamp Verlag, Franfurt (M).
  • Foltin, Robert (2004): Und wir bewegen uns doch – Soziale Bewegungen in Österreich, edition grundrisse, Wien.
  • Fukuyama, Francis (1992): Das Ende der Geschichte, Kindler, München.
  • Halbwachs, Maurice (1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Suhrkamp, Frankfurt (M).
  • Halbwachs, Maurice (2003): Stätten der Verkündigung im Heiligen Land, UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz.
  • Halbwachs, Maurice (1967): Das kollektive Gedächtnis, Enke, Stuttgart.
  • Haug, Frigga (1990): Erinnerungsarbeit, Argument, Hamburg.
  • Holloway, John (2004): Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Münster.
  • Negri, Antonio / Hardt, Michel: Empire, Campus, Frankfurt (M)
  • Niethammer, Lutz (2002): Ego-Historie? und andere Erinnerungs-Versuche, Böhlau Verlag, Wien.
  • Nietzsche, Friedrich (1999): Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral, Deutscher Taschenbuch Verlag, München.
  • Nietzsche, Friedrich (2000): Unzeitgemäße Betrachtungen, Insel Verlag, Frankfurt (M).
  • Optiz, Michael / Wizisla, Erdmut (Hrsg.) (2000): Benjamins Begriffe, zwei Bände, Suhrkamp, Frankfurt (M).
  • Thompson, Paul (1978): The Voice of the Past – Oral History, Oxford University Press, London.
  • Wischermann, Clemens (Hrsg.) (2002): Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerungen – Studien zur Geschichte des Alltags, Franz Steiner Verlag, Stuttgart.
  • Wright, Steve (2005): Den Himmel stürmen – Eine Theoriegeschichte des Operaismus, Assoziation A, Hamburg.
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