Café Critique, Jahr 1999
Juli
1999

Mountainbiker kontra Waldläufer

Über Handkes Fahrt nach Serbien und Peymanns Fahrt nach Berlin

Das Stück spielt „ein Jahrzehnt nach dem vorläufig letzten Krieg in Jugoslawien“: ein amerikanischer und ein spanischer Regisseur wollen gemeinsam einen Film über diesen Krieg drehen. Zu diesem Zweck lassen sie sich in einer Art weltanschaulichem Casting oder theatralischem Hearing die Parteien und Zeugen des Konflikts vorführen: auf der einen Seite die Einheimischen („Waldläufer“, „Chronist“, „Fellfrau“ etc.) - auf der anderen die „Internationalen“ oder „Mountainbiker“, Karikaturen des amerikanischen und europäischen Journalismus. In seiner allegorisierenden Darstellung bezieht sich das Stück, das ursprünglich vom Bosnien-Konflikt handeln sollte, gleichzeitig auf sämtliche Auseinandersetzungen der neunziger Jahre im ehemaligen Jugoslawien, und so braucht es auch für den jüngsten Nato-Krieg im Kosovo kaum aktualisiert zu werden. Als Ergebnis der eigenartigen Vorführung beschließen die beiden Regisseure zuletzt, die Produktion abzubrechen: „Die Gesellschaft zerfällt mehr und mehr in Horden. Und diese gebärden sich um so hordenhafter, je stärker die Lüge von der Gesellschaft und Gemeinschaft weitergeistert ... Es ist die Zeit nach den letzten Tagen der Menschheit ...“

Die unpathetische Bestandsaufnahme gehört zu den hellsichtigsten Stellen des Stücks, nicht zufällig nimmt sie rückblickend auf Karl Kraus‘ Weltkriegsdrama Bezug. Am besten ist Handkes Stück in solchen Momenten ruhiger Reflexion. So läßt er am Beginn den „Chronisten“ über das Auseinanderfallen der „Zeitrechnung“ im Vorkrieg berichten: damit meint er „nicht bloß die verschiedenen Feste der verschiedenen Religionen – nein, die profane Zeit war es, die in unserem Dorf allmählich furchtbar auseinanderfiel ...“ Näher ist Handke kaum je den innerjugoslawischen Ursachen des Kriegs gekommen: als Ungleichzeitigkeit erfaßt er das Auseinanderfallen der Produktivität im alltäglichen Verhältnis der Bevölkerungsgruppen zueinander, die ungleiche Distanz zur Weltmarktzeit in den einzelnen Regionen des alten Jugoslawiens wird dadurch sinnfällig - und so gesehen hat die Ungleichzeitigkeit das Land tatsächlich reif für Beutekriege, seine Aufteilung interessant für Deutschland und Europa werden lassen.

Auch das Unbewußte der „Internationalen“, die sich selbst über den Charakter dieses Kriegs hinwegtäuschen wollen oder müssen, wird dabei zum Sprechen gebracht: „... ich habe auch das ganze Volk hier und alle hiesigen Völker von Anfang an gehaßt, so, wie bis zum Ausbruch des Krieges, höchstens mich selber - nein, anders als mich selber, fragloser, freiheraus, meinen alten Selbsthaß endlich los!“ Angedeutet ist damit ein innerer Zusammenhang: „An unserer Zerfallenheit könnt ihr die eure sehen“, entgegnet der „Waldläufer“ den „Internationalen“. Und an einer Stelle wird sogar der Zusammenhang mit der Vergangenheit deutlich: die gefälschte Darstellung eines serbischen „KZs“ wird als „späte Rache derer, die für das Urbild verantwortlich sind“, kenntlich gemacht.

Im Einbaum zum Sein

Aber Handkes Stück hat einen doppelten Boden – darauf verweist schon der doppelte Titel: Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg. Was auf den ersten Blick als Dialektik des inneren Zusammenhangs erscheint, entpuppt sich als deutscher Tief- und Stumpfsinn, die Fährte des Waldläufers ist ein Heideggerscher Holzweg („im Wald ist Zukunft“): das Ende der Gesellschaft wird als Ursprung der Gemeinschaft beschworen, die Regression als Heil verkündet. Wenn die beiden Regisseure auf der Ebene des Films erkennen, daß die Gesellschaft mehr und mehr in Horden zerfällt, und diese sich um so hordenhafter gebärden, je stärker die Lüge von der Gemeinschaft weitergeistert, so versucht Handke auf der Ebene des Einbaums selber nichts anderes, als diese Lüge bloß überzeugender zu erzählen: die Zeit nach den letzten Tagen der Menschheit wird als Zeit des Heils geoffenbart; die Kriegsflüchtlinge und Vertriebenen als „Vorhut der ... hoffnungslosen, aber umso heller weitertuenden ursprünglichen Menschheit.“

Vor Jahren sprach Michael Scharang schon von Handkes „Wortgebimmel“ und „Ankündigungsprosa“ (KONKRET 10/1987): nun wird deutlicher, was eigentlich eingeläutet und angekündigt wird. In den Traumbildern der „Fellfrau“, der die alte romantische Frauenrolle der Erlöserin zufällt, werden Vorstellungen von echter Heimat und wahrem Sein projiziert. Und wenn einer die gemeinschaftliche Fahrt im Einbaum stört und kritisch „im Tonfall der Internationalen“ zu fragen wagt: „Ist im Halbschlaf nicht jeder allein?“ – dann erhält er die zornige Antwort: „Nein, du Ignorant: an dieser Grenze existiert noch ein Wir wie sonst nirgends mehr.“

Die ontologisierende Abstraktion hat ihren eigenen Konkretionswahn: sie spricht nicht von Individuen, sondern von Völkern, und als Kern des beschworenen „Wir“ wird ein bestimmtes Volk, das serbische, herausgeschält: „Wenn heute noch Volk, dann ein tragisches. Und das hier ist ein tragisches Volk. Und mein Platz ist beim tragischen Volk.“ So der „Grieche“, der mit den Journalisten gebrochen und damit die Seite gewechselt hat. Aus der Perspektive dieses tragischen Volks gewinnt nun auch die Darstellung der „Internationalen“ eine andere Qualität. Handke hat sich nie um einen Begriff von der abstrakten Herrschaft des Kapitals bemüht und um kritische Theorie immer einen großen Bogen gemacht. Wenn er jetzt nicht mehr aus und ein weiß vor berechtigter Wut über die Medien, gerät er sofort in Versuchung, eine Weltverschwörung zu phantasieren, die in ihrer Struktur der antisemitischen Projektion verwandt ist: „Ihr habt leicht reden“, sagt der „Grieche“ zu den „Internationalen“, „habt nie ein Land im Sinn gehabt ... Ihr aber seid Kadaverschweine ... Quallen, Medusen: inexistente, formlose Unheilanrichter ... Und während die kleinen Völker hier sich um Erdbrocken stritten, bemächtigtet ihr euch der Welt.“

Wen wundern da noch die Sympathien Martin Walsers für Peter Handkes Friedens-Engagement? Und die Handke-Kritiker in FAZ und ZEIT, die in ihrer „internationalen“ Gesinnung immer nur Deutschland und Europa im Sinn haben und sich darüber freuen, daß von diesem großen völkisch vereinten Erdbrocken wieder ein Krieg ausgeht, sie haben leicht reden, solange Kriegsgegner wie Handke ihnen mit solchen völkischen Phantasien das beste Alibi verschaffen, das in Deutschland derzeit zu haben ist. Aber die Entzweiung in Freunde und Gegner des Kriegs ist hier ohnehin immer nur eine vorübergehende: Deutschland bringt den Krieg und es verheißt auch den Frieden. So sind Antiamerikaner und Nato-Freunde - Augstein und Schröder, Walser und Grass - auf der Basis einer rein europäischen Kriegs- und Kulturunion sofort vereint - zum Wohle einer Nation, die aus Krieg ebenso wie aus Frieden gestärkt hervorzugehen vermag und einen weiteren wichtigen Schritt zur Weltmacht getan hat. Die Amerikaner - und speziell das mit ihnen phantasierte „Finanzjudentum“ - werden bald von allen als die eigentlichen Internationalen, die nie ein Land im Sinn gehabt, als die inexistenten, formlosen Unheilanrichter identifiziert werden.

Der integrative Regisseur

Die Inszenierung des Stücks durch Claus Peymann - letzte Premiere seiner Ära am Wiener Burgtheater - wirft auch ein Schlaglicht auf die Theatergeschichte der 68er-Bewegung. Solange Peymann hauptsächlich mit Österreich beschäftigt war, sein Theater gegen Waldheim und andere Wiener Publikumslieblinge mobilisierte, solange also Thomas Bernhard der Hausautor jenes Nationaltheaters war, das Peymann offenkundig immer mit sich führt („Das wanderte mit uns erst nach Bochum, dann nach Wien“), solange schien (anders als bei Peter Stein und der Berliner Schaubühne) das ursprüngliche politische Engagement im österreichischen Sumpf gleichsam konserviert. Bernhard aber ist seit zehn Jahren tot, und Österreich entsorgt neuerdings seine Vergangenheit im Kosovo.

Unter diesen veränderten Bedingungen geschieht es, daß die Mumie des politischen Theaters kurz vor dem Abtransport nach Berlin plötzlich zerfällt. Peymann bringt Handkes Projektionen bruchlos und unverfremdet mit der ihm eigenen Verspieltheit auf die Bühne: sie sind ihm nicht mehr als poetische Bilder für etwas, das zu begreifen, er mittlerweile ebenfalls jede Anstrengung scheut. Im Interview mit der Zeitschrift NOVO (40/1999) spricht er von einem „wirklich poetisch-politischen Gegenkosmos“, den Handke „herbeizuträumen“ versuche: „Er schreibt aus einem halbwachen, seherischen Zustand der Inspiration heraus. Jenseits aller Denkklischees (sic!) stellt er unserer heutigen Apokalypse eine friedliche, suchende Welt gegenüber.“ Während Handke in seinen frühen Stücken immerhin noch wacher war und die Schein-Konkretheit der Literatur und des Theaters in Frage gestellt hat, bietet er heute genau jene Fetischisierung, die das Theater braucht, um sich über das Real-Abstrakte der Gesellschaft hinwegzusetzen – da es doch an sich ungenießbar und eigentlich nicht darstellbar ist.

In früheren Klassiker-Inszenierungen war es Peymann allerdings immer wieder gelungen, dieses abstrakt werdende gesellschaftliche Verhältnis, das nicht mehr in persönlichen Beziehungen aufgeht, gerade als das Unheimliche, Gespenstische in den Beziehungen zu betonen; und in den Texten von Jelinek und Turrini suchte er zugleich nach inszenierbaren Metaphern, um das im Dialog nicht mehr faßbare Verhältnis zwischen den Menschen doch noch unmittelbar und auf schockierende oder auch komische Weise zum Ausdruck zu bringen; bei Handke aber fand Peymann die ontologischen Bilder, die ins abstrakt Gewordene ein ewig Konkretes projizieren, erhabene Utopie statt nüchterner Negation.

Das in Sachen Krieg gespaltene Publikum klatschte einmütig. Die Solidarität mit Handke, die Peymann im Interview bekundet, ist ohnehin eine mehr gefühlsmäßige – und auf publicity bedachte. Er schätzt an dem Dichter vor allem „manischen Nonkonformismus“, sonst aber findet sich im üblichen Theatergewäsch vom „halbwachen, seherischen Zustand“ und „poetisch-politischen Gegenkosmos“ kaum ein kritisches Wort über die Kriegspolitik der rot-grünen Koalition. In der Inszenierung macht er nicht nur die drei „Internationalen“ zu harmlosen Clowns, sondern legt auch den „Griechen“, der Handke zweifellos am nächsten steht, als teilweise lächerliche Figur an. Ist Peymann womöglich schon auf dem besten Wege, der Joschka Fischer der Theatergeschichte zu werden? Er stellte sich jedenfalls schon früh auf eine Situation ein, die Friedensbewegte und Nato-Freunde wieder national integriert, indem sie Deutschland den Nimbus des Friedensbringers verschafft. „Ich hatte immer eine deutliche linke Positionierung“, sagt er nicht ohne Stolz und verweist darauf, daß er aus Stuttgart rausgeschmissen wurde, weil er im Theater für die RAF-Häftlinge Geld für Zahnersatz sammeln ließ. „Vielleicht wirkt gerade meine Person integrativ für ‚Linke‘‚ und ‚Konservative‘.“ In diesem integrativen Sinn entwirft der einstmals polarisierende Burgtheater-Direktor den künftigen Spielplan fürs Berliner Ensemble: dem alten Brecht fühlt er sich so nahe wie dem neuen Botho Strauß.

In die moralische Anstalt der Berliner Republik möchte Peymann vor allem Handke und Jelinek mitnehmen: während die eine die Serben als „krankes Volk“ bezeichnet und ihnen eine „Erziehungsdiktatur“ verschreiben will, sieht der andere in ihnen ein „tragisches Volk“, von dem er sich eine heilsgeschichtliche Wendung erwartet (so oder so - „Volk“ muß es sein). Die falsche Alternative von political correctness und deutscher Romantik, von abstrakter Rationalität des Kapitals und ontologisierender Irrationalität seiner Reaktionsbildung scheint das einzige zu sein, was übrigblieb von der politischen Spannung der österreichischen Literatur und des Theaters der 68er-Bewegung. Auf Berlin warten also aufregende Theaterzeiten.

zuerst erschienen in konkret 7/1999