FORVM, No. 33
September
1956

Musik und Sprache

Musik ist sprachähnlich. Ausdrücke wie musikalisches Idiom, musikalischer Tonfall, sind keine Metaphern. Aber Musik ist nicht Sprache. Ihre Sprachähnlichkeit weist den Weg ins Innere, doch auch ins Vage. Wer Musik wörtlich als Sprache nimmt, den führt sie irre.

Sprachähnlich ist sie als zeitliche Folge artikulierter Laute, die mehr sind als bloß Laut. Sie sagen etwas, oft ein Menschliches. Sie sagen es desto nachdrücklicher, je höher die Musik geartet ist. Die Folge der Laute ist der Logik verwandt: es gibt Richtig und Falsch. Aber das Gesagte läßt von der Musik nicht sich ablösen. Sie bildet kein System aus Zeichen.

Die Sprachähnlichkeit reicht vom Ganzen, dem organisierten Zusammenhang bedeutender Laute, bis hinab zum einzelnen Laut, dem Ton als der Schwelle zum bloßen Dasein, dem reinen Ausdrucksträger. Nicht nur als organisierter Zusammenhang von Lauten ist die Musik analog zur Rede, sprachähnlich, sondern in der Weise ihres konkreten Gefüges. Die traditionelle musikalische Formenlehre weiß von Satz, Halbsatz, Periode, Interpunktion; Frage, Ausruf, Nebensätze finden sich überall, Stimmen heben und senken sich, und in all dem ist der Gestus von Musik der Stimme entlehnt, die redet. Wenn Beethoven den Vortrag einer Bagatelle aus op. 33 ‚‚mit einem gewissen sprechenden Ausdruck“ verlangt, so hebt er dabei nur, reflektierend, ein allgegenwärtiges Moment der Musik hervor.

Musik zielt auf eine intentionslose Sprache. Aber sie scheidet sich nicht bündig von der meinenden wie ein Reich vom anderen. Es waltet eine Dialektik: allenthalben ist sie von Intentionen durchsetzt, und gewiß nicht erst seit dem stile rappresentativo, der die Rationalisierung der Musik daran wandte, über ihre Sprachähnlichkeit zu verfügen. Musik ohne alles Meinen, der bloße phänomenale Zusammenhang der Klänge, gliche akustisch dem Kaleidoskop. Als absolutes Meinen dagegen hörte sie auf Musik zu sein.und ginge falsch in Sprache über. Intentionen sind ihr wesentlich, aber nur als intermittierende. Sie verweist auf die wahre Sprache als auf eine, in der der Gehalt selber offenbar wird, aber um den Preis der Eindeutigkeit, die überging an die meinenden Sprachen. Und als sollte sie, die beredteste aller Sprachen, über den Fluch des Mehrdeutigen, ihr mythisches Teil, getröstet werden, strömen Intentionen in sie ein. Stets wieder zeigt sie an, daß sie meint, und daß sie bestimmt meint. Nur ist die Intention immer zugleich verhüllt. Nicht umsonst hat gerade Kafka in einigen denkwürdigen Texten ihr eine Stelle eingeräumt wie keine Dichtung zuvor. Er verfuhr mit den Bedeutungen der gesprochenen, meinenden Sprache, als wären es die der Musik, abgebrochene Parabeln; im äußersten Gegensatz zur „musikalischen“, musikalische Wirkungen imitierenden und dem musikalischen Ansatz fremden Sprache Swinburnes etwa oder Rilkes. Musikalisch sein heißt, die aufblitzenden Intentionen zu innervieren, ohne an sie sich zu verlieren, sondern sie zu bändigen. So bildet sich das musikalische Kontinuum.

Damit ist auf Interpretation verwiesen. Musik und Sprache verlangen diese gleichermaßen und ganz verschieden. Sprache interpretieren heißt: Sprache verstehen; Musik interpretieren: Musik machen.

Die unter dem Namen neuer Musik zusammengefaßte Bewegung wäre leicht unter dem Gesichtspunkt der kollektiven Allergie gegen den Primat von Sprachähnlichkeit darzustellen. Freilich folgten gerade ihre radikalsten Formulierungen eher einem Extrem von Sprachähnlichkeit als jenem sprachfeindlichen Impuls. Sie waren vom Subjekt wider das lastend konventionalisierte Eigengewicht des traditionellen Materials gerichtet. Aber heute zeigt sich, daß selbst jene nach herkömmlicher Anschauung subjektivistischen Aspekte der neuen Musik ein zweites Moment in sich haben, das dem Begriff entgegen ist, der den Titel musikalischer Sprachähnlichkeit im neunzehnten Jahrhundert abgibt, dem des Ausdrucks. Man pflegt die Emanzipation der Dissonanz mit dem entfesselten Ausdrucksbedürfnis gleichzusetzen, und die Triftigkeit dieses Zusammenhangs wird von der Entwicklung seit dem Tristan über die Elektra bis zur Schönbergschen „Erwartung“ bestätigt. Gerade in Schönberg jedoch meldet sehr früh schon das Konträre sich an. In einem seiner ersten Werke, der heute allbeliebten ‚‚Verklärten Nacht‘, spielt ein Akkord seine Rolle, der vor sechzig Jahren heftig schockierte. Er ist nach den Regeln der Harmonielehre unerlaubt: der Noneakkord in Dur in einer Umkehrung, welche die None in den Baß legt, so daß der Auflösungston, die Prim zu jener None, über diese zu liegen kommt, während die None doch angeblich als bloßer Vorhalt vor den Grundton gehört wird. Dieser wechselnder Auflösungen fähige Akkord erscheint in der „Verklärten Nacht“ wiederholt, und zwar an entscheidenden Einschnitten der Form, absichtsvoll anorganisch. Er bewirkt Zäsuren im Idiom. Ähnlich verfährt dann Schönberg in derersten Kammersymphonie mitdem berühmt gewordenen, ebenfalls in der traditionellen Harmonielehre nicht verzeichneten Quartenakkord. Er wird zur Leitharmonie und markiert alle wichtigen Einschnitte und Verklammerungen der großen Form. An diesen Klängen ist aber im Zusammenhang gerade nicht ihr Ausdruckswert wesentlich. Expressiv und „sprachähnlich“ ist vielmehr jener Zusammenhang selbst. Solche Beredtheit tendiert zum Fließen, so sehr, daß es dem kritischen Formbewußtsein des Komponisten wie ein widerstandsloses Ineinanderfließen muß geklungen haben. Das musikalische Material der Chromatik enthielt nicht so starke Gegenkräfte der Artikulation, wie plastische Gestaltung, bauende „Logik“ verlangte. In der Tat war im Tristan die Artikulation der Chromatik technisch problematisch geblieben, und Wagner ist dem in seinen späteren Werken nur einigermaßen handfest und restaurativ gerecht geworden, indem er diatonische und chromatische Komplexe abwechseln ließ. Daraus resultierten dann schließlich Brüche wie der zwischen dem wilden Hauptteil der Straußschen ElektraMusik und ihrem dreiklangseligen Schluß. Schönberg verschmähte solche Auskunft. Darum mußte er Kompositionsmittel finden, die übers chromatische Gleiten sich erheben, ohne dahinter ins Undifferenzierte zurückzufallen. Das waren aber jene exterritorialen, noch nicht mit musiksprachlichen Intentionen besetzten Akkorde, eine Art musikalischer Neuschnee, in dem das Subjekt noch keine Spur hinterlassen hatte. Sehr gut hat man einmal das ganz aus Quartenakkorden und deren melodischer Umschreibung komponierte Auflösungsfeld der großen Durchführung der ersten Kammersinfonie einer Gletscherlandschaft verglichen. In den letzten Satz des fis-moll-Quartetts sind die neuen Akkorde buchstäblich als Allegorien eines „anderen Planeten“ eingelassen. Die neue Harmonik entsprang demnach ebensosehr im Element des im emphatischen Sinne Ausdruckslosen, wie in dem des Ausdrucks, im Sprachfeindlichen ebensosehr wie im Sprachlichen, wenngleich dies sprachfeindliche, dem Kontinuum des Idioms fremde Element immer wieder selbst einem Sprachlichen höheren Grades, der Artikulation des Ganzen, diente. Hätte die dissonante Harmonik nicht immer auch das Ausdruckslose gesucht, so wäre ihr Übergang zur Zwölftontechnik kaum möglich gewesen, in der ja gegenüber den konstruktiven die sprachlichen Valeurs zunächst sehr zurücktreten. So tief sind die antithetischen Momente ineinander verflochten.

Der Versuch, die musikalische Sprachähnlichkeit abzuschaffen, wurde in zwei Richtungen unternommen. Die eine war die von Strawinsky. Durch archaisierenden Rückgriff auf musikalische Modelle, die sprachfern-architektonisch dünkten, und durch eine zusätzliche Verfremdung, die, was heute sprachähnlich an ihnen klingt, austreibt, soll von Intentionen gereinigte, pure Musik geraten. Dabei aber kann der intentionslose Charakter durchgehalten werden nur, indem den gesuchten Ursprüngen Gewalt widerfährt. Wo immer in den Modellen die Schwerkraft des musikalischen Idioms zutage tritt, wie in der regelmäßigen Sequenz oder in den Kadenzformen, werden die Modelle aufgezupft und verbogen, damit sie das Beginnen nicht desavouieren. Das reine Sein der Musik wird so selber zur subjektiven Veranstaltung. Die Narben, welche diese hinterläßt, führen Ausdruck mit sich, Fermente eines Idioms aus bejahter und wiederum negierter Konvention.
Das parodische Element, und damit ein eminent Mimisches, durchaus Sprachähnliches ist solcher musikalischen Sprachfeindschaft unabdingbar. Auf der Spitze der eigenen Paradoxie, auf der sie einmal die erstaunlichsten equilibristischen Akte exekutierte, konnte sie sich nicht halten. Sie hat sich zum blanken Historismus gemäßigt und ist in ihrer Rezeption durchs breitere musikalische Bewußtsein zur frömmelnden Pseudomorphose, zur unbestätigten Gebärde des Bestätigten herabgesunken. Die Unterschiebung parodischer Negation als absolute, vom Überbau des Subjekts befreite Positivität endet in bloßer Ideologie.

In ihrer zweiten, späteren Gestalt möchte die Rebellion gegen die Sprachähnlichkeit von Musik nicht weniger als aus der Geschichte überhaupt herausspringen. Man kann die Wut gegen das musiksprachliche Element schwer überschätzen: Gefangene rütteln da an den Stäben ihres Gefängnisses, oder Verstummende werden zum Wahnsinn getrieben vom Gedächtnis an die Rede. Die untilgbar sprachähnlichen Züge der Musik werden als das der Musik Fremde, als bloße Ablenkung von ihrer immanenten Logik verfemt, wie wenn sie unmittelbar ihre Perversion zum Zeichensystem wären. In den heroischen Zeiten der neuen Musik hat die Vehemenz der Ausbruchsversuche — vergleichbar der Neigung der früheren radikalen Malerei, Materialien in sich hineinzuziehen, die aller subjektiven Beseelung spotten, dem Urphänomen der Montage — sich als anarchischer Aufstand gegen musikalische Sinnzusammenhänge überhaupt deklariert, etwa in den Eruptionen des jungen Krenek um die Zeit von dessen zweiter Sinfonie. Während dieser Gestus sich später bei ihm nur noch in gewissen latenten Zügen eines gegen den Strich Komponierens manifestiert, haben junge Komponisten, ausgehend von Erfahrungen mit der Zwölftontechnik, nach dem zweiten Krieg gerade jene Absicht heraufbeschworen und systematisiert. Aus der bereits in der „Philosophie der neuen Musik“ angemeldeten Beobachtung, daß bei Schönberg die eigentlich musiksprachlichen Elemente, als solche des musikalischen Zusammenhangs, wesentlich die überlieferten bleiben und insofern zu den Veränderungen des Materials in einen gewissen Widerspruch treten, wird nun die Konsequenz der tabula rasa gezogen. Sie möchten das musiksprachliche Element, den subjektiv vermittelten musikalischen Zusammenhang überhaupt liquidieren und Tonverhältnisse schaffen, zwischen denen ausschließlich noch objektive, nämlich mathematische Verhältnisse walten. Die Rücksicht auf einen irgend nachzuvollziehenden musikalischen Sinn, ja auf die Möglichkeit musikalischer Imagination überhaupt, entfällt. Der Rest soll das kosmisch übermenschliche Wesen der Musik sein. Der Kompositionsprozeß selber wird schließlich physikalisiert: Diagramme ersetzen die Noten, Gleichungen elektrischer Tonerzeugung den Akt des Komponierens, der am Ende selber als subjektive Willkür erscheint.

Musik leidet an der Sprachähnlichkeit und kann ihr nicht entrinnen. Darum darf sie bei der abstrakten Negation der Sprachähnlichkeit nicht stehen bleiben. Daß Musik, als Sprache, äfft; daß sie kraft ihrer Sprachähnlichkeit immerzu ein Rätsel aufgibt, auf das sie doch als die nicht meinende Sprache nie antwortet, darf nicht dazu verführen, jenes Moment als bloßen Trug wegzuwischen. Sie teilt mit aller Kunst den Rätselcharakter, etwas zu sagen, das man versteht und doch nicht versteht. Bei keiner Kunst läßt sich festnageln, was sie sagt, und dennoch sagt sie. Das bloße Ungenügen daran aber wird lediglich das Prinzip von Kunst antasten, ohne sie damit in ein Anderes, die diskursive Erkenntnis etwa, zu retten. Während der Kunst die Idee scheinloser Wahrheit unabdingbar bleibt, steht es doch nicht bei ihr, aus dem Schein herauszutreten. Sie kommt der Idee des Scheinlosen näher durch die Vollendung ihres Scheins hindurch als durch dessen eigenmächtig-ohnmächtige Suspension. Musik entfernt sich von der Sprache, indem sie deren eigene Kraft absorbiert.

Dr. Adorno, Musikwissenschaftler, Professor an der Goethe-Universität Frankfurt und Autor mehrerer bei Suhrkamp erschienener Essaybände („Prismen“, „Minima moralia“), hielt im vergangenen Frühjahr in Wien einen Vortrag über „Musik und Sprache“, der demnächst im „Jahresring 56/57 (Ein Querschnitt durch die deutsche Literatur und Kunst der Gegenwart)“ erscheinen wird. Mit dem Einverständnis der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart bringen wir hier einige Exzerpte zum Vorabdruck.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)