EuropaKardioGramm, EKG 5-6/1995
Oktober
1995
Sommer-Liebe

Paul und Pauline

Eine Redaktionssitzung irgendwann im Spätsommer, die Wärme war verflogen, die Erinnerungen noch wach, und der Herbst und die Produktion der nächsten Nummer standen vor der Tür. Wir wollten uns einmal in einem anderen Genre erproben und taten dies auch. Das Ergebnis liegt nun vor Ihnen. Wenn Sie, geschätzte LeserInnen, ganz nett zu uns sind, d.h. wenn viele aufmunternde Reaktionen auf diesen Versuch folgen, dann werden wir uns dies zu Herzen nehmen und einen tollen Fortsetzungsroman über Paul und Pauline niederschreiben. Wenn Sie nichts mehr von Paul und Pauline hören, dann sind wir Ihnen auch nicht böse.

Wiener Melange

von Elfi Hufnagl

Sie trafen sich im Caé Engländer. Es war ein Dienstag nachmittag, zu einer Zeit also, zu der man dieses schöne Café noch betreten konnte. Später wäre es einer Strafe für Augen und Ohren gleichgekommen, da dann nur mehr leere Körper, nichtssagend im Ausdruck und der Sprache, die Tür öffneten.

Lange haben sie sich nicht gesehen, haben aber ihre Liebe zueinander, die damals in Ägypten ihre Sinne betäubte, die so kraftvoll war und unendlich schien, aufgehoben. Beim Betreten des Lokals war Paul froh, daß nur eine alte Dame um die siebzig Jahre ihre Pension im Engländer sitzend genoß, zufrieden eine Zeitung las und eine Wiener Melange trank. Er hatte nun noch etwas Zeit, sich zu beruhigen, die Aufregung vergessen zu machen. Als Paulina das Kaffeehaus betrat, fühlte er wie damals diese Mächtigkeit der Liebe. Langsam schritt sie auf ihn zu, wußte nicht, ob sie lächeln oder weinen sollte. Es war zu schön, ihren geliebten Paul wieder sehen zu können. Sie wollte ihn küssen und umarmen, schreckte aber im letzten Augenblick zurück, denn vielleicht durfte sie das nicht mehr. Ihre Vorahnung stellte sich als wahr heraus, denn Paul begrüßte sie nur mit einem knappen, aber freundlichen Hallo. Paul durchfluteten sofort Vorwürfe, warum er Paulina nicht in die Arme genommen und geküßt hatte, denn nichts sehnlicher wünschte er sich. Sie bestellten beim Ober eine Melange, der Pauline von ihren sonntäglichen Nachmittagsbesuchen in seinem Café schon kannte und sie daher besonders freundlich begrüßte. Allmählich kamen Pauline und Paul ins Gespräch, sie erzählten sich Belanglosigkeiten und was sie in den letzten Jahren machten, seit damals, als sie in Ägypten aus unerklärlichen Gründen beschlossen, getrennt weiterzureisen: Pauline in die Wüste und Paul auf den Sinai. Die Liebe war so überwältigend, daß sie sich in die Einsamkeit flüchten mußten, um zu überleben. Sie war so stark, daß kaum mehr Luft zum Atmen blieb.

Sie saßen sich gegenüber, und die Angst, erneut den anderen gehen lassen zu müssen, weil man sonst selbst erdrückt wird, stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Worte kamen nur mehr spärlich über ihre Lippen. Alles, was gesagt werden konnte, war bereits gesagt. Alles andere war verboten, weil ungewiß. Es fehlten ihnen die Worte. Sie hatten nur mehr Worte für die Liebe, das Verbotene, die unergründlich schön und phantastisch waren — im Kopf.

Pauline mußte gehen, denn sie hatte nur mehr diese verbotenen Worte. Sie stand auf, sagte zu Paul, daß sie ihn noch immer liebe, aber jetzt gehen müsse und ihn nie mehr wiedersehen könne, weil sie Angst habe. Paul hätte ihr noch so viel sagen wollen, daß auch er sie liebe und sie nie mehr verlassen wolle. Alles wollte er ihr sagen, alles. Aber Paul war wie gelähmt, konnte sich nicht rühren und seine Lippen nicht bewegen. Er muß wohl fünf Minuten vollkommen erstarrt auf der Bank gesessen haben, als ihn die liebe Pensionistin vom Nebentisch fragte: „Junger Herr, ist mit Ihnen alles in Ordnung? Kann ich Ihnen helfen?“ Paul bedankte sich höflich bei der Dame für ihre Sorge und meinte: „Ich muß die richtigen Worte finden, zur rechten Zeit die richtigen Worte, aber es gelingt mir nicht.“ „Ihre Freundin ist aber eine außerordentlich nette und hübsche Person“, sagte die liebe Frau vom Nebentisch. „Ja, zur rechten Zeit die richtigen Worte finden. Sie ist übrigens nur eine Freundin, von früher, von damals, als ich einmal die richtigen Worte fand“, flüsterte Paul vor sich hin und rief den Ober zum Zahlen. „Wie bitte“, fragte die Dame namens Paulina.

Es war spät geworden, denn die ersten leeren Körper betraten schon das Engländer.
Nun war auch Paulina gegangen, und Paul beschloß, nun doch noch eine Weile im Engländer zu verbringen.

Gelöst

von Manfred Gmeiner

Mit dem ihm bekannten rhythmischen Geräusch fuhr der Zug durch die Nacht, und obwohl Paul normalerweise gut schlief im Liegewagen, konnte er diesmal kein Auge zudrücken. Vielzusehr beunruhigte ihn die auf ihn zukommende Woche. Dabei war es seine Idee gewesen, genau jene Reise nach Florenz zu wiederholen, auf der sich ihre Verliebtheit in Liebe wandelte. Pauline war gar nicht so begeistert von diesem Plan. Er mußte sie dazu überreden, ja fast drängen. Paul hoffte, damit die Liebe zu Pauline wiederzufinden, die sich im Laufe der Jahre verbraucht hatte. Vielleicht war verbraucht auch gar nicht der richtige Ausdruck. Sie waren viel zusammen, wahrscheinlich zuviel, zu viele gemeinsame Vorhaben und Aktivitäten verbanden sie. Und eines Tages merkte er, daß hinter den Gemeinsamkeiten die Liebe verschwunden war. Wäre sie nur verbraucht, man könnte sie vielleicht erneuern. Doch sie war bis auf die Erinnerung an die Reise nach Florenz einfach verschwunden. Jetzt, da er sich durchgesetzt hatte und sie auf dem Weg nach Florenz waren, bekam er plötzlich Angst, es könnte auch diese letzte Erinnerung gelöscht werden. Überspielt von einem künstlichen, gezwungenen Urlaub.

Paul trat auf den Gang, öffnete das Fenster und hielt den Kopf in den warmen Wind. Sie waren sicher schon in Italien. Die Frau am Nebenfenster — er hatte sie erst gar nicht bemerkt — bot ihm eine Zigarette an. Sie kamen ins Gespräch, tauschten Italienerlebnisse aus, und Paul hörte sich Erfahrungen und Eindrücke schildern, die er Pauline, aus welchem Grund auch immer — er wußte es nicht —, schon lange nicht mehr erzählt hatte. Daß Pauline im Abteil schlief, erwähnte er mit keinem Wort.

Als der Zug in Venedig einfuhr, folgte er ihrer Einladung — erst jetzt fiel ihm auf, daß er sie immer noch nicht nach ihren Namen gefragt hatte —, nahm vorsichtig seinen Koffer aus dem Abteil und verließ den Zug.

Kurz vor Florenz schlug Pauline die Augen auf, sah auf das leere Bett neben sich, schob den Vorhang zurück, um auf den Gang zu sehen, und ließ schließlich den Blick vorsichtig auf das Gepäcknetz schweifen. Als sie auch Pauls Koffer nicht mehr erblickte, atmete sie tief durch und schloß die Augen, denn sie hatte vorerst genug gesehen und wollte ihre morgendlich trägen Gedanken nicht mit weiteren Eindrücken belasten.

Als sie in Florenz den Zug verließ, war sie ruhig und gelöst. Sie setzte sich in eine Bar, bestellte einen Espresso und rief Paolo an.

St. Pauli

von Ludwig Csépai

Zu fortgetrunkener Stunde stakste ein Mädchen tapfer, aber mutig über die Straße. Hamburg schwitzte im dämmernden August vor sich hin, und Pauline, das Mädchen, war nach vollbrachter Nacht auf dem Taumelweg ins Nirgendwo der Zweizimmerwohnung. Das schal-benebelnde Bier, der betäubend-brennende Schnaps und das gut-hämmernde Crack verschwammen in ihr zu einem feuchten Freier, einem zuckenden Schwanz, einem Loch voll abgestandener, doch dahinter war die Faust einer, zweier oder, Zuhälter, gewaltig, gewalttätig, wichtig, wieviele noch? Haß färbte das Morgenrot und erklärte es. „Hearst“, sagte St.Pauli. „was denkst, wast bist?“ Das fahle Gelb schenkte ihm eine leichte Aura, aber sonst war er ein Wiener Zuhälter gewesen, damals höflich, charmant, voll brutaler Gemütlichkeit, nun ein vertrunkener Sandler am Gestade der Elbe, ein Heiliger des Gewerbes. Die Erleuchtung näherte sich, barfuß in einem Mantel. Pauline fühlte eine sinnlose Gewißheit und starrte in das Leuchten. „Bist du es, St. Pauli? Zeige dich mir, Herrscher vor Ort!“, brach es aus der Christin. Der Sandler, welchen es aus noch zu erläuternden Gründen von Wien nach Hamburg verschlagen hatte, öffnete seinen Mantel, darunter war er nackt, nur ein einsamer, kleiner Stengel reckte sich ein wenig. Da tauchte ihn die Sonne in einen kurzen Morgenstreifen, und lichtverklärt besah sie ihn aus stumpfen Augen. „Da hab i no was zum Saufn“, sagte er und streckte ihr liebevoll einen Kelch entgegen, um sie zu weihen. „Zwölf haben gezahlt, einer ist umsonst“, dachte sie und verzieh nichts. „Komm“, sagte sie und wollte, kleine Göttin, ihn in sich aufnehmen. Vergebens, er konnte die Gnade der späten Stunde nicht nutzen. Der Letzte.

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