MOZ, Nummer 55
September
1990

Pleite auf Preußisch

Noch vor neun Monaten titelten wir unsere DDR-Geschichte „Chaos auf preußisch“.

Heute, nur wenige Wochen nach dem Vollzug der deutsch-deutschen Währungs- und Sozialunion, müssen wir feststellen: Selbst die damals von vielen für übertrieben gehaltene Prognose muß einem noch düstereren Befund weichen. Pleite auf preußisch.

Stillgelegte Drehbänke im IFA-Getriebewerk Brandenburg nach der Kündigung des IFA-Joint-Ventures durch Daimler

„Ratschläge, die auf eine Wiederherstellung kapitalistischer Ausbeutung, Profitwirtschaft, auf die Einführung von Massenarbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, sozialer Unsicherheit und Drogenmisere hinauslaufen, finden bei uns kein Gehör“, beschwor das „Neue Deutschland“ noch am 18. Oktober 1989 die vermeintliche Stabilität der DDR. Der Leitartikel im SED-Zentralorgan stand unter der vielsagenden Überschrift „Sozialismus in der DDR steht nicht zur Disposition“.

Nicht einmal ein Jahr nach der Revolte im Erziehungshaus DDR, die viele für eine Revolution hielten, und zwei Monate nach dem Anschluß der Ost-Mark an die D-Mark steht in der DDR bereits anderes zur Disposition als der „reale Sozialismus“. Die Industrie der DDR erfährt ihren Ruin. Betriebe der Textil- und Chemieindustrie machen reihenweise dicht, die Kalibetriebe im Südharz stehen vor der Schließung, auch die Tage vieler Betriebe des Braunkohlenabbaus sind gezählt.

Eine vom bundesdeutschen Staatssekretär und Vorstandsvorsitzenden der Hoesch-AG, Detlev Rohwedder, geleitete „Treuhandanstalt“ überführt das staatliche Volkseigentum der DDR in das Eigentum westdeutscher Monopole. Nach dem formalen staatlichen Anschluß soll der politische und ökonomische Blitzkrieg der BRD in den kommenden Monaten seinen Abschluß in der Besetzung des Landes durch BRD-Polizei und Bundeswehr finden.

Die Zahl der Arbeitslosen in der DDR stieg von 95.000 im Mai 1990 über 142.000 im Juni auf 250.000 Ende Juli, Tendenz steigend.

Seit der Währungsunion vom 1. Juli werden DDR-Produkte in den Kaufhallen zwischen Dresden und Rostock kaum noch angeboten, statt dessen gibt es Westware zu oftmals überteuerten Preisen. BRD-Konzerne betrachten die DDR bislang als Absatzmarkt und nicht als Investitionsstandort, die erhofften produktiven Investitionen blieben im wesentlichen aus. Die Stimmung in der DDR schwankt zwischen Skepsis und Zweckoptimismus angesichts der Tatsache, daß die DDR-Bürger mit der D-Mark eine Fahrkarte ohne Rückfahrschein gelöst haben. Zwar hat sich nach Jahrzehnten der Mangelwirtschaft das Angebot an Dienstleistungen und Waren erheblich erweitert, die ganze Härte der DMark aber zeichnet sich in drastischen sozialen Konsequenzen ab. Selbst in dem, mit der Liquidierung des Experiments DDR befaßten Kabinett von DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere zeigte sich Unmut, und auch der Konsistorialpräsident der evangelischen Kirche in der DDR, Manfred Stolpe — bei Spöttern auch als Konterrevolutionspräsident des Bundes Sozialdemokratischer Kirchen bekannt — äußerte Sorgen um soziale Sicherheit.

495 harte DM pro Monat

Eine „ganz miese Rolle“ bescheinigte die Ministerin für Handel und Tourismus, Sybille Reider (SPD), den westdeutschen Handelsketten, die mit Direktoren der staatlichen Handelsorganisation und Kaufhallenleitern die Monopolisierung des DDR-Marktes durch BRDKonzerne arrangiert hatten. Arbeitsministerin Regine Hildebrandt erklärte öffentlich, sie rechne innerhalb weniger Monate mit einer Arbeitslosigkeit von 1,5 Millionen Menschen — bei einer Bevölkerung von 16 Millionen wäre das eine dreifach höhere Arbeitslosigkeit als in der Bundesrepublik. Doch selbst diese Schätzung dürfte eher noch zu gering angesetzt sein.

Der diesjährige Sommer der DDR gerät zum Vorabend der größten sozialen Krise in deutschen Landen seit der Währungsreform von 1948. Betroffen von der Massenarbeitslosigkeit sind vor allem Frauen. Viele arbeitslose DDR-Bürgerinnen erhalten im Zuge der von der BRD diktierten ‚Sozialunion‘ lediglich 495 Mark Unterstützung monatlich. 70 Prozent der Industriearbeiterinnen haben einen Monatsverdienst von weniger als 900 Mark, so daß ihnen ein Arbeitslosengeld in Höhe von 68 Prozent des früheren Lohnes im neuen Deutschland zunächst nur einen Weg in die neue Armut bietet.

Dramatisch hat sich die Situation in der DDR-Landwirtschaft zugespitzt. Rinder und Schweine stehen dichtgedrängt in den Ställen und können nicht geschlachtet werden, während in den Kühlhäusern importiertes Fleisch aus anderen europäischen Ländern tiefgefroren wird.

Landwirtschaftsexperten in Ost und West schätzen, daß die Anpassung der DDR-Landwirtschaft an die EG etwa die Hälfte der 840.000 auf dem Lande Arbeitenden um ihren Arbeitsplatz bringen wird. Einigen Gegenden wie dem Harz und Mecklenburg im Norden der DDR eröffnet sich künftig eine Perspektive als Tourismusgebiet für Billigurlauber aus dem Westen, landschaftlich weniger reizvolle Regionen stehen vor der Verödung. Aufwärts geht’s nur bei Kriminaldelikten

Die „Aufbruchstimmung“, die der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Wolfgang Röller, wahrgenommen haben will, können zunächst vor allem die Kriminalisten bestätigen. Die Zahl der Wohnungsaufbrüche und Diebstähle in der DDR bewege sich „leicht nach oben“, konstatierte Kriminaloberrat Klaus-Dieter Hölgermann vom Zentralen Kriminalamt beim Ministerium des Inneren der DDR bereits im Juli. Um mehr als das Doppelte stiegen im ersten Halbjahr die Raubüberfälle und Erpressungsstraftaten.

Delikte, die in der DDR bislang wesentlich seltener waren als in der Bundesrepbulik.

Im Volkspark des Ost-Berliner Stadtbezirks Friedrichshain, einem östlichen Pendant zu Kreuzberg, fanden in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mehr Raubüberfälle statt als in den gesamten zehn Jahren zuvor. Die Gangster seien „nicht wählerisch“, verrät die örtliche Zeitung „Friedrichshainer Lokalnachrichten“: „Ein teures Jacket oder eine gute Hose finden allemal ihre Abnehmer auf dem Markt“.

Die Kriminalität als eine Verlaufsform des Klassenkampfes in verarmten Gegenden hat in der DDR Zukunft. Schlawiner, die an Wohnungstüren schon mal vorgeben, außerplanmäßig die Energiekosten zu kassieren oder Reisen verkaufen, welche dann lediglich der Kassierende macht, beurteilen die Wirtschaftsentwicklung in der DDR realistischer als der sozialdemokratische Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, der für die DDR „ein Wirtschaftswunder, wie wir es nie erlebt haben“, prognostiziert.

Vietnamesische Arbeiter, in der .Krise als erste gefeuert, verkaufen Plastikuhren an der Schönhauser Allee in Berlin (DDR), und rumänische Armutsflüchtlinge betteln am U-Bahnhof Alexanderplatz um ‚una marka‘. Sie geben einen Vorgeschmack darauf, wie es bald auch zehntausenden DDR-Bürgern ergehen wird.

Auf der Straße bereits in Kraft: Das Recht des Stärkeren

Einstweilen haben die meisten, wenn auch nicht alle DDR-Bürger nach der durch die Währungsunion diktierten Halbierung ihrer Ersparnisse noch Rücklagen von einigen tausend Mark. Die aber werden in vielen Fällen durch den Kauf von Gebrauchtwagen aus dem Westen verzehrt. Im Ergebnis dürften die neunziger Jahren zum größten Autofriedhof Europas werden. Gegenwärtig erlebt die Hauptstadt der DDR „ein noch nicht gekanntes Verkehrsdrama“, wie die „Berliner Zeitung“ Ende Juli bilanzierte. Es wächst die Zahl der folgenschweren Unfälle. BMW gegen Trabi ist allemal tödlicher als Trabi gegen Trabi. Allein im Bezirk Leipzig kamen im ersten Halbjahr 1990 116 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr, und mehr, als in den vergangenen beiden Jahrzehnten an der DDR-Grenze starben. Nach Zerfall und Zerschlagung der großen realsozialistischen Organisationen hat der Allgemeine Deutsche Automobilklub (ADAC) Chancen, die größte Massenorganisation der postsozialistischen DDR zu werden.

Im Jahre 1990 werde die Wohnungsfrage als soziales Problem gelöst sein, versprach SED-Generalsekretär Erich Honecker seit Beginn seiner Amtszeit im Jahre 1971. Die Ergebnisse der SEDPolitik blieben jedoch trotz des Baus von drei Millionen Wohnungen weit hinter den Versprechungen zurück. Millionen Neubauwohnungen, in einer Plattenbauweise schnell hochgezogen, zeigen heute bereits schwere bauliche Mängel, die für die Zukunft Schlimmes befürchten lassen. Der Altbaubestand befindet sich überwiegend in einem heruntergekommenen Zustand, weil mit Mieten auf Vorkriegsniveau, die nicht mit dem Einkommen stiegen, allenfalls das Trinkgeld für die Handwerker zu bestreiten war. Nach der Auflösung der DDR und dem Anschluß an die BRD droht nun ab Januar 1991 eine Mietpreisexplosion, die der DDR auch das bislang unbekannte Problem der Obdachlosigkeit bescheren wird, vermutlich in einem prozentual weit höhreren Umfang als in der BRD. Diese Entwicklung wird durch eine DDR-weite Privatisierungsaktion noch verstärkt. Alle nach der Gründung der DDR im Jahre 1949 enteigneten Haus- und Grundeigentümer sowie Fabriksbesitzer können ihren einst in Volkseigentum überführten Besitz zurückverlangen. Die Zahl der Anwärter auf die Verteilung von Immobilien in der DDR wird auf 500.000 bis 800.000 Westdeutsche geschätzt. Mit dem Wohnungsbau geht es indessen bergab. Im östlichen Berlin fehlen 700 Millionen Mark zur Finanzierung des Wohnungsbaus für 1990, und allein in der bisherigen DDR-Hauptstadt sind 20.000 Bauarbeiter von der Entlassung bedroht. Punktuelle Protestaktionen von Arbeitern, Angestellten und Bauern verpuffen in ihrer Wirkung, weil dem einziehenden Kapital nach der Zerschlagung des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB keine starken Gewerkschaften, sondern einstweilen nur schwache Ableger bundesdeutscher Branchengewerkschaften gegenüberstehen.

Die Kosten des Ausbaus der Infrastruktur in der DDR und der Massenarbeitslosigkeit sind gegenwärtig in ihrem vollen Umfang noch nicht abzusehen.

Mezzogiorno ohne Sonnenschein

„Die deutsche Einheit wird weit teurer, als die Bundesregierung erwartet hatte“, konstatierte der „Spiegel“ Anfang August, im Herbst noch Kampfblatt der deutschen Revolution mit Dividende.

Die Folgekosten des Anschlusses, die bald Kohls Versprechen, die deutsche Einheit werde keine Steuererhöhungen nach sich ziehen, Lügen strafen wird, verschärfen einen wachsenden Wohlstandschauvinismus in Westdeutschland, der sich gegen DDR-Bürger richtet. BRD-Yuppies verübeln den ‚Ostlern‘ ihre mangelnde Übung im Konsumieren und ihr proletarisches Äußeres, welches die jeunesse dorde Westdeutschlands darauf stößt, daß die soziale Realität im neuen Deutschland anders aussieht als der Besucherstamm westdeutscher Nobeldiskotheken.

Der Osten Deutschlands werde „zum deutschen Mezzogiorno“, erwartet Wolfram Engels, Herausgeber der BRDZeitschrift, „Wirtschaftswoche“. Der deutsche Mezzogiorno, das soziale Pendant zu Süditalien, nur ohne dessen Sonnenschein, macht aus dem künftigen Gesamtdeutschland eine vergrößerte Bundesrepublik mit erheblichem sozialem Sprengstoff. Ende 1990 sind die Spareinlagen von Millionen DDR-Bürgern verzehrt, ab Januar mahnt bei vielen der Kredithai die Raten und offen bleibt dann die Frage, wann im östlichen Deutschland eine Partei und ein Führer Zulauf erhalten, die die Brechung der Zinsknechtschaft und Wohlstand durch die Heimkehr Schlesiens ins Reich versprechen.

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