Heft 7/2002
Dezember
2002
Österreich? Frankreich!

Paradoxe Biographien

Wirre politische Seitenwechsel im Frankreich der 30er Jahre

KritikerInnen werden meinen, die Redaktion von Context XXI sei eigenartigst nostalgisch, da in jeder Nummer ein, zwei Beiträge vorzufinden sind, die inhaltlich die 30er Jahre behandeln. Das Bedürfnis über diese Zeit zu reflektieren, kommt jedoch daher, dass die 30er Jahre das Jahrzehnt vor der großen Vernichtung sind, als Menschen dazu übergingen ihr Wissen, ihre Technik, ihre Gesellschaft dafür einzusetzen, um aus dem Massenmorden eine vollstreckbare Alltäglichkeit zu machen – das Bedürfnis ist das alles zu verstehen. Auch zu verstehen, wieso Leute, die damals angetreten waren, diese Vernichtungsmaschinerie zu verhindern, sich schlussendlich als Betreiber von dieser wiederfanden.

Seitenwechsel

Mary Kreutzer hat in ihrer Rezension des Buches Faschistische Ideologie. Eine Einführung von Zeev Sternhell in der letzten Ausgabe von Context XXI zentrale Gründe genannt, wie und wieso Linke ihren Beitrag zum Faschismus liefern konnten. Aufgezählt wurde eine verkürzte Kapitalismuskritik, der daraus resultierende Antisemitismus, männliche Militanzverherrlichung und ein antimaterialistisch ausgelegter Marxismus, hinzufügen würde ich den Wunsch auf effektive Weise die bürgerliche Gesellschaft zu stürzen, den Wunsch nach vereinfachendem, autoritärem Totalitarismus und den Wunsch nach Macht. Doch oft ist es viel schwieriger, den Werdegang von, solche Entwicklungen prägenden, paradoxen Biographien nachzuvollziehen. Die Seitenwechsel von Links nach Rechts in den 30er Jahren waren in ihrer Konsequenz vor allem für viele Mitmenschen verheerend und mörderisch und berühren meines Erachtens, wegen ihrer Beispielhaftigkeit, die Wurzel eines jeden Seitenwechsels, den ein Mensch vollziehen kann und welcher weit über Opportunismus, Anpassung und Parteibuchwechsel hinausgeht.

Wir befinden uns demnach in den 30er Jahren, in Frankreich genau genommen, wo nach Aussagen von HistorikerInnen oder PolitologInnen der Nachkriegszeit, wie Raymon Aron, Jean-François Sirinelli und Michel Winock, viele PolitikerInnen und Intellektuelle nicht mehr wirklich an eine Zukunft der bürgerlichen, parlamentarischen Demokratie glaubten. Diese KritikerInnen sammelten sich in außerparlamentarischen Oppositionen, welche die Form von Massenorganisationen annahmen – außerparlamentarisch deshalb, weil in Frankreich selbst große Gruppierungen wegen des Mehrheitswahlrechts ohne Wahlbündnisse nicht so leicht Abgeordnetensitze ergattern konnten, auch wenn sie es naturgemäß versuchten. Die linke, anfangs revolutionäre und antirepublikanische Massenorganisation, die relativ unterrepräsentiert im Parlament saß, war die Kommunistische Partei. Die Rechtsextremen waren in Massengruppierungen organisiert, die sich aus antisemitischen und monarchistischen Vereinen gebildet hatten, sowie aus diversen Veteranenverbänden. Am 6. Februar 1934 spitzte sich die Lage in Paris schließlich zu, als die Rechtsextremen das Parlament stürmten und die Mittelinksrechts-Regierung stürzen wollten. Die Polizei verhinderte das Unterfangen, es gab viele Tote, über tausend Verletzte. Dass das Verweigern einer Bündnispolitik mit den anderen linken Parteien in Deutschland die Machtergreifung der Nazis erleichtert hatte, leuchtete in Folge nun auch der KPF ein und ab 1935 kam es in Frankreich zum Ende ihres Koalitionsboykotts und zu Bildung einer Volksfront.

Doriot und Bergery

Doch zwischen 1934 und 1935 verging noch ein Jahr, in dem nicht so klar war, wie, was und wann etwas gegen die FaschistInnen geschehen soll und ob es zu einem linken, republikanischen und antifaschistischen Wahlbündnis kommen sollte. Und es ist in dieser Zeit, als manche Biographien paradox zu werden beginnen. Zwischen 1934 und 1935 glich, wegen der vehementen Streitigkeiten unter den Linken, jede Idee von einer Volksfront einer Sünde — und es waren u.a. der Kommunist Jacques Doriot und der Radikale Gaston Bergery, welche für solche sündhaften Ideen zu bezahlen hatten. Doriot, Akteur der ersten paradoxen Biographie, war ein nicht unbedeutender KP-Politiker gewesen, der als Bürgermeister der größten Arbeitervorstadt von Paris und als Abgeordneter, als einer der wenigen KommunistInnen etwas mehr Gestaltungsmöglichkeiten und Einfluss hatte. Wegen seiner Popularität galt er auch als logischer, zukünftiger Parteivorsitzender – doch hätte er da 1934 nicht die Notwendigkeit einer antifaschistischen Volksfront erwähnen dürfen, da diese Meinung gegen die damaligen Richtlinien der Komintern verstieß und somit seinen Parteiausschluss besiegelte. Als nunmehr parteiloser Bürgermeister und Abgeordneter gründete er 1936 seine eigene Partei, der sich vor allem die gesamte Sektion der KP in seinem Wahlbezirk anschloss. Die neue Partei war die PPF (Parti populaire français – Französische Volkspartei), die sich als sozialistisch, antikommunistisch, nationalistisch und antiliberal bezeichnete, ganz im Sinne George Sorels, der gemeint hat, dass sich der Sozialismus nur durch ein Nationalbewusstsein verwirklichen kann. Es gab bald Uniformen und ein plebiszitärer, starker Staat mit einer starken Führung wurde gepredigt. (Sirinelli, 1993, S.149). Die PPF zeichnete sich auch durch einen virulenten Antiintellektualismus aus, wenngleich der Antisemitismus in den ersten Jahren noch etwas ausgespart wurde, genauso wie Doriot sich in der ersten Zeit weigerte, ganz zum Frust einiger MitstreiterInnen, seine Partei als eine faschistische zu bezeichnen.

Die bald rund 100.000 Mitglieder starke Partei (zur gleichen Zeit hatte die KPF knapp dreimal so viele Mitglieder), alle militärisch organisiert, nach dem Modell der italienischen Schwarzhemden, wurde jedoch bald eine treibende Kraft der rechtsextremen Szene und schlussendlich doch noch zu einer der vielen faschistischen Parteien Frankreichs. Die Schlägertrupps Doriots können als französische SA bezeichnet werden und mit ihnen versuchte Doriot nicht nur die Republik zu stürzen, sondern auch eine hegemoniale Position innerhalb des französischen Faschismus zu erreichen. In der PPF fand sich bald ein Sammelsurium von SeitenwechslerInnen wieder, bestehend aus einigen frustrierten KommunistInnen und GewerkschaftsfunktionärInnen, genauso wie, natürlicherweise und mit zunehmenden Maße, massenhaft ehemalige Mitglieder anderer rechtsextremer, meist monarchistischer Parteien. Einige Unternehmer finanzierten Doriots Partei, da durch diese das Abdriften eines nicht unwesentlichen Teiles der Arbeiterschaft (Doriots Wähler — Frauen hatten erst 1945 ein Wahlrecht — blieben die Arbeiter seines Arbeiterbezirks) nach Rechts sich vollzog. Die dadurch etwas zurückhaltendere Kritik am Kapitalismus konnte jedoch schnell durch einen populären Antisemitismus abgelöst werden – und ohne Hass hätte die neue faschistische Partei wohl kaum gedeihen können. Als Trägerin der Kollaborationsregierung von Pétain unterstützte die PPF, auch aktiv die Shoah und am 16. und 17. Juli 1942 beteiligten sich 450 Aktivisten der PPF neben 4.500 französischen Polizisten an der zentralen Aktion der Deportation der JüdInnen in Paris, dem „rafle du Vél’ d’hiv“, bei dem 12.884 Menschen verhaftet und den Nazis ausgeliefert wurden.

Der Philosoph Jules Benda hatte gerade 15 Jahre zuvor vom Verrat der Intellektuellen gesprochen, die, statt aus ihrem autonomen Feld zu agieren, sich lieber in die alltägliche Machtpolitik einzuklinken versuchen und gerade dann von Linken zu Rechten mutieren, so wie ein Maurice Barrès oder ein Sorel es schon um die Jahrhundertwende vorexerziert hatten. Einer dieser “Verräter” war der anfangs anarchistisch angehauchte Schriftsteller Drieu de La Rochelle, der sich ab den 30er Jahren fortan als nationalen Sozialisten bezeichnete und zum Kreuzzug gegen die „Verweiblichung“ und „Verjüdung“ der Gesellschaft aufrief. Es war auch er, der den Antisemitismus in Doriots Partei importiert. Wie Régis Debray einmal ausgedrückt hat, gibt es für bürgerliche Intellektuelle nichts schmeichelhafteres, als ein populistischer Antiintellektualismus und so nannte Drieu Doriot “den guten Sportler”, der sich gegen den “fetten Intellektuellen aus dem letzten Jahrhundert stellt und das kranke Frankreich heilen wird” (Debray, 1980, S.177). Doriot wird als extrem machtgierig beschrieben, seine Machtgier ging sogar so weit, dass er die ganze Vichy-Zeit über daran arbeitete, Pétain zu stürzen, wäre er doch gerne selbst der Führer gewesen, ganz zum Missfallen seiner Förderer: den deutschen Besatzern.

Die zweite paradoxe Biographie ist jene des „jungtürkischen“ Abgeordneten der Radikalen Partei Gaston Bergery – als Jungtürken wurden jene Radikale bezeichnet, die sich für eine linke Regierungskoalition und gegen eine des Zentrums, wie sie in Frankreich bis 1936 vorherrschte, aussprachen. Er sollte bald von einer zentralen Figur des antifaschistischen Kampfes der bürgerlichen Linken zu einer der zentralen Figuren des Faschismus werden. Ihn, den linksliberalen Pazifisten als einen Antiliberalen zu bezeichnen oder ihm irgendeinen Militarismus vorzuwerfen, ist auf den ersten Blick wohl kaum möglich. Trotzdem, seine Referenzen an antimarxistische, antiliberale und antiparlamentarische Gesinnungen, sowie an nationale und ständestaatliche Strukturen, ebenso wie seine Aversion gegenüber Léon Blum, dem Regierungschef der Volksfront, die ihn zu einigen antisemitischen Statements hinreißen ließen, hätten wohl kritische Geister hellhörig werden lassen können. Doch nicht hellhörig genug, da seine 1934 gegründete Gemeinsame Front strukturell der Volksfront als Vorlage diente, wenngleich ohne Beteiligung der KommunistInnen. Neben Politikern diverser linker Parteien wurde Bergery, der nach dem Februarputsch einen viel effektiveren Kampf gegen den Faschismus forderte, auch von den großen humanistischen und antirassistischen NGOs (auch die Vorläuferin der LICRA) seiner Zeit unterstützt und auch sonst von vielen ernstzunehmenden AntifaschistInnen, meist Intellektuellen.

Der Radikale Bergery sollte schlussendlich, genauso wie Doriot ins faschistische Lager wechseln, manche machen es sich einfach und schieben diesen Sinneswandel ebenfalls dem Schriftsteller und langjährigen Freund Bergerys Drieu La Rochelle zu. Meines Erachtens hat zu seinem Positionswechsel am meisten Bergery selbst beigetragen. Im Juni 1940, kurz bevor das französische Restparlament dem Maréchal Pétain alle Vollmacht gewährte, verfasste der Abgeordnete Bergery einen Text, in welchem er für „eine neue: autoritäre, nationale und soziale Ordnung“ eintrat (Sirinelli, 1993, S.181), der von rund 100 Abgeordneten unterstützt wurde. Gleichzeitig wurde Bergery Ghostwriter des neuen Staatschefs. Einer der Unterstützer von Bergery war der Abgeordnete Marcel Déat, ein sozialistischer Dissident – er war wegen seinen Ideen eines sozialistischen Ständesstaates 1934 aus der SFIO ausgeschlossen worden – und Pazifist, von dem 1939 der Spruch “Sterben für Danzig?” stammte. Beide sollen schlussendlich zu den Hardlinern unter den kollaborierenden Politikern werden. Sie gründen 1941 eine faschistische Partei (Rassemblement national populaire — Nationale Volksvereinigung) (Sirinelli, 1993, S.201) und Déat wird 1943 Staatssekretär für Arbeit in Vichy (Sirinelli, 1993, S.215), mit Bergery als rechter Hand. In dieser kurzen Periode an der Macht schaffen sie es, zumindest auf Papier, einige von Sorel abgekupferte Ideen, Richtung nationalen, sozialistischen Ständestaat gehend, zu verwirklichen. 1944 war es dann vorbei mit der Möglichkeit nationale Sozialismen und das damit verbundene Massenmorden in Frankreich zu verwirklichen. Da mensch sich in seinem Leben nicht so viele Seitenwechsel leisten kann (außer vielleicht in Österreich) blieb nur wenigen französischen FaschistInnen die Möglichkeit, als L’Oréal-VertreterInnen in Spanien oder Argentinien ihr Leben neu zu organisieren. Doriot sollte seinen Seitenwechsel nicht überleben, er starb irgendwo, irgendwann 1945 in deutscher Uniform, Drieu ebenfalls nicht, er tat das, von dem er schon sein ganzes literarisches Werk hindurch geschwärmt hatte, beging Selbstmord, Bergery spukte noch bis 1958 in der französischen rechtsextremen Szene herum und Déat starb 1955 in seinem Versteck, einem Kloster in der Nähe von Turin.

Es stellt sich nur die Frage, wieso Doriot und Bergery, die Initiatoren von antifaschistischen Plattformen ab 1933, sich am Ende des gleichen Jahrzehnts als Köpfe des französischen Faschismus wiederfanden? Immerhin haben beide ihre Karriere in ihren ehemaligen Parteien aufgegeben, um 1934 einen effektiveren Kampf gegen den Faschismus zu betreiben. War es der Generationskonflikt, auf den Eugen Weber in Les Droites françaises – Die französischen Rechten (Weber, www.republique-des-lettres.com) hinweist, die Tatsache, dass die Politik von überproportional vielen Greisen bevölkert wurde und die Jungen, Nichtkonformisten woanders, “bei den Roosevelts, Salazaren, Henri de Mans oder den russischen Fünfjahresplänen” nach Lösungen suchten? War es die Abneigung gegenüber der als dekadent empfundenen bürgerlichen Demokratie und Gesellschaft, die AntifaschistInnen zu FaschistInnen mutieren ließ? Der Drang nach Zerstörung der alten Strukturen lässt sich vielleicht bei Doriot nachvollziehen, doch was trieb Bergery dazu, 1939 innerhalb einiger Monate einen totalen politischen Wandel zu vollziehen? Selbstbestätigung, Machtgier, Schizophrenie, die Liste, wieso Linke FaschistInnen wurden, kann sicher noch außerhalb ideologischer Erklärungen verlängert werden, dabei entpuppen sich Sinneswandel häufig nur als Handlungswandel, da von Sinnen gar nicht mehr die Rede sein kann.

Und auch das …

In diesem Zusammenhang sollte vielleicht erwähnt werden, dass paradoxe Biographien auch in die andere Richtung erfolgten. Z.B. setzte 1934 der katholisch-humanistische Philosoph Jules Benda, der sich bis dahin nicht ins politische Tagesgeschehen einmischen wollte, seine Unterschrift unter einen linksextremen antifaschistischen Aufruf, mit der Begründung, dass nach so einem Putschversuch jede Formel wie: „weder links noch rechts“, absurd sei und die von ihm angestrebte humanistische Mystik sehr wohl mit dem linken Humanismus zu vereinbaren ist (Sirinelli, 1990, S.89), dass er sich ganz im Gegenteil über jeden toten Faschisten freue, da der Faschismus eindeutig gegen jede Art von Humanismus gerichtet sei. Im Kampf gegen den Faschismus ging es nicht mehr um ideologische Streitereien, sondern ums Überleben. Und es war der Protest des anfänglichen Franco-Sympathisanten und erzkatholischen und konservativen Schriftstellers François Mauriac gegen die Bombardements von Guernica, der mehr die öffentliche Meinung gegen die spanischen FaschistInnen aufrüttelte, als Picassos Bild bei der Weltausstellung in Paris 1937. Immerhin gab es auch das …

Ein ideologisches Element, auf welches auch Sternhell hinweist, spielt meines Erachtens zusammenfassend doch eine zentrale Rolle bei jeder Art von Seitenwechsel, nämlich ob sich das politische Handeln, beim Versuch eines gesellschaftlichen Umbruchs, auf das Individuum und sein Wohl konzentriert oder aber auf eine abstrakt definierte und schlussendlich mörderische und mordende Gruppe.

  • Debray, Régis. Le scribe. Genèse du politique. Paris : Grasset, 1980.
  • Sirinelli, Jean-François, Robert Vandenbussche, Jean Vavasseur-Desperriers : La France de 1914 à nos jours. Paris: Presses Universitaires de France, 1993.
  • Weber, Eugen. Les Droites françaises. http://www.republique-des-lettres.com/s1/sirinelli.shtml, 7.9.2002, 13h.
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