Streifzüge, Heft 44
Oktober
2008
Dead Men Working

Penetranz zur Potenz

Seit mit der Strategie „Immer-weiter, Immer-höher, Immer-schneller“ keine Beute mehr zu machen ist, werden die verzweifelten Versuche, das Business auch am Totenbett noch aufrechtzuerhalten, höchst penetrant. Business as usual is over – seine Adepten schlagen umso wilder um sich. Sie treffen jeden, keiner entkommt dem irren Treiben.

Kaum habe ich mich zum PC gesetzt, um diese Kolumne zu schreiben, läutet – am Samstag Nachmittag! – das Telefon: „Hier spricht Herr XY von der Zeitung Österreich, spreche ich mit Frau Maria Wölflingseder? “ … „Frau Wölflingseder, ich rufe Sie an, weil Sie ja einmal Österreich getestet haben…“ „Nein, diese Zeitung habe ich sicher nicht getestet! “ „Aber Sie kennen doch die Zeitung Österreich, Frau Wölflingseder…“ – Wer nicht spätestens jetzt die Notbremse zieht, wird den Anrufer so schnell nicht mehr los.

Sie gehören mittlerweile zum Alltag, unzählige ungebetene AnruferInnen, die einem von Tageszeitungen und Magazinen übers Spezialbett bis zum Lottoschein oder zur Versicherungsüberprüfung alles nur Erdenkliche andrehen wollen, genauer gesagt: andrehen wollen müssen. – Jede Privatperson, die eine andere in solch ungebetener Weise behelligt, hätte sofort eine Stalking-Klage am Hals! Aber im geheiligten Namen des Business ist fast alles erlaubt, und was nicht erlaubt ist, wird trotzdem gemacht und kaum geahndet.

Tagtäglich sind wir – auch im ansonst in jeder Hinsicht sehr streng reglementierten öffentlichen Raum – gezwungenermaßen mit Plakat-, Fernseh-, Radio- und Kinowerbung konfrontiert, mit jener in Zeitungen, Zeitschriften sowie im Internet, und mit all den SMS- und Mail-Zusendungen, der Werbeflut im Postkasten, an der Wohnungstür und an der Windschutzscheibe des Autos. Die Papierberge können nicht einmal ignoriert werden, sie müssen zumindest entsorgt werden. Überdies werden Autofahrer an Straßenkreuzungen immer öfter von aufwendig kostümierten Mädels vom Werbezirkus bestürmt. Penetranz ist zu einem neuen Leitmotiv geworden. Bisher haben wir uns „nur“ der akustischen und visuellen Werbebotschaften erwehren müssen. All die diesbezüglichen Konsumentenschutzaktivitäten hecheln permanent den immer kruder werdenden Methoden hinterher oder sie sind sowieso für die Katz. So wird etwa das offizielle „Bitte keine Werbung“-Pickerl an der Wohnungstür oder im Postkasten zunehmend ignoriert. Der Konsumentenschutz rät zu Besitzstörungsklagen. Welch Aufwand für den Einzelnen! – Neuerdings haben wir Werbung aber nicht nur zur Kenntnis zu nehmen und Konsum zu absolvieren, sondern ab sofort müssen wir uns bei Unwilligkeit ungehaltenen, mitunter aggressiven Keilern gegenüber rechtfertigen, warum wir etwas nicht konsumieren wollen. Von Konsumzwang zum Zwangskonsum?

Eine ganze neue Branche hat sich dazu formiert – die der Call-Center. Wie viele Call-Center-Agents es in Österreich gibt, weiß nicht einmal die Gewerkschaft, obwohl sie sich – reichlich spät – der höchst „prekären“ Arbeitsverhältnisse ein wenig angenommen hat. Die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung sind großteils so mies, dass sogar ansonst schwervermittelbare überqualifizierte AkademikerInnen hier einen Job finden. Nach mehreren Versuchen ist es auch mir gelungen, mich im letzten dreiviertel Jahr in zwei dieser Penetrier-Anstalten zu erproben.

Der Arbeitsvertrag war schlicht illegal. Punkt 1 lautete: „Der Arbeitsort und die Arbeitszeit sind frei wählbar.“ Was mitnichten der Fall war, aber nur so wird jemand ein freier Dienstnehmer, der de iure ein Angestellter sein müsste. Damit ist auch das Arbeitsinspektorat nicht zuständig für die Arbeitsplätze der „Prekären“, die in viel zu beengten lauten Räumen sitzen – zu zwanzig auf ca. 40 m2, Schulter an Schulter lautstark um die Wette telefonierend, bereichert durch den Lärm einer stark befahrenen Straße, bei sommerlicher Hitze oder vor dem Tiefkühlgebläse der Klimaanlage. Der PC gibt den Telefonier-Takt vor, Pausen werden nicht bezahlt. Für erfolgreiche Probe-Abos gibt es eine geringe Provision, wobei allerdings nie überprüft werden kann, ob die Angaben über die Stornos stimmen. Der Clou: In den anzurufenden Datensätzen befinden sich nicht ausgewiesen auch solche Personen, die bereits ein Abo beziehen oder gerade ein Gratis-Test-Abo hatten. In Call-Centern ohne solchen Datenschrott, wo derselben Tätigkeit nachgegangen wird (Krone- und Kurier-Gratis-Test-Abos keilen), ist die Verdienstmöglichkeit um einiges höher. Aber der Verdienst ist ohnehin selten der Anreiz. Für viele Frauen, denen noch etliche Jahre bis zur Pension fehlen, ist es die Versicherung, die sie zwingt hierher zu kommen; auch hochqualifizierte Freiberufler, die sich aber keine Versicherung leisten können – etwa ein ausgebildeter (Radio-)Sprecher –, verdingen sich hier wohl oder übel.

In die Rolle einer Telefonkeilerin zu schlüpfen, kostet große Überwindung. In der Hitze des Sommers waren oft nur Alte und Kranke erreichbar. Manchmal erlaubt man sich, ein paar nette Worte auszutauschen – z. B. mit einem 100-jährigen Kärntner, oder einer 80-jährigen Tirolerin, der die verbleibende Lebenszeit zu schade zum Zeitunglesen ist, da noch viele gute Bücher warten. Aber in der Früh oder am Nachmittag Leute aus dem Schlaf zu läuten oder mehrmals an eine Frau zu geraten, dessen Gatte gerade einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt erlitten hat oder dessen Kind einen Unfall hatte, führt einem die Penetranz der Unternehmung klar vor Augen – zumal man ja nicht im einzigen Call-Center sitzt, das diesen „Kunden“ auf den Wecker geht.

Wer sich mit Fragen zur Legalität des Arbeitsvertrages oder der Arbeitsbedingungen an die Arbeiterkammer wendet, erhält den weisen Rat, bei Ungereimtheiten diese Firma am besten zu meiden …

Angesichts des Lärms, des Stress‘ und der Widersinnigkeiten wird einem hautnah bewusst, warum der Verbrauch an Schlafmittel, Antidepressiva und Blutdrucksenkern ständig steigt. Oft gibt es auch in der Freizeit wenig Möglichkeit zur Entspannung, weil der Lärmpegel selten sinkt: Baustellen- und Fluglärm, dazu Gedröhn und Gekreische (unerklärlicherweise „Musik“ genannt) aus den Nachbarwohnungen, in den Geschäften und auch in den Öffis aus ständig ein bis drei Paar Kopfhörern. Wer vor all dem für eine rare Stunde ins Gänsehäufel, das Freibad an der Alten Donau, zu entkommen hofft, den empfängt dort der allerlauteste Radau – ein PR-Event von Radio Wien – noch am äußersten Inselzipfel qualvoll vernehmbar!

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