MOZ, Nummer 57
November
1990
Neue Grenzziehung

Polen: draußen vor der Tür

Polen liegt jenseits der neuen Grenze, mit deren Errichtung sich das westliche Wohlstandseuropa gegen das Elend im Osten abzuschirmen versucht. Aus Wroclaw erreichte die MONATSZEITUNG dazu der folgende Kurzkommentar.

Europa, das wir doch so herbeisehnen, will uns nicht, verdammt noch mal! Für viele sind wir jetzt die ‚Polacken‘ — schon wieder. Sogar unsere besten Freunde in Österreich haben die Grenze dichtgemacht, die Tschechen lassen sich nicht erschüttern von unserem Drang nach Süden, ja, und die europäisierten Deutschen haben bereits vor dem großen Tag am 3. Oktober verkündet, daß die Mauer an die Oder und Neisse verlegt wird.

So billig wie bisher werden wir auch in Kürze nicht einmal nach Moskau oder Irkuzk, nach Budapest oder Sofia reisen können. Die Tickets und Vouchers werden sozusagen in guter Währung zu bezahlen sein. Und wenn man so richtig intensiv nachdenkt, dürfte sich niemand darüber wundern. All dies ist — auf den höchsten westlichen Wert zurückgeführt — ganz normal. Wir haben westliche Vorbilder, Ideale, Aspirationen, ja — sogar westliche Preise, nur das Geld ist polnisch. Und weil die Menschen auch von westlichem Geld schwärmen und sogar verstehen, es auch irgendwie zu verdienen — freimarktwirtschaftlich selbstverständlich und im elementarsten Sinne dieses Wortes —, werden sie fast überall als ‚Pack und Pöbel‘ weggejagt, ausgegrenzt. Leider bricht damit gerade Deutschland eine alte Tradition: Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durften die Polen als Saisonarbeiter dorthin reisen, im letzten Krieg wurden sie als Zwangsarbeiter verschleppt, als Gastarbeiter im Jahre 1990 sind sie allerdings unerwünscht. Es sei denn, man bekennt sich als ‚deutschstämmig‘, jedoch auch in diesem Fall wird einem neuerdings eingebleut, man möge doch daheim bleiben und sich für die Rechte der deutschen Minderheit einsetzen.

Es gäbe schon Gründe, die Polen als schlechte Europäer zu bezichtigen, doch außer bei wenigen werden diese Unwegbarkeiten der polnischen Gegenwart nicht sehr oft wahrgenommen. Nein, eine Theokratie ist Polen, Gott sei Dank, bestimmt noch nicht. Noch hat das Parlament was zu sagen, obwohl es manchmal nicht gefragt wird. So zum Beispiel wurde jetzt ‚kraft‘ einer gemeinsamen Verordnung des Klerus mit der Schuladministration der Religionsunterricht in Schulen und Kindergärten (!) eingeführt. Nach der Verfassung ist der Staat von der Kirche getrennt. Doch da gibt es eine Gesetzesvorlage, aus kirchlicher Inspiration, die die Abtreibung mit einer Strafe von zwei Jahren Gefängnis bedroht. Und zu guter Letzt werden nun in Polen politische Probleme, wie etwa Wahlen, im Palais des Primas von Polen, Kardinal Glemp, erörtert, ganz offiziell — wie einst in der polnischen königlichen Adelsrepublik.

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