Grundrisse, Nummer 50
Mai
2014

Nichts geht mehr

Zum Propagandadebakel der Mainstream Medien im Falle der Ukraine

Dieser kleine Artikel hat bloß den Anspruch, das bemerkenswerte Debakel der Mainstream Medien rund um die Geschehnisse in der Ukraine zu dokumentieren. Ein Debakel, das in dieser Form und in diesem Ausmaß nicht zu erwarten war. Ich beginne mit einem kurzen Rückblick auf die Ereignisse.

Nachdem der regulär gewählte und als kompetenter Verhandlungspartner akzeptierte Staatspräsident Wiktor Janukowytsch (auch Viktor Janukowitsch geschrieben) das geplante Abkommen mit der EU im November 2013 platzen ließ, erhöhte sich der Druck im Wochentakt. Einerseits nahmen die Proteste in Kiew qualitativ und quantitativ an Stärke zu, zugleich agierten VertreterInnen der USA und der EU, nicht zuletzt die deutsche Diplomatie, immer fordernder und drohender. Der Ausdruck Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates ist fast Understatement; arrogant und aggressiv sollte der Regierung in Kiew diktiert werden, was sie zu tun und zu lassen hätte. Zu den Forderungen zählte auch die sofortige und bedingungslose Freilassung der ehemaligen Staatspräsidentin Julija Tymoschenko (andere Schreibweise: Julia Timoschenko). Dem doppelten Druck der EU einerseits und dem immer militanteren Straßenprotesten hielt das Regime nicht stand, am 22. Februar flüchtete Wiktor Janukowytsch. Schon vorher konnte kaum kaschiert werden, dass der Einfluss rechtsradikaler, ja faschistoider Kräfte Woche um Woche zunahm. Dieser Einfluss steigerte sich nach dem Sturz von Janukowytsch offenbar noch, da diese Organisationen Positionen der Staatsmacht erringen konnten und nicht zuletzt die gewählten ParlamentarierInnen nach ihren Gutdünken drangsalierten. Ohne durch parlamentarische Wahlen oder Abstimmungen legitimiert zu sein, zog die an die Macht gespülte Regierung eine Reihe von Gesetzen durch, wie die de facto Legitimierung bewaffneter Banden und die Verwässerung des Sprachengesetzes von 2012, das der russisch sprechenden Minderheit bestimmte Rechte sicherte. Am 21. März 2014 wurde das Kooperationsabkommen mit der EU unterzeichnet. So ganz reibungslos erfolgte die Integration der Ukraine in die ökonomische und militärische Vorherrschaft der EU und der NATO doch nicht, in einem Referendum am 16. März stimmte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim für die Löslösung von der Ukraine und den Anschluss an Russland. Die schwache und zweifellos in sich gespaltene neue Regierung in Kiew konnte dem nichts entgegensetzen. Die Forderung von Tymoschenko, die NATO sollte militärisch eingreifen, verhallte ohne Reaktion. Im Osten des Landes nahm der Widerstand der pro russisch orientierten Bevölkerung zu, wobei diese ähnliche Methoden anwandten, wie zuvor die Oppositionen, also Plätze und offizielle Gebäude besetzte. Russland wurde aktive Teilnahme an den Protesten, ja deren Organisation unterstellt. Die martialischen Rufe nach Krieg gegen Russland des vorläufigen Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk, sind zum Glück unerhört verhallt. Dazu dürfte die Niederlage an der (Des)Informationsfront auch ein winziges Scherflein beigetragen haben. So weit in aller Kürze die allgemein bekannten Eckdaten der Entwicklung der letzten Monate.

Was mich geradezu verblüffte war das erstaunliche oder vielleicht doch nicht so ganz erstaunliche Propagandadebakel der Mainstream Medien, wobei ich mich auf die Situation in Österreich und Deutschland beziehe; es wäre spannend zu wissen, wie sich die Situation in anderen Ländern, insbesondere in den angrenzenden osteuropäischen Staaten, darstellt. Hierzulande war das Schauspiel wahrlich beeindruckend. Mit Verve wurde ein Szenario entworfen, in dem auf der einen Seite der korrupte und autoritäre Oligarch Janukowytsch offenbar mit dem autoritären Herrscher Putin im Bunde, positioniert wurde. Auf der anderen fanden wir das nach Demokratie und Freiheit strebende, aufopfernd kämpfende Volk. Julija Tymoschenko fungierte dabei als Märtyrerin und Mahnmal zugleich. Dass die offiziöse Presse schon längst im Gleichschritt agiert ist nichts neues, aber im Falle der Ukraine war der Gleichklang besonders beeindruckend. Wenn ich mich nun auf die österreichische Zeitung Der Standard beziehe, so kann deren Agitation als exemplarisch verbucht werden. Der Standard ist das neoliberale Sprachrohr hierzulande. Bei Fragen die Drogen, Migration oder dem Gebaren der österreichischen Justiz schreibt dieses Blatt in einem guten Sinne liberal, also gegen die hysterische Dämonisierung von Cannabis, gegen plumpen Alltagsrassismus (solange sich die Betroffenen nicht all zu sehr wehren), gegen krasse Fehlurteile bei Gericht. Geht es aber ans Eingemachte, so ist die Marschrichtung klar: pro neoliberal umgeformten Kapitalismus. So auch im Falle der Proteste in Kiew. Alle Register wurden gezogen. Da durften Experten diverser Think Thanks nachdenkliche Analysen über die obsolete, historisch zum Scheitern verurteilten Perspektive der damaligen Regierung vorlegen, ukrainische KünstlerInnen und Intellektuelle schrieben herzergreifende Pamphlete mit dem Tenor: „Wir verteidigen eure Werte“. AktivistInnen vor Ort geißelten die offenbare Gleichgültigkeit der Menschen hierzulande gegenüber den blutenden FreiheitskämpferInnen. Je mehr der Charakter der hegemonialen Kräfte auf dem Maidan klar wurde, desto mehr legte sich Der Standard ins Zeug. Ein Vertreter der jüdischen Gemeinschaft in Kiew durfte erklären, so schlimm sei das mit den rechtsradikalen Kräften auch wieder nicht, diese habe die Zivilgesellschaft durchaus im Griff. Eine Studentin aus der Ukraine, die sich offenbar ein Studium in Salzburg, einer der teuersten Städte Österreichs leisten kann, beschwor erneut die Kluft zwischen Freiheit und Despotie. [1] Der Gipfel der Peinlichkeit war ein Interview mit SchülerInnen einer deutschsprachigen Schule in Lemberg, satte 450 km von Kiew entfernt. „Hier in Lemberg wollen alle zur EU — und wir wollen Janukowitsch im Gefängnis sehen!“ lässt Der Standard eine 15jährige Schülerin ins Mikrofon plaudern. [2] Selbst nachdem offenbar dem Dümmsten klar werden musste, dass der Propagandakrieg verloren war, legte Der Standard nach. Nun war es die Kunst, die retten sollte. „Binnen fünf Wochen gelang es, eine Ausstellung mit der künstlerischen Produktion rund um die Maidan-Proteste in Kiew zu füllen.“, [3] jubelte am 14. April Michael Freund.

In den Kommentar- und Postingspalten jedoch wehte den SchreiberInnen jedoch ein kalter Wind ins Gesicht. Das ist keineswegs der Normalfall. Bei vielen Fragen ist die neoliberale Hegemonie (nicht nur) in dieser Zeitung ungebrochen. Plädiert etwa ein selbsternannter Experte regelmäßig für die Anhebung des Rentenantrittsalters, so ist ihm mehrheitlicher Applaus gewiss. Im vorliegenden Falle jedoch kamen die Argumente nicht durch. Auf „Wir verteidigen eure Werte“ wurde höhnisch geantwortet, ja ja, diese Werte kennen wir schon, sozialer Kahlschlag und maximaler Profit. Auf Freiheit für Tymoschenko wurde mit der Frage nach den Quellen ihres erstaunlichen Reichtums geantwortet. Die Jubelberichte über die aufopfernde Opposition wurden mit Bildern und Videos faschistoider Banden konterkariert. Dem Gezeter über die angebliche Illegalität der Abstimmung auf der Krim wurde die Illegalität der Regierung in Kiew entgegengehalten und so nebenbei auf das Kosovo verwiesen, für das offenbar ganz andere Kriterien gelten würden, als für die Krim.

Nachdem die Existenz und der Einfluss rechter und faschistoider Banden nicht mehr zu leugnen war, vollzogen die Mainstream Medien einen bemerkenswerten Schwenk. Deren Aktivitäten waren ja nicht mehr zu kaschieren, ganz offen prügelten Abgeordnete der ultrarechten Opposition vor laufenden Kameras im ukrainischen Parlament auf einen unliebsamen Konkurrenten ein, die Aufstellung einer Nationalgarde, aus Freiwilligen und sogenannten Maidan Selbstverteidigungsgruppen spricht ebenfalls eine eindeutige Sprache. In einem vom russischen Geheimdienst abgehörten und auf Youtube veröffentlichten Telefonat von Tymoschenko mit Nestor Schufritsch, einem ukrainischen Abgeordneten, stößt sie mehrere martialische Drohungen gegen ihre Gegner aus, die, wenn ich das mit etwas Süffisanz sagen darf, sie nicht gerade als bedächtige und auf Ausgleich bedachte Politikerin porträtiert. Auch mit der Krim war kaum noch Stimmung zu machen. Dass der Ausgang der Abstimmung der tatsächlichen Meinung der überwiegenden Mehrheit entsprach, konnte nicht bestritten werden. Zwar wurden Parallelen mit der Deportierung der Krim Tataren durch Stalin 1944 suggeriert, aber selbst fanatische KampfschreiberInnen verwarfen die Prognose, dieses würde sich nun aufgrund des Beitritts der Krim zu Russland 70 Jahre später wiederholen. Wohl wurde der eine oder andere 80jährige traumatisierte Krim-Tatare vor die Kamera gezerrt, aber so richtig glaubt doch niemand an einen neuen Genozid. Nun kam der Schwenk zu Putin und seiner psychischen Verfasstheit. Im wunderbaren Song Weil ma so fad is ..., gesungen von Helmut Qualtinger, gibt es die Strophe: „Und dann später wors wiera Kommando: Jeder schalnt se wie Marlon Brando“. An diese Liedzeile musste ich angesichts des verblüffenden Gleichklangs des Schwenks in den Medien denken. An die Stelle von Marlon Brando trat die Psyche des Herrschers im Kreml und seine finsteren Expansionspläne. Die Ukraine und die dortigen Verhältnisse traten aus den Augen, aus dem Sinn. Nun wurde über diese ernst blickende Figur spekuliert, analysiert und psychologisiert was das Zeug hielt. Nun hießt es: Stoppt Putin, stoppt Russland. Dass primär auf den Umsturz in der Ukraine und die ökonomischen und vor allem militärischen Folgen reagiert hat – zuvor agierte Russland in den üblichen diplomatischen Bahnen und Gepflogenheiten – dieses Faktum wurde schlichtweg verleugnet. Indem nun Russland im Fokus stand, wurde aus einem betroffenen und herausgeforderten Staat der Aggressor und Drahtzieher. Der Schwenk von der Unterstützung einer vorgeblich demokratischen und freiheitsliebenden Bewegung zum Bedrohungszenario sollte retten, was noch zu retten war, so nach dem Motto, wenn uns schon niemand mehr den emanzipatorischen Charakter der Maidan Bewegung abkauft, präsentieren wir unserem Publikum wenigstens ein runderneuertes Feindbild.

Warum dieses Debakel?

Falls meiner Auffassung zugestimmt wird stellt sich die Frage nach dem Warum. [4] Ich stelle einige Überlegungen zu Diskussion, die dieses Phänomen erklären könnten. Einen Hintergrund finden wir in der offensichtlichen Nichtmobilisierbarkeit der Menschen für solche Fragen. Was meine ich damit? Der steigende gesellschaftliche Druck auf die alltäglichen Lebensbedingungen lässt die Frage, wer denn nun in Kiew tatsächlich die Regierung stellt angesichts des verschärften Kampfes ums Dasein verblassen. Es ist tatsächlich ein Moment der Einsicht, wenn auch oftmals nicht bewusst formuliert, dass es kaum einen Unterschied für die Situation im Job, in der Ausbildung, für die Lebensperspektive im allgemeinen und den vielen Problemen und Sorgen im besonderen macht, ob nun die Janukowytsch, Tymoschenko oder sonst wer das Zepter in Kiew schwingt. Letztlich ging und geht es bloß um die Auswechslung von Eliten und Oligarchien, die kaum Auswirkungen auf die reale Lebenssituation der Massen hat. Was selbst für die Ukraine nur für eine schmale Schicht von Profiteuren Bedeutung hat, wird jenseits der Grenzen der Ukraine zur Fußnote. Nicht zu Unrecht wird bürgerliche Politik als eine dem Alltag entrückte Sphäre wahrgenommen. Insbesondere jene, die unter Erwerbarbeitslosigkeit, Hartz IV Gesetzen oder miesen Verhältnissen am Arbeitsplatz leiden, nehmen an Parlamentswahlen kaum mehr teil und erleben Politik als Spektakel, analog zu Olympiaden oder Weltmeisterschaften. Ein Teil der Linken beklagt dies als fehlendes Bewusstsein, ein anderer feiert dies als ersten Schritt in Richtung einer substanziellen Kritik an Parlamentarismus und Politik als bürgerliches Schauspiel. Lassen wir erstmals beide Ansichten auf sich beruhen. Fakt scheint jedenfalls zu sein, dass die Formen der kapitalistischen Verhältnisse mehrheitlich als selbstverständlich und unhintergehbar akzeptiert werden, die Mobilisierung pro oder contra spezifischer Inhalte jedoch ein Minderheitenprogramm darstellt. Klarerweise gibt es die Engagierten, aber das alltägliche Alltagsleben, wenn ich diesen Pleonasmus verwenden darf, wird vom aktiven politischen Engagement kaum durchdrungen.

Einen weiteren Mosaikstein meine ich im Charakter des Putin Regimes zu erkennen. Während zur Zeiten des Kalten Krieges die Sowjetunion sowohl ihrem eigenen Selbstverständnis nach als auch in den Fremdzuschreibungen als sozialistisch oder gar kommunistisch tituliert wurde, stellt Russland heute einfach ein weiteres autoritär geführtes kapitalistisches Land dar, so wie viele andere auch. Wohl wurde seinerzeit von großen Teilen der Linken mit guten Gründen der emanzipatorische oder gar kommunistische Charakter der Sowjetunion bestritten, aber so ganz konnte man der Geiselhaft nicht entkommen. Wer nur irgendwie links denkt, musste sich quasi mit diesem Regime identifizieren. Dementis gegen diese Zuschreibung drangen nur schwer durch. Die demagogische Alternative Freiheit oder Sozialismus war durchaus diskursbildend. Aber gegenwärtig? Putin steht für keine gesellschaftliche und politische Alternative. Daher zeigt auch die Propagandadrohung, wer nicht für die inzwischen siegreiche Opposition ist, sei auf der Seite der russischen Staatsführung, so wenig Wirkung. Seinerzeit besaß das „geh doch rüber“ einen kleinen aber doch plausiblen Kern, immerhin war die Sowjetunion aus der Russischen Revolution entstanden. Aber heute steht Russland, im Gegensatz zu China, nicht einmal für einen kapitalistischen Sonderweg. Was konnte also dem skeptischen Publikum, welches die Propaganda der Mainstream Medien mit Kritik, Spott und Hohn quittierte, unterstellt werden? Dass Russland, sein Wodka oder die Weiten Sibiriens so geliebt werden? Dass man heimlich Sympathien für autoritäres aber entschlossenes Durchgreifen empfindet? Dass Kritik am Putsch in der Ukraine und den Strategien der EU und der USA keineswegs besondere Sympathien für das Regime in Russland impliziert, wurde als Denkunmöglichkeit gehandelt. Putinversteher seien sie alle, phantasierte die Mainstream Presse und nahm damit dem spöttelnden Publikum die Maske vom Gesicht. Erneut war es Der Standard, der zu einem rhetorischen Mittel griff, das jeder ernsthaften Debatte unwürdig ist: der Drohung mit der ungewollten Einheitsfront mit dem Bösen. Auch Marine Le Pen würde das Vorgehen des Westens kritisieren und Lob für Putin spenden. [5] Komisch, so richtig gruselte es niemandem ob dieser entlarvten Wahlverwandtschaft mit der Front National. Zweifellos wurde auch aus rechten und rechtspopulistischen Motiven gegen die Darstellungen in den Mainstream Medien opponiert, schließlich geht es ja um den Einfluss der EU und den USA in diesem Raum. Aber das Misstrauen durchgehend als rechts motiviert darzustellen ist schlichtweg demagogisch und unkorrekt. Für ganz entscheidend halte ich das Faktum, dass sich niemand mehr für dumm verkaufen lassen möchte. Medien zu misstrauen ist nicht per se links oder rechts, es ist einfach dem Bedürfnis nach halbwegs korrekter Information geschuldet. Sehr interessant und bezeichnend ist der Umstand, dass nun viele Interessierte beginnen, selbst zu recherchieren. Dank der Informationsmöglichkeiten die das Internet bietet, wurde zum Beispiel die Rede von den gefangenen OSZE Mitarbeitern als Falschmeldung entlarvt. Bei den inzwischen freigelassenen Geißeln in der Ostukraine handelt es sich nachweislich nicht um Personen, eine offizielle Mission im Auftrage der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Sinne der Friedenssicherung zu erfüllen hatten, sondern um eine „bilaterale Mission unter Führung des Zentrums für Verifikationsaufgaben der deutschen Bundeswehr“, [6] wie es offiziell dann hieß. Das hinderte Den Standard nicht daran trotz der nachgewiesenen Unrichtigkeit weiterhin „OSZE-Beobachter“ [7] zu schreiben.

Eine weitere, wesentliche Ursache meine ich in der sich öffnenden Kluft zwischen den vollmundigen Begründungen und Argumenten der westlichen Mächte, allen voran der USA, und den tatsächlichen Handlungen und Folgen eben dieser zu erkennen. Ein Beginn dieses Debakels waren zweifellos die nicht auffindbaren Massenvernichtungswaffen Saddam Hussein. Was als Befreiung vom Wiedergänger Hitlers, (so eine seinerzeitige Bezeichnung durch deutsche Boulevardzeitungen), angekündigt wurde, erwies sich nach abertausenden von ermordeten und ums Leben gekommenen Iraker und Irakerinnen als blanke Besetzung; Foltergefängnisse und jede Menge grausamer Willkür von bezahlten Söldnertruppen inklusive. Eine nächste Station war zweifellos Libyen. Ein ölreiches Land, ein unberechenbarer und unkalkulierbarer Herrscher von Altersstarrsinn und politischem Abenteurertum gebeutelt; ausgezeichnete Gründe für die wesentlichen Mächte dieses Regime zu stürzen. Erneut mit der Begleitmusik von Freiheit und Friede untermalt. Diese neue Freiheit, die nicht zuletzt die Situation der Frau deutlich verschlechterte, entpuppte sich als bewaffnete Rivalität konkurrierender Gruppen just zu jenem Zeitpunkt, zu dem mit sehr vergleichbaren Argumenten die Maidan Bewegung eben jenen Charakter zugesprochen bekam wie zuvor die Opposition im libyschen Bengasi. Ein weiterer Aspekt waren zweifellos die Enthüllungen von Edward Snowden. Dass der war on terror bloß einen Freibrief für halblegales, ja oftmals illegales Durchgreifen insbesondere von us-amerikanischen Institutionen darstellt, war ja nicht unbekannt. Aber dass eine gigantische Organisation Namens NSA systematisch das gesamte Internet, den Telefonverkehr und den sonstigen Datentransfer ausspioniert, inklusive dem Mobiltelefon der deutschen Bundeskanzlerin, das war doch in diesem Ausmaß nicht unbedingt zu erwarten. Dass die USA jahrelang Geheimgefängnisse betrieb in denen mit Duldung und Billigung der höchsten Regierungskreise Folter zum Alltag gehört, erwies sich bloß als erster Stein in einer Kette von Enthüllungen. Solche Gefängnisse gab (?) es unter anderem in Polen, deren derzeitiger Außenminister Radoslaw Sikorski als Kronzeuge für die finsteren Ränke Russlands auftritt. Dass die US Behörden großzügig verkündigten, Edward Snowden würde ihm im Falle seiner Rückkehr in die USA keine Todesstrafe drohen, zeigt ja an, dass zumindest offen daran gedacht wurde.

Über die Übernahme und die Kopie linker Aktionsmethoden

Diese Niederlage an der Propagandafront kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es erstmals nach 1945 auf europäischem Boden erfolgreich gelang, eine gewählte Regierung zu stürzen, deren Legitimation dem üblichen westlich parlamentarischen Standard entsprach. Und zwar keineswegs bloß mit den bekannten CIA Methoden, wie sie etwa 1973 in Chile zum Einsatz kamen, sondern auch mit kopierten Methoden des linken Widerstandes. Demonstrationen und Platzbesetzungen, ein primär friedlicher Widerstand der sich auf die Kraft von Argumenten und Enthüllungen stützt und nicht zuletzt die Pluralität innerhalb der Bewegung als positiv einschätzt – solche Vorgehensweisen wurden von der Linken in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder praktiziert. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Buch von Gene Sharp, Von der Diktatur zu Demokratie. Ein Leitfaden für die Befreiung. Penibel werden in zehn Kapiteln alle Möglichkeiten und taktischen Schritte für den Sturz von Regime durchbesprochen, wobei sich der Autor auf seine Erfahrungen in der sogenannten Demokratiebewegung in Myanmar [8] stützt. Soziale und ökonomische Verhältnisse existieren in diesem Buch nicht, von einer selbst noch so zart angedeuteten Kapitalismuskritik ist nicht einmal in den Fußnoten die Rede. Dass eine nach Demokratie strebende Bewegung auch soziale und ökonomische Forderungen beinhalten müsse, existiert in der Welt des Herrn Sharp nicht. Ganz klar, diese Schrift kann auch probat in den links regierten Ländern Lateinamerikas eingesetzt werden. Der politizistische Formalismus dieser Schrift ermöglicht dies problemlos. Worauf will ich mit der Erwähnung dieses Buches hinaus? Zumindest zu Beginn der Proteste gegen die Regierung Janukowytsch erinnerte die Form der Agitation zweifellos an linke Strategien. Die Linke hatte sich, soweit ich informiert bin, nie vollständig und schon gar nicht blindlings mit der Maidan Bewegung identifiziert. Sie hat stets die Frage gestellt, welche Kräfte denn dort tatsächlich am Werk waren. Aber so mache meinten doch einen vertrauten Stallgeruch zu schnuppern. Nämlich den Stallgeruch eines linken Protestes, wobei die Form, eben das Verweilen im öffentlichen Raum das entscheidende Signal darstellte. [9] Niemand kann eine Bewegung herbeizaubern, auch nicht mit bedeutenden Geldsummen. Aber im Falle der Ukraine ist es offensichtlich, dass die westlichen Mächte, allen voran die USA und Deutschalnd, massiv Einfluss über zivilgesellschaftliche Kanäle ausübte. Den herrschenden Mächten stehen dabei eine ganze Reihe von Institutionen und Vereinigen zur Verfügung. Die Ereignisse in der Ukraine zeigen, dass die herrschenden Klassen auch auf ihr zivilgesellschaftliches Klavier vertrauen. Und dies besitzt viele Tasten. Zu nennen wären vor allem die diversen Think Thanks und die NGOs. Ein Akkord erklingt mittels respektabler Institutionen, die mit Expertise, Beziehungen, Geld und Schulungen zivilgesellschaftliche Kräfte formen und prägen. Etwa Human Rights Watch. Das ist kein Zusammenschluss von Personen, die sich in ihrer Freizeit für Menschenrechte engagieren, sondern ein millionenschweres Unternehmen. 400 hauptamtliche MitarbeiterInnen werden beschäftig. „Im Geschäftsjahr 2012 verfügte Human Rights Watch über ein Budget von 59 Millionen US-Dollar.“ [10] Oder erwähnen wir das Peterson Institute for International Economics, einen neoliberalen Think Thank mit Sitz in den USA, das mit einem Jahresbudget von „11 million $“ [11] auch nicht gerade am Hungertuche nagt. Auch im kleinen Österreich dürfen wir uns über eine intellektuelle antilinke Produktionsstätte freuen. Sie nennt sich Institut für die Wissenschaften vom Menschen und wurde vom polischen Philosophen Krzysztof Michalski mit Hilfe von Geldern des Vatikans 1982, so wurde das kolportiert, gegründet. „Jedes Jahr vergibt das IWM rund fünfzig Fellowships an Wissenschaftler, Journalisten und Übersetzer, die am Institut an ihren Projekten arbeiten.“, [12] lesen wir auf ihrer Webseite. Der Verfasser dieser Zeilen hat sich um ein derartiges Stipendium noch nicht beworben, die Aussichten auf Zuerkennung dürfen bescheiden sein. Wir könnten noch eine ganze Reihe derartiger Institutionen nennen, zumindest die Bertelmann Stiftung sollte erwähnt werden. Diese Institutionen agieren nun keineswegs plump oder all zu einseitig. Ein gewisses Ausmaß an Pluralismus der Auffassungen und Sichtweisen zählt ebenso zum Funktionieren wie Aktivitäten, die in Einzelfall durchaus mit Sympathie betrachtet werden können. Auch auf ein bestimmtes Niveau der Analysen wird geachtet. Für billige Propaganda sind andere Strukturen zuständig. Aber unter dem Strich ist die Ausrichtung klar: ideelle und theoretische Affirmation kapitalistischer Verhältnisse, ideologische Vorbereitung zu konservativen und antirevolutionären Aktivitäten, Parteilichkeit für die westliche politische und ökonomische Orientierung.

Auf diesem Klavier finden wir weiters die mit diesen Think Thanks verzahnten diversen NGOs (Nichtregierungsorganisation), wobei das nicht in der Regel die große Lebenslüge dieser Organisationen darstellt, denn viele sind über tausend Fäden durchaus direkt oder indirekt mit staatlichen Stellen, oder mit solchen, die im Auftrag von Staaten arbeiten, verbunden. In welchem Ausmaß und wohin nun Gelder dieser Institutionen in die Taschen der ukrainischen Zivilgesellschaft geflossen sind, ist offenbar schwer nachzuvollziehen, aber dass sie geflossen sind, ist unbestreitbar. Und da es sich bei diesen Institutionen oftmals um private Stiftungen und Institute handelt, sind diese weder der Öffentlichkeit noch parlamentarisch legitimierten Kontrollstellen irgendeine Rechenschaft schuldig.

Trotz alledem: der Neoliberalismus auf Kurs

Das Propagandadebakel der Mainstream Medien gibt Anlass zu Optimismus. Die politisch interessierte Bevölkerung konnte mehrheitlich weder auf einen kriegslüsternen Kurs gegen Russland eingeschworen werden, noch unterstützt sie blindlings Sanktionen, die setzt mit einseitigen Schuldzuweisungen legitimiert werden. Wirklich beeindruckt sind die herrschenden Klassen jedoch davon nicht. Da sich führende Kräfte in der EU offenbar auf kein militärisches Abenteuer einlassen wollen, bündelt sich die Kritik an der offiziösen Berichterstattung auch nicht in eine unmittelbare politische Handlungsperspektive. Aber immerhin dürfe das allgemeine Misstrauen gegenüber den Mainstream Medien gewachsen sein, und das ist immerhin auch etwas.

[1Das Durchschnittseinkommen in der Ukraine schwankt in etwa zwischen 250 Euro Monatslohn im Westen und 500 Euro im stärker industrialisierten Osten der Ukraine.

[4Ich vertrete die Auffassung, dass komplexe und auch widersprüchliche Stimmungen in (Teilen der) Bevölkerung keinesfalls mit dem Instrumentarium von Meinungsumfragen zureichend erfasst werden können. Dass dieses Instrumentarium kein taugliches Mittel wissenschaftlicher Erkenntnis darstellt, halte ich nach jahrzehntelanger Erfahrung mit diesen Instrumentarien für evident.

[5http://derstandard.at/1397521095713/Putins-magnetische-Anziehungskraft. Gerhard Schröder, Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer wurden objektive WeggefährtInnen genannt.

[8Diese sogenannte Demokratiebewegung musste als unmittelbares Interventionswerkzeug westlich-kapitalistischer Interessen eingeschätzt werden. Dafür garantierte insbesondere Aung San Suu Kyi, die als Nobelpreisträgerin in den Medien landauf, landab gefeiert wurde. Ein Blick auf die Hintergründe klärt einiges. Dass im Falle Myanmar eine Frau an der Spitze einer Oppositionsbewegung stand, darf keinesfalls mit feministischem Emanzipationsbestreben verwechselt werden. Sowohl in Opposition als auch an der Spitze der Regierung finden wir in Pakistan, Indien, Sri Lanka und Bangladesh immer wieder Frauen. Der Grund ist einfach. In diesem Raum beanspruche Clans die politische Herrschaft, der wohl bekannteste Familienclan sind die Gandhis in Indien. Wenn nun kein Mann diesen Clan vertreten kann, tritt einen Frau an deren Spitze. Auch im Falle Aung San Suu Kyi war das so. Ihr Vater, ursprünglich im China Maos politisch ausgebildet, spielte in Kampf um die Unabhängigkeit Myanmar eine ganz bedeutende Rolle. Über diese Erbmentalität werden wir in den hiesigen Medien nichts lesen, es sei denn, es handelt sich um Nordkorea.

[9Inwieweit manche linke Strömungen sich von der Form derart blenden ließ, dass sie am Kampf um Hegemonie innerhalb der Bewegung festhielt, obwohl diese schon längt zugunsten ultrarechter Kreise verloren war, ist eine Frage, die im Detail zu diskutieren wäre.

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