Streifzüge, Heft 3/2001
Oktober
2001

Manisch Germanisch

Ausufernde Anmerkungen zur Trennung im Kritischen Kreis

„In seiner Fernsehrede, die er am 27.7.1967 nach den Negerunruhen in Detroit hielt, meinte Präsident Johnson: „Es gibt kein amerikanisches Recht, Gebäude in Brand zu stecken und von Hausdächern zu schießen. Das sind Verbrechen.“ – Er hätte hinzufügen müssen: „es sei denn, Amerikaner täten das auf meine Anweisung in fremden Ländern. Dann sind nämlich umgekehrt diejenigen, die sich weigern, Gebäude in Brand zu stecken und von Hausdächern zu schießen, ‚Verbrecher‘.“

(Günther Anders, der amerikanische Krieg in Vietnam oder Philosophisches Wörterbuch heute, Das Argument 87, Dezember 1967, S. 385.)

Dass es im Kritischen Kreis nach den Anschlägen am 11. September zum Crash gekommen ist, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Aus den folgenden Ausführungen sollte klar werden, warum eine weitere organisatorische Zusammenarbeit weder möglich noch wünschenswert erschien. Nachdem die Kommandoerklärung der Bahamas, worin ausdrücklich Militärschläge gegen Afghanistan eingefordert wurden (vgl. Bahamas 36: „Hinter dem Ruf nach dem Frieden verschanzen sich die Mörder! „), nicht mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen wurde, mussten wir uns leider von einem Teil der Redaktion trennen.

Wer seine antideutsche Sekte machen will, soll sie machen. Sie ist allerdings nicht unter einem gemeinsamen Dach der Streifzüge zu machen. Unser Koordinatensystem hat sich so weit auseinander entwickelt, dass von einer gemeinsamen Initiative nicht mehr gesprochen werden kann. Da die Antideutschen auf Granaten umgestiegen sind, war es Zeit zu handeln, und weniger zu verhandeln. Die Konsequenzen war zu ziehen. Und sie wurde mit aller Deutlichkeit gezogen.

Dass dieser Artikel eine Schärfe angenommen hat, vor der wir uns in den letzten Jahren, innerlinke Debatten betreffend, eigentlich fern halten wollten, erklärt sich aus der Sache. Die Deutlichkeit verlangt nach äusserster Pointierung und Polemik. Der Einwand, dass wir diesen gravierenden Konflikt zu lange unter den Teppich gekehrt haben, den müssen wir gewiss zulassen. Da wurde einiges übergangen, überspielt oder als nachrangig abgetan, was sich in Folge als unvereinbar offenbarte. So gesehen ist das Projekt einer engeren und gedeihlichen Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Antideutschen als endgültig gescheitert zu betrachten und Schadensbegrenzung angesagt. Wenn uns also vorgeworfen wird, dass wir dem andideutschen Treiben zu lange zugeschaut haben, dann gibt es darauf nur eine Antwort: Ja!

Worauf dieser Beitrag ausdrücklich keinen Bezug nimmt, das ist die Unterscheidung in Hardcore- und Softcore-Antideutsche. Ehrlich gesagt, die will uns nicht einleuchten. Deren Gemeinsamkeit ist größer als deren Differenz: Die Betonung des Deutschen/Nichtdeutschen als grundsätzlicher Konflikt, vor dem alles andere erblasst, ebenso wie der religiös gewordene Bezug auf Israel und (negativ gewendet) auf den Antisemitismus. Die Muster der Betrachtung sind da zu ähnlich, die Differenzen erscheinen eher auf einer taktischen Ebene angesiedelt oder gar im Temperament. Softcore drängt wie Hardcore zum selben Resultat, nur traut sie sich es nicht zu. Das ist übrigens genau das, was die Speerspitze des antideutschen Bellizismus, die Bahamas, am deutlichsten begriffen haben, sodass es ihnen spielend gelingt, alle gemäßigten Geschwister in Geiselhaft zu halten.

Fraglose Gebote?

In seinem Beitrag „Das Böse ist nicht das Böse“ (Jungle World 41/2001) schreibt Gerhard Scheit: „Die Frage stellt sich allerdings, in welcher Form heute auf bewusste und wirkungsvolle Weise Partei zu ergreifen überhaupt möglich ist. Der Schutz potenzieller Opfer des antisemitischen Terrors ist fraglos das oberste Kriterium. Ihm Rechnung zu tragen und sich dabei an linken Stammtischen in Entscheidungsgremien der USA hineinzuversetzen, um über sinnvolles politisches und militärisches Eingreifen nachzudenken, entspricht der realen Paradoxie, ein Linker in Deutschland, in Europa, zu sein.“

Fraglos? Oberstes Gebot? Zu einem fraglos obersten Gebot kann man nur gelangen, indem man die Sonderstellung verabsolutiert, sie als entscheidendes, ja einziges Kriterium der Beurteilung zulässt. Die Behauptung der Nazis vom „ewigen Juden“ wird hier als inverse Annahme weiterverfolgt, zeitlich und räumlich universalisiert. Gerhard Scheit fühlt sich zwar sichtbar unwohl in der Rolle, aber er nimmt sie, da er in seiner Logik gar nicht mehr anders kann, an. Jetzt gilt es also über „sinnvolles politisches und militärisches Eingreifen nachzudenken“. Das ist bestenfalls weißer Zynismus, denn nur ein solcher kann potenzielle Opfer über tatsächliche setzen, den Konjunktiv über den Indikativ. In seinem „Was sein könnte“ ist das „Was ist“ ziemlich nebensächlich. D. h. es ist hochgradig projektiv, sieht vor lauter Antisemitismus die Welt nicht mehr oder diese bloß als antisemitisches Pogrom im Anfangsstadium. Die Projektion wird da höher gewichtet als die Wirklichkeit. Tatsachenresistenz ist ihr Kennzeichen. Wie wir noch sehen werden, ist das überhaupt ein Wesenszug antideutscher Weltbetrachtung.

Es gibt also keine Fraglosigkeit, sondern Fragen, es gibt da keine Gebote, sondern sorgfältige Abwägungen. Gerhard Scheit hingegen betreibt eine Simplifizierung der Welt. Auch sollte man nicht jeden logischen Widerspruch gleich zur Paradoxie adeln. Manchmal verheddert man sich bloß in widersprüchliche Konstruktionen, die dann zu solch abstrusen Folgerungen führen. Die Immunisierung bedient sich einer besonderer Aura. „Das gemeingefährliche Auslöschen jeder Differenz“, das Tobias Ofenbauer uns in seinem Abschiedsbeitrag unterstellt, das retournieren wir postwendend.

Postpolitische Ereignisse dieser Dimension mit Politik und Polizei, Medien und Militär bekämpfen zu wollen, ist nicht paradox, sondern nur noch grotesk. Egal, was Politik hier tun kann, es kann nur noch falsch sein. Eingreifen und Nichteingreifen bewirkt unter Umständen wirklich ähnliche Destruktionen. Anstatt nun nachzudenken, wie man sich in dieser Situation auch praktisch verhalten könnte, schlägt man sich ganz praktisch auf die Seite seiner Herrschaft. Das Hohelied der Nichtpraxis, dem unsere Antideutschen so inbrünstig huldigten, entpuppt sich plötzlich als Hilfspraktikantentum des Abendlands. Aufgestellt wird ein ideelles Ersatzheer der Aufklärung. Kritik aber wird sistiert.

Zumindest kann man Gerhard Scheit nicht wie er mir vorwerfen, dass er sich “ ein Gelände, wo man von der Anwesenheit des Staats nichts merkt“ (Streifzüge 1/2001) ausgesucht hat. Es ist der Staat pur, mit dem er und andere fraternisieren. So ist der „reine Wille, der sich auf Freiheit beruft und sich Kritik nennt“(ebenda), ohne Not beim Staat gelandet.

Amerikanische Patrioten

Was den Antiimperialisten meistens sogar zu Unrecht unterstellt wird, dass sie nämlich Partei für die Terroristen ergreifen, das tun die Antideutschen mit größter Offenheit und ohne Genierer für die USA. Ja, schnurstracks sind sie selbst mit Deutschland und Europa in einem Boot, wenngleich sie dann permanent schreien werden, dass Deutschland auf der falschen Seite kämpfe. Niemanden wird’s kümmern.

Schon die Bereitwilligkeit, sich den amerikanischen Kopf zu zerbrechen, zeugt davon, dass sich der Patriotismus der antideutschen Linken eben nur ausgelagert hat. Die Antinationalisten kommen jetzt als „american patriots“ daher. Die Exterritiorialisierung des amerikanischen Patriotismus durch Teile der radikalen Linken als Importarktikel ist ein deutscher Sonderweg sondergleichen: Wenn wir nach 1945 keine deutschen Patrioten sein dürfen, dann lasst uns zumindest amerikanische Patrioten werden. Der Patriotismus ist also den Antideutschen nicht vergangen, er hat sich nur vergangen. Als negativer Nationalismus hat er sein Positivum in Israel und den USA gefunden. Nun darf er realpolitisch sein. Endlich gibt es was, woran man sich festhalten kann. Aber so ist das halt mit der reinen Negation, sie muss sich irgendwo anhängen, will sie nicht ins Nichts fallen.

Wo es noch keine emanzipatorische Praxis der Antipolitik gibt, ist die Flucht in Politik und Militär naheliegend, wenn auch nicht zielführend. An den Grenzen aller bisheriger Erkenntnisse angekommen, läuft die Kritik selbst Gefahr, an den Verhältnissen irre zu werden. Genau das dürfte jetzt einem Teil passieren. Dialektik wird durch negative Ontologie ersetzt. Und da der Voluntarismus der großen Abschaffung weder greift noch begreift, muss nun die Voraussetzung der Abschaffung des Kapitals, das Kapital selbst, in den Metropolen mit Zähnen und Klauen verteidigt werden. Ausser in Deutschland und Österreich, denn da herrscht ja sowieso ein deutsch-islamistischer Faschismus, und nur die Amerikaner und Westeuropäer verhindern, dass er sich auch als solcher betätigt. Es ist platter als man denkt. Bomben auf Berlin und Hamburg wären logischerweise einzufordern, bei den vielen deutsch-mulimischen Schläfern, die es da gibt.

Jeder Einwand gegen die Verwertungslogik, der nicht gleich Revolution sagt, wäre demnach zu bekämpfen. Das ist freilich strategisch blanker Unsinn, der jede Vermittlung negiert, und Emanzipation nur noch als unmittelbare Tat begreifen kann, die alsdann von den fetischistischen und volksgemeinschaftlichen Subjekten partout nicht in Angriff genommen wird. Es ist kein Zufall, dass solche Ohnmacht sich in zugespitzen Zeiten ins ideelle Attentat hineinsteigern muss. (Vgl. dazu auch Franz Schandl, Präpotenz der Ohnmacht, Streifzüge 4/2000. ) Wenn man das alles ernst nimmt, dann ist aber jede antikapitalistische Perpektive überhaupt verstellt, nicht mehr als eine vielleicht sympathische Geste oder Pose. Was sich zeigt, ist ein platonischer, aber aufgekratzter und rabiater Antikapitalismus, der sich zwar einiges auf sich einbildet, sich furchtbar radikal geriert und immerzu von der Totalität spricht, aber im konkreten Fragen sich lautstark dem (fortgeschrittenen) Kapital verschreibt.

Marodierende Kapitalsplitter

Kritik erledigt sich also nicht, indem man sich der angebotenen Varianten erwehrt, sondern sie erledigt sich, wenn man sich ihnen unterwirft. Natürlich gibt es keine Position außerhalb der Totalität, aber es doch ein Unterschied, ob man sich dem Zwang der Rolle ohne Not ergibt, oder ob man versucht, sich von der okzidentalen Zwangsvereidigung abzusetzen. Wofür Scheit plädiert, ist entschiedene Parteinahme in einem immanenten Konflikt, inklusive Bestätigung des Codes Zivilisation gegen Terrorismus. Im Prinzip ist seine Haltung der der Bahamas- Redaktion eng verwandt. Die Antideutschen haben sich aufgrund eines konkreten Anlasses entschieden, Flankenschutz zu geben. Ideell alle, reell viele.

Es gibt heute keinen besonderen deutschen Standpunkt, der ausserhalb des westlichen Wertekanons festgemacht werden kann. Weder in Deutschland, noch anderswo. Was es gibt, ist die (kaum noch national codierte) Konkurrenz der Standorte und ein Gerangel der Staatsapparate um Gewicht in der okzidentalen Phalanx. Hier einen Gegensatz ums Ganze aufzumachen, liegt ums Ganze falsch. Auch das ist Geschichte, die aber in den Köpfen der Antideutschen niemals vergehen will. Sie sind wie die Sudetendeutschen, befangen in den Wunsch- und Trugbildern einer untergegangenen Welt. Deren Nachwirkungen begreifen sie als Neuauflagen.

Doch die Antideutschen lassen das Beten nicht: „Der Vernichtungswahn der heutigen Selbstmordattentäter ist die Säkularisierung der islamischen Religion unter dem Gesichtspunkt von Auschwitz.“ (Scheit) Warum, hätte man natürlich schon gerne gewusst, sonst ist das die reine Anrufung, an die man glauben kann oder auch nicht. Die Wahrsagerei über die Motivationslage der Attentäter sollte man besser den Geheimdiensten und der Kulturindustrie überlassen. Die wissen zumindest, was sie lügen. Vergessen wir nicht, es wurden bisher noch nicht einmal stichhaltige Beweise gegen Osama Bin Laden vorgelegt, natürlich aus Geheimhaltungsgründen. Die Zuordnung des Attentas bleibt also fragwürdig, während man die Opfer und Folgeopfer der Bombardements in Afghanistan sehr deutlich zuordnen kann. Sie sind Ergebnis eines Waffengangs.

Die Antideutschen sollten sich vielmehr fragen, wie sie zu ihrer Selbstsicherheit betreffend Beurteilung der Attentate kommen. Uns jedenfalls liegt dieses saloppe Hineinversetzen in die Köpfe der Terroristen ziemlich fern. Die Leichtigkeit des So-und-nicht-anders überlassen wir gerne den anderen. Was wir wissen, ist dürftig. Bin Laden und Konsorten erscheinen uns eher als marodierende Kapitalsplitter, die auf ihren großen Bruder, das marode Kapital zurückschlagen. Ein mafiotischer Gewaltpol macht mobil gegen das Gewaltmonopol des Westens in Form seiner stärksten Macht, der USA.

Dass es dafür Sympathien gibt, ist evident, zeugt jedoch nur davon, in welch verzweifelte Lage viele Gemüter sich auf diesem Planeten versetzt sehen. Dort, wo die Freude nicht statthaben kann, steht Schadenfreude auf der Tagesordnung. Die Verkommenheit – und es ist eine! – darf allerdings nicht aus ihrer Gekommenheit ausgelöst werden. Wer nun meint, das sei eine Rationalisierung, der hat gewiß recht. Genau das. Wer jetzt noch Erklärung als Rechtfertigung liest, hat überhaupt alles verstanden, was in der antideutschen „Grundlektion gegen pathisches Rationalisieren“ als Teufel an die Wand gemalt wurde. Wer so denkt, muss zweifelsfrei einen ausgesprochen positiven Rationalitätsbegriff haben. (Zum Komplex Vernunft-Rationalität-Irrationalismus- Aufklärung sind übrigens unsererseits einige Beiträge in Vorbereitung.)

Ingredenzien des Terrors

Es sind weder „die Verdammten dieser Erde“, noch irgendein „berechtigter Antikapitalismus“, noch der „antisemitische Vernichtungswahn“, die hier zugeschlagen haben, selbst wenn diese Ingredenzien als ideologische Versatzstücke der Terrorattacken eine erst näher zu bestimmende Rolle spielten. Der Eindeutigkeiten sind weniger als wir meinen, und man sollte sich vor ihnen hüten. Da konstruiert sich kein einheitlicher Wille, auch kein Vernichtungswille. Ob da noch Kalkül am Werk ist (und wenn ja, welches), mag bezweifelt, kann aber nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden. Selbst dass da niemand verhandeln will, ist nicht entschieden. Entschieden ist bloß, dass zur Zeit nicht verhandelt wird. Wenigstens nicht für die Öffentlichkeit. Wir befinden uns also allesamt im Reich der Vermutung. Die Verlaufsform der aktuellen Barbarisierung kann jedoch nicht mit dem schon seit dem Kalten Krieg antiquierten Koordinatensystem aus dem Zweiten Weltkrieg adäquat erfasst werden kann. Im Gegenteil, es verstellt jede Analyse und Perspektive.

Wenn Anton Landgraf meint, die Terroristen seien schlimmer als das Kapital, dann ist ihm zu entgegen, dass nichts schlimmer ist als das Kapital, und dass diese Herrschaften nichts anderes ausdrücken als die destruktive Seite seines Zerfalls. Die hat nun die Ruhe in der Ersten Welt gestört: Denn Krieg hat hier nichts zu suchen, von hier geht er höchstens aus. Selbstverständ- lich sind die Attentäter keine fehlgeleiteten Heroen, sondern durchgeknallte Charaktermasken, Ausgeburten wahnwitziger Realitäten. Objektivität übersetzt sich in Subjektivität, um die Destruktion zu beschleunigen.

Der Islamismus ist rigoros abzulehnen. Mit ihm gibt es kein Bündnis, nicht einmal ein partielles. Der Fetisch Religion und vor allem all seine Zuspitzungen sind ein Hindernis der Emanzipation. Wenn sie in Zeiten der Krise noch einmal aufblühen, dann kann sich die Menschheit auf einiges gefasst machen. Und doch: Wer sie niederbombt, munitioniert sie auf! Das christliche Abendland mit seinem Gottvater namens WERT ist übrigens integraler Bestandteil dieses Szenarios. Es gibt kein Innen und kein Außen mehr. Auch sagt die Form des Wahnsinns letztlich wenig über die Intensität der Verrücktheit.

Wo Gelassenheit im Denken gefragt wäre, erobert die Pathologie des Daseins Region um Region, Sektor um Sektor. Der Amoklauf ist die Folge, auch der geistige. Auf den Bahamas etwa mischen sich wirklich apathische und pathische Elemente der Wahrnehmung. Nur so kann jedenfalls ihr Geschrei, die Afghanen doch „mit allen Konsequenzen dem kapitalistischen Warenfetisch direkt zu unterwerfen“ (Bahamas 36), verstanden werden. Das ist nichts anderes als eine zu spät gekommene Kolonialphantasie. Oder wollen die Zu-Spätaufklärer dort Fabriken gründen, die am Weltmarkt bestehen können? Oder gar florierende Aktienbören, damit die Bin-Laden-Bande auch zu Hause spekulieren kann? Wie soll denn diese Diktatur des Werts ohne Verwertung ausschauen? Ist nicht gerade Afghanistan bereits ein Musterbeispiel dieser unmöglichen Möglichkeit menschlicher Existenz?

Personal und Personifizierung

Gerhard Scheit schreibt: „Wer in den Juden oder in Israel das Kapital personifiziert sieht, ist Antisemit. Wer im Weltpolizisten USA das Kapital verkörpert sieht, steht – ausgesprochen oder unausgesprochen – auf deutschen Standpunkt. Beides suggeriert die Möglichkeit, mitten im Kapitalismus zugleich jenseits des Kapitalismus zu sein. In dieser Projektion konstituiert sich Volksgemeinschaft: ein „Subjekt“, das die Krise dessen exekutiert, was in Wahrheit nicht verkörpert werden kann.“ (Jungle World 41/2001)

Da geht einiges durcheinander. Verkörperung, Personifizierung und Zuordnung sind nicht eins. Was sich nicht verkörpern kann, ist lediglich das Wesen des Kapitals, es kann nur durch Reflexion bestimmt werden; was sich aber permanent verkörpert, das sind dessen Erscheinungen, d. h. das Unwesen des Kapitals. Was soll ein Staat anderes sein als eine Verkörperung des Kapitals? Und was soll ausgerechnet die USA sonst sein? Zweifellos, die USA sind eine, aber nicht die Verkörperung des Kapitals. Kann letztere mit dem Antisemitismus kurzgeschlossen (wenn auch nicht gleichgesetzt) werden, so ist ersteres kaum abzustreiten. Scheit verwischt dies aber, und man ist nicht sicher, ob dies nicht absichtlich geschieht. Warum das nun gar ein „deutscher Standpunkt“ sein soll, ist da völlig unklar. Aber dunkel bleibt hier sowieso vieles… Wer gegen die Kapitalisten ist, ist noch lange nicht gegen das Kapital. Aber: Wer gegen das Kapital ist, kann ihr Personal, also Unternehmer, Arbeiter, Spekulanten, Bauern, Beamte, Intelligenzler, Politiker, Künstler nicht aus der Kritik aussparen. Die Frage ist, wie Analyse bewerkstelligt und wie das Verhältnis von Spezialität und Totalität gewichtet wird, ohne dass sie zu partikularen Selbstläufern geraten. Genau das meinte aber ein Jenseits von Interessenspolitik, ja Politik überhaupt. Das Gerede über oder gar die Hetze gegen irgendeine Gruppe demonstriert letztlich nichts anderes als die eigene Beschränktheit.

Transvolution heisst nicht Befreiung des Interesses, sondern Befreiung vom Interesse. Transvolution demonstriert „Interesse“ gegen letztlich konformistische und destruktive Partialinteressen. Transvolution bedeutet also nicht die Durchsetzung eines Teils zugunsten anderer Teile, schon gar keine endgültige.

Die letzte Pflicht des bürgerlichen Subjekts wäre demgemäß die Pflicht gegen die Pflicht, frei nach Kant (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Band VII, Frankfurt am Main 1991, S. 26) die Notwendigkeit des kategorischen Widerstands gegen die Verpflichtung des Menschen auf seinen bürgerlichen Ablauf. Die allgemeine und besondere Entpflichtung ist die Bedingung emanzipatorischer Handlungen und Möglichkeiten. Ein Programm der Entpflichtungen wäre somit die Vorstufe der freien Assoziation. Das bedeutet Mobilisierung der Individuen gegen die Dividuen, der Menschen gegen die Charaktermasken. Da geht es nämlich nicht gegen irgendwelche andere, sondern gegen sich selbst: ich gegen mich, wir gegen uns. Das Identische erkennt das Nichtidentische. Vice versa. Sich selbst anzugreifen, ist auch die beste Voraussetzung, dass die anderen adäquat angegriffen werden, weder Halt- noch Maßlosigkeit die entscheidenden Konflikte bestimmen. In äusserst negativer Form der Selbstzerstörung greift diese Dekomposition des Subjekts ja schon um sich, nicht nur im Selbstmordattentat. Gerade jene wäre zu wenden.

Subjekt und Verantwortung

Jedes Verhältnis ist ein Verhältnis von Personen. Wie das Personal des Kapitals, die unterschiedlichen Charaktermasken nicht aus der Kritik ausgenommen werden dürfen, das wäre wirklich Objektivismus der übelsten Sorte – niemand kann für nichts! ; so darf dem Personal letztendlich auch nicht die individuelle Verantwortung für sein Tun und Handeln zugeschoben werden, das wäre Subjektivismus, der die Verhältnisse mit ihren Trägern, die immer auch Erträger sind, gleichsetzt. Die Menschen sind die Verhältnisse, aber die Verhältnisse sind mehr als die Menschen, sie sind ihnen entwachsen (in doppeltem Wortsinne) und aufgeherrscht, obwohl wiederum nur die Menschen dieses über sie Hinausreichende, Verselbstständigte überwinden können. Menschen sind nicht auf die verdinglichten Eigenschaften des Werts zu reduzieren, Individuum meint etwas anderes als das Subjekt, selbst wenn jenes nur in Spurenelementen vorhanden ist und täglich durchgestrichen wird. Der Wert geht in den menschlichen Kommunikationen auf, aber das eine ist nicht das andere.

Die Charaktermasken der zweiten Natur, die fetischistischen Subjekte sind als unterwerfende Unterworfene und als sich-unterwerfende Unterworfene zu dechiffrieren. Wir haben es mit einer bewusstlosen Bewusstheit zu tun. Bürgerliche Subjekte können so einerseits nicht aus ihrer Verantwortung entlassen, aber sie sollen nicht auf diese reduziert werden. Das Subjekt ist Leidtragender und Leidbringer in einem, wenngleich die Akzentsetzungen von Exemplar zu Exemplar differenziert werden können.

Das Problem der Personalisierung ist nicht so simpel, wie vielfach getan wird. Namentlich die Antideutschen agieren hier ausgesprochen doppelbödig. Während sie das Kapital stets anonymisieren, personifizieren sie Deutsche, Antisemiten und andere Nazis ohne Schwierigkeit. Dass gerade jene, die permanent von den Deutschen reden, sich strikt dagegen wehren, von den Amerikanern zu sprechen, ist da ganz selbstverständlich. Die Pointe wäre demnach: Die Deutschen verkörpern die Volksgemeinschaft, die Amerikaner verkörpern aber nicht den Kapitalismus. Der Kapitalist kennt keinen Namen und keine Anschrift. Der Antisemit aber sehr wohl. Ist das Kapital nur total zu bekämpfen, so der Antisemit auch partiell. Das ist eine Logik, die je nach Interesse auf- und abblendet, ihr funktionaler Wert für das Antideutsche dürfte aber klar sein. Sie endet so im bedingungslosen Exkludieren und Konstatieren. Ihr Mittel ist das Dekret. Ihre Sprache der Jargon. An diesem wie jenem erkennen sie sich wieder.

Die Frage, die sich im Zusammenhang mit Schuld und Unschuld, Beschuldigung und Entschuldiung immer wieder stellt, lautet: Wie zurechnungsfähig ist der Mensch? Aber auch: Folgt aus der Nichtzurechnungsfähigkeit gleich eine Entlastung? Folgt aus der Zurechnungsfähigkeit eine Belastung? Und wenn ja oder nein: wieviel und wie wenig. Man sieht, es ist alles nicht so einfach, wie es uns die antiteutonischen Metaphysiker suggerieren. Ihre Kultstätten beschwören den ewigen Täter und verehren das reine Opfer, ohne da auch nur eine Sekunde wahrnehmen zu wollen, wie degradierend letzteres etwa für die Juden ist. Die Rolle, die ihnen die Nazis aufokroyierten, aus der wollen die Antideutschen sie akkurat nicht entlassen. Der Erfolg der deutschen Ideologie lässt sich daran messen, was er in antideutschen Köpfen hinterlassen hat.

Entschuldigung wie Beschuldigung sind jedenfalls fragile juristische Hilfsbegriffe mit letztlich wenig Erkenntnisleistung. Niemand darf sich auf seine Pflicht rausreden, so manifest die auch sein mag. Hätte Eichmann gesagt, der Kapitalismus sei schuld gewesen, dass er so geworden ist, dann hätte er recht gehabt. Nur, was folgt draus? Doch nur, dass nach dem Eichmann auch der Kapitalismus abgeschafft werden muss.

Möglichkeit gegen Wirklichkeit

„Tausende gingen auf die Straße, um gegen den Krieg zu protestieren – nicht jedoch gegen die Vernichtungspläne Husseins, sondern gegen den Feldzug der USA“, schreibt Anton Landgraf allen Ernstes über den Golfkrieg 2 (Jungle World 40/2001). Er meint das so. Die antijüdischen Tiraden eines Saddam Hussein und einige Scud- Raketen, die in Israel wenig Schaden anrichteten, werden höher gewichtet als die durch tatsächliche Bombardements und reale Boykottmaßnahmen getöteten Menschen im Irak. Sind wohl nur Araber oder Moslems, lauter kleine potentielle Terroristen, Bin Ladens in spe. Also weg damit. Nicht schad um sie. Der Rassismus trieft da wirklich raus. So laufen dann Leute, die keine Rassisten sind, mit rassitischen Denkmustern durch die Welt, die ihnen gar nicht erst auffallen.

Die Erwähnung irakischer oder afghanischer Toter passt jedenfalls nicht ins Bild. Sie wird als Leichenaufzählung abgetan. Indes, die Leichen sind schon zu zählen, bezeugen sie doch, zu welch Opferungen die Gesellschaften der Wertverwertung fähig und bereit sind. Das meint auch ein deutliches Ja zur Addition, aber ein Nein zur Subtraktion der Opferzahlen. Es geht also nicht um Gegenrechnung, Vergleich oder Abgeltung. Nicht ein gegenseitiges Aufrechnen ist gemeint, sondern eine Zusammenschau der Zumutungen. Nicht mehr als eine profane Kenntnisnahme. Ansonsten werden die „normalen“ kapitalistischen Opfer (wobei man das für Bombentote ja kaum sagen kann). wirklich degradiert zu Kollateralschäden des Systems, die wohl selber schuld sind, weil sie es nicht abschaffen.

In den stets projektierten Möglichkeiten eines Antisemitismus gehen alle Wirklichkeiten unter. Die Befürchtung wirkt stärker als die Realität. Was sind getötete Araber gegen die verbalen Ausfälle des Diktators aus Bagdad? Das ist nicht nur Zynismus der übelsten Sorte, er degradiert alle Leiden, die unmittelbar nichts mit dem Antisemitismus zu tun haben, zu nachrangigen Problemen. Die sollen sich nicht aufregen, gegen Auschwitz sei das alles doch nichts gewesen, was da passiert. Das wird den Betroffenen freilich in ihrer unmittelbaren Lage kaum einleuchten, sondern als soziale Abwertung erscheinen. Als westliche Arroganz sondergleichen. Der Verweis auf Auschwitz oder den Antisemitismus wird im Nahen und Mittleren Osten primär als westliches Ablenkungsmanöver wahrgenommen. Und tatsächlich müsste man den Themenkomplex dort auch anders erörtern als in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches.

Was gar nicht mehr auffallen will, ist, dass es nicht nur eine Relativierung des Antisemitismus gibt, sondern ebeno eine Relativierung vieler seit 1945 begangener Verbrechen durch den Verweis auf Auschwitz. Was das offizielle Deutschland im Kosovo vorzeigte, ahmen die antideutschen Bellizisten für den Nahen und Mittleren Osten nach. Statt der tatsächlichen Singularität der deutschen Vernichtung der Juden ist jetzt die Multiplikation von Auschwitz angesagt. Gleich Scharping und Fischer ortet und outet man die Shoa an allen Ecken und Enden der Welt, um seine eigenen Vorhaben zu begründen, um ihnen nicht bloß Legitimation, sondern Weihe, Würde und Wert zu verleihen. Auschwitz ist zu einem politischen Exportschlager geworden.

Dass der Irak noch immer bombardiert wird, spielt in diesen Überlegungen gar keine Rolle. Was kratzt’s uns? Dafür ist Israel, das neue Ersatzsubjekt für Arbeiterklasse und Kommunismus, ewig bedroht, da mögen die gesellschaftlichen Konstellationen im Vorderen Orient 2001 ganz anders sein als jene 1940 in Europa. Wer will sich mit solch Kleinigkeiten aufhalten, wenn die Faschisten doch allgegenwärtig sind, und überall durchbrechen könnten. Da mögen die Opfer auf palästinensischer Seite jene auf israelischer Seite um ein Vielfaches übersteigen. Egal, um das geht es nicht, denn das „palästinensische Selbstmordkollektiv“, so die korrekte Sprachregelung, will die Juden ins Meer treiben und vernichten, das ist sicher, während Israel nur seinen Staat und seine Staatsbürger verteidigt, das ist ebenso sicher. Und wer sich an all dem Kritik erlaubt, ist sowieso zu jeder Untat fähig.

Tote Araber sind Kollateralschäden, tote Israelis Opfer des Vernichtungswahns. Der an sich ordinäre Konflikt um Land und Möglichkeiten im Nahen Osten wird ausschließlich als fortgesetzter Zweiter Weltkrieg diskutiert. Die permanente Unterstellung, dass morgen schon wieder die Öfen rauchen könnten, lässt natürlich die Kritiker verstummen, da jeder Einwand als Verharmlosung aufgefasst werden könnte. So entstehen Geiselhaften, in denen das Atmen schwer fällt. Über den Antisemitismus zu debattieren, gleicht dem Lauf durch ein Minenfeld.

Der linksradikale Philosemitismus wird blind für alles andere der Welt. Seine primäre Frage ist die der israelischen Regierung: Was nützt Israel? Es wird wirklich zum heiligen Land, an dem keine Kritik gestattet ist. Der Philosemitismus kennt seinen Hauptwiderspruch, der Rest ist von zu vernachlässigender Bedeutung. Puncto Form ist das Antideutschtum völlig befangen im Traditionssozialismus, Israel ist ihm die Arbeiterbewegung, die Antisemiten sind der Klassenfeind. Und wer ein Klassenfeind ist, bestimmen sie natürlich selbst.

Im Reich der Projektionen

Als Reibebaum solcher Projetkionen musste sogar die israelische Linke herhalten: „Ist heute möglicherweise antisemitisch, wer sich nicht klar und unmissverständlich hinter den Staat Israel stellt und sich stattdessen hinter einer ominösen israelischen Linken verschanzt, die ihn kaputt machen würde, wenn sie zum Zug käme“, lautet die rhetorische Frage. (Bahamas 34) Also, hoch die israelische Rechte! Doch selbst die droht nun in Ungnade zu fallen, hat ja sogar Ariel Sharon angekündigt, dass er unter bestimmten Bedingungen einen palästinensischen Staat dulden will. Dass etwa die Jungle World, aber auch Konkret kaum israelische Kronzeugen für ihre strikt proisraelische Position auftreiben können, erschüttert sie in keiner Weise. Dass die israelische Linke eher in der Jungen Welt als in der Jungle World publiziert, spricht nicht gegen drittere, sondern gegen erstere, denn zweitere ist ein antizionistisches Kampfblatt.

Die Inflationierung des Antisemitismus-Vorwurfs, der allein die negative Erwähnung des Alten Testaments oder der multinationalen Konzerne als Heuschrecken (man lese Thomas v. d. Osten-Sackens Ausfälle gegen Arundhati Roy, Jungle World 43/2001) als antisemitischen Ausfall punziert, zeigt nur an, wie weit dieses Denken bereits in den Keller gefahren ist. Aus einem positiven Impuls, den Antisemitismus aufzuzeigen und ihn zu bekämpfen, ist eine autistische Orgie der Bezichtigung geworden. Jeder kann angefallen werden. Die Waffe ist allerdings stumpf, wenn sie nicht selektiv und zielgenau, sorgfältig und differenziert, sondern pauschal verwendet wird. Wir haben wohl jetzt endgültig den Punkt erreicht, wo solcher Anti-Antisemitismus weniger den Antisemitismus diskreditiert als sich selbst und damit leider auch sein zweifellos nützliches Anliegen desavouiert.

Der Eindruck, dass da eine Rasselbande permanent „Antisemitismus“ blökt, ist kaum von der Hand zu weisen. Auch wenn sich da bloß die eigene Maßlosigkeit demaskiert, ist die destruktive Konsequenz nicht unbedingt gering. Es schafft letztendlich ein inquisitorisches Klima, wo Differenzen stets welche ums Ganze sind und als ultimative Feindschaften ausgetragen werden müssen. Was sie vorhaben, ist die Quarantänisierung, ja Liquidierung ganzer linker Sektoren, nicht deren Transformation, die anstünde. Inklu- sive des antideutschen. Denn der Bezug auf die Linke, wenn auch in Haßliebe, ist ja noch immer gegeben – aber vielleicht wird auch der fallen. Wäre nur konsequent.

Man wird den Eindruck nicht los, dass die kapitalistische Totalität im Antisemitismus nicht bloß am schärfsten konzentriert ist, sondern der Antisemitismus überhaupt die Substanz des Kapitals darstellt, alles andere lediglich Erscheinung ist. Diese anti-antisemitische Projektion beleuchtet einen Aspekt, so als wäre er der einzige. Wo die Totalität derart auf einen Brennpunkt hin ausgeleuchtet wird, fällt nicht nur alles andere ins Dunkel, sondern auch der Fokus selbst ist, weil überbelichtet, alles andere als deutlich konturiert. Je heller es wird, desto greller ist es, desto weniger sieht man. Die anti-antisemitischen Leuchten funktionieren als Schattenwerfer. Nicht der Bezug zur Totalität führt zur notwendigen Entsachlichung der Frage, sondern die beliebige und universelle Projektion auf den Antisemitismus verstellt jenen zum gesellschaftlichen Ganzen. In diesem Realszenario werden alle Fragen total schräg. Man erkennt sie nicht wieder.

Nicht „Was ist? “ beschäftigt die Antideutschen, sondern „Was ist deutsch? “ Die festgefrorene Fixierung ist Grundlage ihres unauftaubaren Musters. In der vereisten Parallelwelt herrscht die „Zwei-Welten-Theorie“, was kategorisch meint: Deutsch oder Antideutsch? Wo sind die Deutschen? Wo sind die Juden? fragen sie bei jeder Gelegeneit, und jeden Konflikt subordinieren sie dieser Konstellation, die beteiligten Parteien ordnen sie ganz selbstverständlich zu. Stets gibt es bei ihnen dann die Guten (oder Weniger-Bösen) und die Bösen, säuberlich personalisiert und klassifiziert. Wie das halt bei Deutschen so üblich ist, werden sie je nach völkischer Güte als Ersatzdeutsche und Ersatzjuden ins Feld geschickt. Der Zweite Weltkrieg hat nicht aufgehört. Er wird geradezu inbrünstig „ideolgiekritisch“ weitergeführt, eigentlich: weitergebetet. „Lang lebe Israel“ heisst dann die Parole. „Nieder mit der palästinensischen Konterrevolution“. Heissa, wie einfach die Welt doch ist. Gut zu wissen, wer die Feinde sind.

Fanatische Präpotenz

Zweifellos, es gibt genügend Gründe, Deutschland zu hassen, aber es gibt keinen Grund, deswegen zu verblöden. Was man im antideutschen Irrealszenario beobachtet, ist wahrlich eine Parallelwelt der Halluzinationen. Man lebt im vierten Reich der Projektionen. Da kann sich nichts entwickeln, da gibt es keine produktive Diskussion, die Kommunikation wurde längst durch die Denunziation ersetzt. Der Marschappell der „rückhaltslosen Denunziation“ (Editorial, Bahamas 36) – wörtlich genommen also einer Denunziation, die keinen Rückhalt hat! , F. S. -, wird instinktiv eingehalten. Wenn man einige Texte so durchschaut, nicht nur in den Bahamas oder der Jungle World, dann erscheinen deren Verfasser in der Verfassung einer hypnotisierten Herde, die sich im Augenblick der Verunsicherung als aufgeschreckte Horde entpuppt. Seitdem wird niedergetrampelt. Das ist nicht der Vorschein der Emanzipation, sondern der Abschaum von Demokratie und Aufklärung.

Die antideutsche Brauchtumspflege immunisiert sich gerade dadurch, dass sie ihrerseits die Projektion unentwegt den anderen unterstellt, den Gegenvorwurf aber als Unterstellung disqualifiziert. Es ist eine hochprozentige Ideologiedroge, die sich als Ideolgiekritik missversteht. Was hier blüht, ist nicht Kritik, sondern ein zu überwindender Positonsfetischismus, der schier identitätsbesessen ist. Typisch wie abstoßend ist auch dieses unappetitliche Remake der Parolensprache: Hoch die …, Nieder mit ..., Fort mit …, Gegen die …, Lang lebe … Da fällt nur noch Tod den …, und das Ensemble wäre komplett. Aber das implizieren die eingeforderten Militärschläge. Die Irren hätten die werden können, die ganz kollateral niedergebombt werden (inklusive Seuchen- und Hungeropfer, die eben das Nachrecht der falschen Geburt haben), die Irren sind keineswegs die, die es tun oder dazu aufrufen. Die retten die Zivilisation. Was wir erleben, ist die Militarisierung des Denkens und der Sprache, die Entstehung selbsternannter Ideologie- Offiziere antideutscher Provenienz. Ihr missionarischer Eifer und ihrer fanatische Präpotenz sind erschreckend. Auch wenn sie über die Farce nicht hinauskommen, werden sie im aufgeschreckten Hühnerstall der radikalen Linken noch einiges an Schaden anrichten.

Logik scheint in irren Zeiten irre zu werden. Die Kapriolen werden immer dümmer. Dem scheint ein vollkommen beschränktes Denken zugrunde zu liegen, dass etwa alles, was z. B. ein Rechtsextremist oder Nazi sagt, falsch sein muss. Falsch, dumm, rechts, nazistisch, deutsch, das alles ist mangelhaft ausdifferenziert, bei den antideutschen Identitätsfanatikern wider Willen wird es in einen ungenießbaren Brei eingerührt. Dass bei Oswald Spengler und Martin Heidegger einiger Erkenntnisgewinn zu holen ist, wäre für diese Spezies keine richtige Aussage, sondern eine faschistisches Bekenntnis. Denn wenn man sagt, dass Heidegger ein Nazi gewesen, der er zweifellos gewesen ist, dann ist doch sowieso alles gesagt, oder?

Die Betrachtungsweise besteht aus einer Kette von impliziten Istgleichzeichen, d. h. Entsprechungen, denen vorbestimmte Konsequenzen folgen. Zum Beispiel: Araber=Muslime= Islamisten=Antijuden=Antisemiten=Vernichtung= Auschwitz=Deutschland=Bedrohung= Vergeltung=Befreiung=Aufklärung. Bei soviel logischen Identifizierungen ist gar nichts mehr verwunderlich. Der banalste Analogieschmarren wird da aufgetischt. Das geht dann so: Robert Kurz sagt: „Ein Pferd hat vier Beine“. Horst Mahler sagt: „Ein Pferd hat vier Beine“. Erwischt! Erwischt! Dass Robert Kurz der Volksgemeinschaft zugeordnet werden muss, braucht gar nicht mehr ausgesprochen werden, das wäre schriftlich formuliert sogar eher peinlich. (Obgleich die Bahamas selbst vor dieser Peinlichkeit nicht mehr zurückschrecken. Wenn schon, denn schon. ) Fakt aber bleibt, dass hier immer etwas hängen bleiben soll. Was sich im Mikrokosmos abspielt, ist die eigene Immunisierung durch die versuchte Stigmatisierung anderer. Werkzeuge dafür sind die Andeutung, das Gerücht, die üble Nachrede, die Denunziation. Wer nicht denunziert, wird denunziert. Dafür leben sie. Rückhaltslos.

Gegen Auschwitz, für Nagasaki

Wenn die Negativität von Ausschwitz alles überstrahlt, dann sind Hiroshima und Nagasaki nur unbedeutende Fußnoten der Geschichte gewesen. Von den anderen Nebensächlichkeiten nach 1945 überhaupt ganz zu schweigen. Was den Antideutschen nicht ins Bild passt, kommt nicht vor. Ein Günther Anders-Grundkurs wäre dringendst notwendig und wärmstens zu empfehlen. Anders etwa bezeichnet den 6. August 1945, den Tag der Hiroshima-Bombe, als „Tag Null. Dieser Tag, an dem beweisen wurde, daß die Weltgeschichte vielleicht nicht mehr weitergeht, daß wir jedenfalls fähig sind, den Faden der Weltgeschichte durchzuschneiden, der hat ein neues Zeitalter der Weltgeschichte eingeleitet.“ (Hiroshima ist überall, München 1982, S. 66) Die Atombombe ist ihm „das Charakteristikum der dritten industriellen Revolution“(Die Antiquiertheit des Menschen, Band 2, München 1979, S. 19. ). Dass die Menschheit tötbar ist, ist wohl seine zentrale Aussage gewesen. Und das ist die Menschheit ja noch immer, ja immer mehr.

Solch Denken ist heute verschüttet, aber vielleicht fällt Anders auch schon unter das Verdikt der Verharmloser von Auschwitz. Was doppelt menschugge ist, vor allem wenn man bedenkt, dass nicht nur die USA, sondern auch Staaten wie Pakistan und Indien über die Atombombe verfügen. Detto Israel. Man stellt sich also wirklich die Frage, ob die jetzigen Debatten – und nicht bloß im linksradikalen Schrebergarten – nicht überhaupt ziemlich daneben liegen. Der Abwurf einer Atombombe oder das Zünden eines Atomsprengkopfs (und nicht nur im Mittleren oder Nahen Osten) ist z. B. um vieles wahrscheinlicher als die Zerstörung Israels. Was anstünde, wäre eine unaufgeregte Diskussionen über die Gesamtlage auf diesem Planeten, was auch heißt, eine über die schleichende sekundäre Barbarisierung und ihre möglichen Entwicklungsformen, nicht aber das Starren auf einen fixen Punkt. Aber wer nur noch für weil gegen den Antisemitismus lebt, wird das kaum begreifen.

Da unsere Unfreunde die Barbarisierung lediglich in den Begriffswelten von Faschismus und Auschwitz denken können, ist man geradezu blind für die realen Läufe der Welt. Ja der irrwitzige Standpunkt dieser proamerikanischen Linken dürfte der sein: Gegen Auschwitz, für Nagasaki. Nur so ist etwa die völlig absurde Sicht zu verstehen, wenn etwa Anton Landgraf sich über Günther Gaus entsetzt, weil dieser den zweiten Atombombenabwurf in Nagasaki völlig zurecht „blanker Terror“ (Freitag 39, 21. September 2001) nennt. Was war der sonst gewesen? Der zum Warlord gewordene Landgraf meint das nicht einmal kommentieren zu müssen. Atombomben sind schon o. k. , wenn sie die richtigen treffen. Die Japaner waren schließlich Verbündete der Deutschen und Feinde der Alliierten. Folglich gibt es nichts, was ihnen nicht auf den Kopf fallen soll. Und wenn die Welt vernichtet werden muss, damit es keine Faschisten mehr gibt.

Trance und Delirium

Die „konsequentesten“ Gegner aller Nazis sind regelrecht beseelt, ja beflügelt vom eliminatorischen Irrsinn ihrer Feinde. Ihr Gegenstand wirkte wie ein Inkubator seiner selbst auf sie. Da sie den Faschismus-Begriff so inflationär verwenden, quasi als Ontologie des Daseins nach Auschwitz (vgl. dazu auch die letzte Nummer der Streifzüge 2/2001), weiss man des öfteren wirklich nicht, was sie einem just auf den Hals wünschen. Schließlich heisst es ja in der 2. Erklärung der Bahamas: „Keine Staatskritik ist legitim – es sei denn jene, die mit dem Staat Israel, jener prekären Nothilfemaßname gegen jene antisemitische Raserei, die der Nationalsozialismus als die historisch erste Selbstaufhebung des Kapitals entfesselt hatte, bedingungslos solidarisch erklärt, was derzeit heißen würde, gegen die Internationalisierung des Konflikts mit den Palästinensern und die Verwandlung Israels in ein NATO-Protektorat zu agitieren. Dies sind absolute Mindestbedingungen für eine Gesellschaftskritik in emanzipatorischer Absicht – alles andere ist von der faschistischen Intention nicht mehr zu unterscheiden.“ (Bahamas 36) Oder noch deutlicher in der 3. Erklärung mit dem Titel „Zur Verteidigung der Zivilisation“: „Wenn allerdings Antikapitalismus von den nürnbergerischen (gemeint ist die Krisis, F. S. ) und anderen islamistisch- deutschen Gemeinschaftswerken nicht mehr unterscheidbar ist, wenn er nicht mehr die Aufhebung der kapitalistischen Vergesellschaftung auf ihrem höchsten Niveau einfordert und blind ist für die Gefahren eines Antikapitalismus, der nur noch den vorzivilisatorischen egalitären Schrecken bereithält, dann muß man ihn bekämpfen wie jede andere faschistische Gefahr auch.“ – Zumindest weiß man nun, wie man dran ist.

Es stammelt stramm: Bedingungslose Solidarität als absolute Mindestbedingung, sonst Antisemit und Faschist! Da müssen jetzt sogar Stephan Grigat und das neu entstandene Café Critique um ihr Remonée bangen, schließlich reden die doch von „kritischer Solidarität“ gegenüber Israel. Das geht nicht. Das ist zweifellos eine Abweichung vom Berliner Jargon, wenn nicht gar Antizionismus also Antisemitismus also Mordlust also Vernichtungswille also Volksgemeinschaft also deutsch also faschistisch. Der Balanceakt zwischen Seriosität und Toleranz gegenüber der Bahamas ist nicht machbar. Da kann man nur scheitern.

Dass keine Divergenz toleriert wird, hat inzwischen sogar Gerhard Scheit erfahren müssen, als er Ende Oktober ebenfalls in der 3. Erklärung regelrecht abgewatscht wurde, und das, obwohl sein Beitrag in der Jungle World außer einer kleinen Randbemerkung völlig Bahamas-kompatibel gewesen ist: „Ausgerechnet Gerhard Scheit war es dann in der Ausgabe vom 2.10. vorbehalten, einerseits abzuschreiben, was die BAHAMAS vorformuliert hat und anderseits sich mit einer – inhaltlich sinnlosen – Randnotiz deutlich sichtbar zu distanzieren. Weil die BAHAMAS nie gesagt hat, der Koran und „Mein Kampf“ seien das gleiche – wie Scheit behauptet -, sondern vielmehr, daß die Funktion des Religionsbuches bei der Mobilisierung des aktivistischen Antisemitismus der entspreche, die „Mein Kampf“ seinerzeit in Deutschland hatte – eine Aussage, die Scheit einen ganzen Artikel lang bestätigt – waren die distanzierenden Worte allein als Flucht des Autors vor der Konsequenz der eigenen Argumentation zu verstehen, die ihn in die gefährliche Nähe von Schmuddelkindern bringen könnte. Der Wiener Wertkritiker Scheit hat mit seiner am 02.10. 2001 publizierten Distanzierung von der BAHAMAS der panisch gewordenen Jungle World-Redaktion, die bekanntlich alles daransetzt, den linken Mainstream ausgewogen zu repräsentieren, den Fingerzeig gegeben, daß eine antiimperialistische Kurskorrektur angezeigt sei, wolle man nicht in die Schußlinie deutscher Friedenssucher geraten und über kurz oder lang schmerzliche Absatzeinbrüche in Kauf nehmen.“ Wer solche Freunde hat, sollte zu seinen Gegnern flüchten. Die herostratischen Brandstifter aus der Reichshauptstadt haben sich in ihrer Disqualifizierungsoffensive offensichtlich in Trance geschrieben und dürften jetzt ins Delirium gestürzt sein. Was soll man den Unfreunden noch mitteilen? Nun, vielleicht das: Die neuesten Streifzüge betreffend, wird sich die Bahamas ja schwer tun, etwas für ihre Mülltonne auszusuchen. Daher ein Vorschlag. Ganz im Sinne des individualistischen Eigennutzes stellen wir der Bahamas eine Druckvorlage unseres gesamten Blattes zur Verfügung, so dass sie auf eigene Kosten ein ganzes Heft als Sondernummer ihrer Mülltonne drucken können. Das erspart die mühsamen Abtippereien, ehrt die Bahamas und auch wir kommen auf unsere Kosten. Dass sie den Blick in die Mülltonne mit dem Blick aus der Mülltonne verwechseln, ist da nicht weiter tragisch. Das ist das wenigste. Die klügeren Leserinnen und Leser wissen schon, was drinnen und was draussen ist. In diesem Sinne: Lasst sie auszucken.

Ahistorisches ABC

Man darf jedenfalls gespannt sein, wann die Pointe formuliert wird, dass der Antikapitalismus antisemitisch ist. Denn wohlgemerkt, jedem außer dem eigenen antideutschen wird das heute explizit oder zumindest implizit unterstellt. Was sich hier entwickelt hat, ist ein neudeutscher Maximalismus des Unsinns. Ein Phänomen, dass es in dieser Schärfe wirklich bloß in Deutschland geben kann. Am Ende dieser Entwicklung kann nur stehen, dass man ganz allgemein mit dem aufgeklärten Kapital gegen die unaufgeklärten Gegner vorgehen muss.

Denn „das unterscheidet die mittelalterliche Barbarei von der kapitalistischen“, schreibt Andrea Albertini in ihrem inzwischen berüchtigt gewordenen Aufsatz „Fanta statt Fatwa“ (Jungle World 43). Für dieses Denken wäre es eine antiamerikanische und somit antisemitische Aussage, auf den bescheidenen Umstand hinzuweisen, dass seit Sommer 1945 für das Gros der barbarischen Akte auf diesem Planeten die USA hauptverantwortlich sind, wohl im Kampf dabei, „dass jeder Mensch gleiche politische Rechte und Chancen hat“. Da ist Albertini mit Johnson und Nixon, dem alten und dem jungen Bush ganz einer Meinung. Die wollten auch nie was anderes. Für das marschieren sie überall ein.

Eine wie Albertini würde auch die Hexenprozesse und die Inquisition ins Mittelalter tun. Indes, die waren geradezu Kennzeichen der kapitalistischen Modernisierung. Wahrlich, hier pirschen geschichtslose Irrläufer durch die Gegend, die vor lauter Fixierung auf den 2. Weltkrieg überhaupt nicht mehr mitbekommen haben, was nachher gewesen ist. Aber oft hat es sowieso den Anschein, dass nachher überhaupt nichts gewesen ist. Vielleicht ist auch vorher nichts gewesen. Das ahistorische ABC entstammt eher einem Lehrbuch für Colleges im Mittelwesten. Dort gibt’s auch ausreichend Fanta.

Indes, man könnte Fanta durchaus seriös diskutieren. Dass etwa die grauslichste aller Orangenlimonaden so zu Ehren kommt, ist ja bezeichnend. Dass die niederösterreichischen Frucade und Bluna oder das oberösterreichische Schartner um vieles besser schmecken, von den vorzüglichen tschechischen Zitrusfruchtgetränken mal abgesehen, das kümmert hier gar nicht. Dass Fanta als Teil des Coca-Cola-Kon- zerns eben dabei ist, diverse Varianten des Limonadisierens zu nivellieren, wenn nicht überhaupt zu eliminieren, ebensowenig. Wohlgemerkt, es geht nicht darum, eine Marke, einen Kleinbetrieb oder gar eine Nation zu verteidigen, sondern um den Stoff, der aus der Flasche rinnt. Wir wollen genießbare Limonaden haben! Aber das ist jetzt möglicherweise ein deutscher Standpunkt, der Ursprüngliches gegen Fortschrittliches verteidigt. Pfui. Übrigens ist auch das deutsche Bier im Durchschnitt besser als das amerikanische. Aber das nur nebenbei.

In der Festung sitzen die Hüter der Werte des Werts: Vernunft, Demokratie, Glücksversprechen, Fanta. Draußen ist eine angeblich andere Welt, „das Mittelalter“. Davor müssen wir uns schützen. Ideologisch wird nachvollzogen, was ökonomisch bereits vollzogen ist, die Dritte Welt und ihre Menschen werden abgeschrieben: Faschisten, Hinterwäldler, Dorfdeppen, Kolonialkrüppel. Die Leute im Trikont sind für die abendländisch geläuterten Linksradikalen Mob, noch dazu antisemitischer und deutscher Mob. Gleich philosophischen Yuppis schreien sie: „Eure Beschränktheit kotzt uns an! “ Der antideutsche Schäferhund hat zwar das Umerziehungslager hinter sich, aber er ist noch immer scharf und bissig. Aus dem guten Wilden, wie ihn manche Antiimperialisten verehren, ist der böse Wilde geworden. Wie bei den Vorvätern soll er nun durch ein Bündnis von Kreuz, Aufklärung und Wert gezähmt und gezüchtigt werden. Der weiße Herrenmensch lässt grüßen.

Mehrwert ohne Wert

Das metropolitane linksradikale Bürgersubjekt will zwar zurecht von der Arbeit nichts mehr wissen, deren Resultate aber unhinterfragt erhalten und genießen. Wurde in der Arbeiterbewegungslinken der krude Standpunkt der Arbeit eingenommen, so wird hier die Position des Tauschs bezogen. So als sei die Zirkulation besser als die Produktion oder gar von ihr unabhängig. Keineswegs will man mit Marx wissen, „daß endlich die Verteilungsverhältnisse wesentlich identisch mit diesen Produktionsverhältnissen, eine Kehrseite derselben sind, so daß beide denselben historisch vorübergehenden Charakter teilen.“ (Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, 885)

Das elende Spiel Produktion gegen Zirkulation, jenes, das von der Arbeiterbewegung bis zum Antisemitismus weitgehend Usus ist, wird nicht aufgehoben, sondern lediglich umgekehrt, indem man sich nun bürgerlich-breitbeinig auf den Boden der Zirkulation stellt. Sie schlagen sich also – nicht nur taktisch, sondern ganz praktisch und vor allem prinzipiell – einem Aspekt der Totalität zu. Dreh den Spieß um, schon hast du was anderes in der Hand, ist das Motto. Die Kritiker der verkürzten Kapitalismuskritik verkürzen selbst. Aus dem unsinnigen Kampf für eine antimonopolisitische Demokratie wird nun ein Kampf für das fortgeschrittene Kapital und somit für das Fortschreiten desselben: Für das marktfähige Kapital, gegen das zum Untergang bestimmte! Für die erfolgreichen Nationen, gegen die zu spät und zu kurz gekommenen! Die negative Kapriole ist die neue Parole desselben. Man glaubt fast schon in der neoliberalen Geisterbahn zu sitzen. Und das ist noch steigerbar. Vielleicht wird gar aus „Nieder mit der Zinsknechtschaft! „, „Nieder mit der Spekulation! “ „Kampf den Konzernen! “ ein „Es lebe der Zins“, „Hoch die Spekulation!“ und ein „Lobet die Konzerne!“. Mit uns zieht der kapitalistische Fortschritt.

Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der Handel als Vorschein des Sozialismus erscheint, und der Händler (als Träger der Freiheit des Marktes) als Subjekt der Befreiung überhaupt gilt. Wer etwas gegen das Geschäft als Zwangsform der Kommunikation sagt, meint damit wohl nichts anderes als den Juden. Und wer etwas gegen Banken sagt, ist wahrscheinlich überhaupt ein Antisemit, unabhängig davon, was er sagt, denn haben nicht schon die Nazis von der Zinsknechtschaft gesprochen und hat nicht auch Horst Mahler erst kürzlich irgendetwas gegen das internationale Finanzkapital gesagt … Eben! Auch wenn das alles nichts sagt, sagt es doch alles.

Deutsche Antideutsche

Ob positiv oder negativ, Deutsche und Antideutsche haben auf deutsche Ereignisse als trächtige Besonderheiten zu setzen. Ob niederträchtig oder hochtrabend ist da sekundär, Hauptsache (anti)deutsch! So ist es auch kein Zufall, dass es (wie der Begriff verkündet) solch Antideutsche nur als Deutsche geben kann. Niemand hängt so an Deutschland wie die Antideutschen, nicht einmal die Nationalbolschewiken. Die Antideutschen sind ein deutscher Sonderfall. Sie definieren sich über ihre (ohne Anführungszeichen! ) Nation, die sie zwar nicht wollen, die sie aber trotzdem maßgeblich bestimmt. In ihren Herzen und Hirnen schlägt Deutschland.

Selbst Ulrich Enderwitz ärgert sich über die „Fixierung auf die von der Geschichte überholte deutsche , Sondermission’“. In einem offenen Brief (www. isf-freiburg. org/beitraege) an seine Freunde spricht er von „der Paradoxie des Antideutschtums, einer aus Provinzialismus und Projektion gemischten negativen Deutschtümelei. “

Wie ungemein wichtig den Antideutschen das Deutsche ist, haben sie in glänzender Weise dadurch bewiesen, dass sie den Begriff „Deutsche“ gleich in den Namen aufgenommen haben. Das Anti sollte über das Deutschsein der Antideutschen nicht hinwegtäuschen, es ist bloß dessen negativer Zündfunke. Das germanophile Denken wurde hier von einem germanophoben abgelöst, das fortan den Bannstrahl der Judenvernichtung auf jedes beliebige Problem zu lenken versteht. Manisch germanisch ist dieses Treiben: Die Shoa gehört uns! Auschwitz wird zum negativen Sakrament, und nichts, aber auch gar nichts entzieht sich ihrem Firmament.

Der linksradikale weiße Mann mit all seinen bürgerlich gedopten Bedürfnissen will also, da er den Kommunismus nicht kriegt, zumindest freedom and democracy. Er entscheidet sich also bewusst für den Wert. Wie es die Bahamas auch in kruder Fortschrittsgläubigkeit tun. Jede Kritik an den USA schwächt doch die eigene Seite und hilft dem islamischen Feind, der als groß und mächtig halluziniert wird, man sehe sich nur die bärtige Stärke der Talibans im Fernsehen an. Dass der Kapitalismus seinen Feinden vorzuziehen ist, wie Landgraf schreibt, dürfte sich bald verallgemeinern, sodass der Kapitalismus überhaupt vorzuziehen ist. Was geprobt wird, ist der Schulterschluss. Abendländer sind wir doch alle, wer will schon unter den Mullahs leben? Von Bahamas bis Bild ist man sich da einig, wenngleich erstere in den Moslems Deutsche sehen und letztere ab und zu auf die Amis spucken. Aber das sind Nuancen.

Endlich stecken die Teutonen wieder im Kampfanzug, und zwar in der GI-Uniform des Abendlandes. Was für deutsche Krieger reell der Fall wird, ist für antideutsche ideell der Fall. Das nennt sich Volksgemeinschaft, wenn auch bereits auf okzidentalem Level. Haben nicht Bush, Blair und Berlusconi inzwischen, ganz wie die nicht nur stabreimmäßig dazugehörige Bahamas, eine „Schlacht um Werte“ ausgerufen. Wächst da was zusammen? Gar eine neue Union der Missionare des Werts? Vereinigen sich die Kreuzzügler aller Länder? Miteinander und gegeneinander? Ja, es ist zu befürchten. Was wir erleben, ist ein Crossover unter dem Deckmantel radikaler Gesellschaftskritik. Was sich hier inauguriert, ist nichts anderes als ein rabiater Flügel der westlichen Festung. Das äußerste linke Ersatztürmchen hisst die US-Flagge und schreit „Wir auch! “ „Nieder mit ihnen! “ Vielleicht verwirklicht sich tatsächlich, was Samuel P. Huntington (Der Kampf der Kulturen, München-Wien 1996, S. 320. ) schon ausgesprochen hat: „In Westeuropa ist der gegen Juden gerichtete Antisemitismus weithin von einem gegen Araber gerichteten Antisemitismus abgelöst worden.“

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