Heft 5/2000
September
2000

„Por una educación popular y gratuita!“

Mexico, das Land, das ab Dezember 2000 vom früheren Coca Cola-Manager Vicente Fox regiert werden wird, der dem politischen System mit dem Wahlsieg seiner rechtspopulistischen Partei der Nationalen Aktion (PAN) einen bilderbuchmäßigen Demokratisierungsschub bescherte, war in den vergangenen Jahren immer wieder Schauplatz von Aufständen und sozialen Bewegungen, die von der europäischen Linken intensiv und teils euphorisch rezipiert wurden.

Im letzten Jahr galt diese Aufmerksamkeit und Solidarität den StudentInnen der öffentlichen Universität Mexicos UNAM (Universidad Nacional Autónoma de México), die über 10 Monate eine der weltweit größten Universitäten bestreikend gegen die Privatisierung der Unis und für das Recht auf freie Bildung kämpften. Mit zwei Mitgliedern des Generalstreikrates CGH (Consejo General de Huelga) wurde dieses Interview geführt, das in zwei Teilen in Context XXI erscheinen wird.

In diesem ersten Teil berichten uns Julia und Ricardo über die Studierendenbewegung und deren Allianzen, sowie die Nachteile der Frauen innerhalb des CGH, den Streik und die aufgestellten Forderungen und die Repression, welche schließlich in der Verhaftung von ca. 1000 StudentInnen gipfelte. Im zweiten Teil, der in der nächsten Nummer der Context XXI erscheinen wird, führten wir eine kontroversielle Diskussion über Begriffe wie „pueblo“ (Volk/Bevölkerung/Menschen), „nación“ / Nationalismus, und „trabajo digno“ („Arbeit in Würde“). Weiters wird in Teil 2 die Rolle der sozialdemokratischen PRD im Zuge des Streiks und der Repression näher beleuchtet.

Unter welchen Rahmenbedingungen und gegen welche Eingriffe setzt sich eure Bewegung zur Wehr?

Ricardo: Die UNAM ist als größte Universität Mexicos und eine der wichtigsten Lateinamerikas von großer Bedeutung für die Forschung in der Region und die Ausbildung von Fachkräften für den Markt und das Bildungssystem. Von den 270.000 Universitätsangehörigen sind etwa 170.000 StudentInnen.

Die bereits vor einigen Jahren angelaufenen Privatisierungsbestrebungen verlaufen auf mehreren Ebenen. Die erste bedeutet, daß die Produktion von Wissen und die Forschung sich in die Richtung entwickelt, den Marktanforderungen gerecht zu werden, somit den großen nationalen wie internationalen Unternehmen. Jene Forschungsprojekte, die diesen Marktanforderungen nicht gerecht werden, werden nach und nach gekürzt. Damit meine ich Forschungsprojekte, die sich die Bekämpfung von Analphabetismus, Unterernährung und anderen Problemen zum Ziel setzen.

Julia: Mexico hat bereits mehrere Wirtschaftskrisen durchlebt. Dabei muß man die Vorgaben der internationale Institutionen wie IWF und Weltbank berücksichtigen, welche in der Unterzeichnung des NAFTA-Vertrages mit Kanada und USA gipfelten. Das verschärfte die Krisen um einiges. Dabei wurden Handelsbestimmungen homogenisiert, ohne die Sensibilitäten der mexikanischen Wirtschaft zu berücksichtigen. In Mexico leben 70% der Bevölkerung in Armut und 28% in extremer Armut. Ein Großteil der Bevölkerung ist arbeitslos und kann nicht einmal seine Grundbedürfnisse decken. Die internationalen Forderungen und Abkommen versetzten Mexico in die Rolle eines Produzenten von Fach- und billigen Arbeitskräften und genau in diese Richtung forciert der Staat die Organisation des Erziehungswesens. Dabei versuchen sie, die Unis nur einer Elite frei zugänglich zu machen, und dieser Prozeß soll in der Privatisierung dieser gipfeln. Der großen Mehrheit wird nahegelegt, beispielsweise technische Kurzausbildungen zu wählen.

Der Kampf gegen Studiengebühren hat bei Euch ja eine lange Geschichte, die im Ausbruch des Streiks gipfelte ...

Julia: Mehrere Direktoren versuchten bereits die Studiengebühren zu erhöhen und verwendeten dabei dieselben Argumente des Staats, mit deren Hilfe Bereiche wie Gesundheit, Ernährung und Wohnungssituation als nicht rentabel dargestellt werden. Diese sozialen Rechte werden als Dienstleistungen definiert, deren Finanzierung in ihrer Argumentation woanders gesucht werden muß. So versucht der Staat, sich dieser Bereiche zu entledigen und ein erster Schritt dahin ist im Bildungsbereich die Erhöhung von Studiengebühren. Daß die Behörden 1999 beschlossen, die Studiengebühren zu erhöhen, war wohl auch eine Maßnahme des Vorwahlkampfes. Wir haben den Eindruck, daß sie nicht mit dieser massiven Ablehnung ihrer Vorhaben rechneten und vom Widerstand ebenso überrascht wurden wie wir selbst. Mit „wir“ meine ich diejenigen, die bereits im Jänner 1999 einen Forderungskatalog ausarbeiteten, bei dem es nicht nur um die Ablehnung von Studiengebühren ging. Als die ersten Umfragen durchgeführt wurden bzw. als im April der Streik ausgerufen wurde, waren wir überrascht von der gewaltigen Unterstützung.

Welche Umfragen, von wem, welche Resultate?

Ricardo: Wir führten eine Umfrage betreffend der Forderungen, die wir aufgestellt hatten, durch. Neben der Abschaffung der Studiengebühren verlangen wir auch eine wirkliche Demokratisierung der universitären Entscheidungsstrukturen, weiters die Beendigung der Repression gegen die Streikenden sowie die Abschaffung des Überwachungs-und Spitzelsystems an der UNAM, die Zurücknahme der Studienreform von 1997 samt beschlossenen Studieneingangsprüfungen.

120.000 StudentInnen, d.h. die große Mehrheit der Studierenden, beteiligten sich an dieser Umfrage, also eine große Mehrheit. In einer zweiten Umfrage ging es um das weitere Vorgehen, denn die universitären Autoritäten hatten uns jeglichen Dialog verweigert. Nun ging es um die Ausrufung des Unistreiks — auch dieser wurde von einer große Mehrheit beschlossen.

Allgemein müssen wir noch betonen, daß die Durchführung von Umfragen, die die großen Fragen unseres Landes betreffen, seit langer Zeit eine wichtige Forderung der sozialen Bewegungen Mexicos, z.B. der EZLN darstellt.

Mit welchen sozialen Bewegungen, Volksorganisationen, etc., arbeitet ihr zusammen?

Ricardo: Es war uns von Anfang an bewußt, daß unsere Forderungen weit über die Uni hinausgehen und es absolut notwendig war, die Zusammenarbeit der sozialen Bewegungen zu suchen. Zuerst organisierten wir einen landesweiten StudentInnenkongress auf dem es nicht nur um die Privatisierung öffentlicher Bildungseinrichtungen, sondern auch um das Problem, daß wichtige Entscheidungen von einer kleinen Gruppe undemokratisch getroffen werden, ging. Die Gewerkschaften führen seit 1998 einen wichtigen Kampf. Deren Mobilisierungskraft steigt seither langsam aber sicher. Sie kämpfen u.a. gegen die Privatisierung des Elektrizitätssektors. Die Allianz, die wir mit ihnen schlossen, ist meiner Meinung nach historisch, da es nun erstmals eine politische Zusammenarbeit gab. Mit der Indígenabewegung [1] gab es auch bereits jahrelangen Kontakt, jedoch eher in der Form von Soli-„Caravanas“ von Studis. Viele waren auch als MenschenrechtsbeobachterInnen in Chiapas. Die Indígenabewegung in Chiapas solidarisierte sich nun auch mit uns und mehrere compañer@s der EZLN nahmen am Kongreß in der UNAM teil. Auch mit der städtischen Volks- und Gewerkschaftsbewegung, die seit den 70er Jahren wichtige gesellschaftliche Kämpfe führt und dabei ganz spezifische Forderungen stellt, schlossen wir Allianzen.

Julia: Die Bus-Chauffeure der Ruta 100, die früher stark gewerkschaftlich organisiert waren, haben uns unterstützt: wir konnten sie zu jeder Zeit anrufen, wenn wir z.B. nach einer Demo zurück zum Campus mußten. Sie halfen uns auch bei den Nachtbewachungsbrigaden, da der Campus immens groß ist.

Ricardo: Uns gelang es, ein internationales Treffen mit Vertretungen aus 16 Ländern durchzuführen, bei dem es v.a. um die Auswirkungen des Neoliberalismus und der Privatisierung der Bildung sowie der Freilassung aller politischen Gefangenen auf der Welt ging. Dieser Kongreß erinnerte darüberhinaus an die von der UNESCO beschlossene 12% Ausgaben des BNP für Bildung. Ein nächstes Treffen ist für April 2001 in Quebec/Kanada geplant.

Wie reagierte der Staat nach Ausbruch des Streiks, wie sah die Repression aus?

Julia: Zuerst war die Repression selektiv in Form von Entführungen bestimmter Leute und massiven sexuellen Übergriffen auf compañeras. Dazu kam der ständige psychische Druck, daß wir jeden Moment vom Militär gestürmt werden könnten. Die Medien beschuldigten und diffamierten uns. Die breitflächige Repression fing im August an, als 100 Studis bei einer Kundgebung festgenommen wurden, zu weiteren Eskalationen kam es im Oktober und im Dezember, als wiederum mehrere Leute bei Demonstrationen verhaftet wurden und bis zu 2 Wochen in U-Haft saßen. Am 1. 2. 2000 schleuste sich eine Gruppe von Provokateuren in den Campus ein und es kam zu Auseinandersetzungen. Die Militärpolizei stürmte erstmals nach 1968 [2] das Unigelände und nahm über 200 Streikende fest. Am 6 Februar wurden wir abermals gestürmt, diesmal kam es zu über 700 Verhaftungen. Erst im Juni wurden die letzten aus der Haft entlassen, es gibt ca. 100 Anzeigen.

Welche neuen und innovativen Kampfformen konntet ihr entwickeln?

Ricardo: Aufgrund der politischen Unerfahrenheit der meisten von uns versuchten wir uns auf jene Erfahrungen zu stützen, die wir in unserer Umgebung, z.B. in der Gemeinschaftsarbeit in den „barrios“(Vierteln), in denen wir leben, gemacht hatten. Spontaneität, Hausverstand und Kreativität wurden Teil unseres Kampfes Wir haben uns in Brigaden organisiert und waren z.B. in der U-Bahn, auf Märkten und anderswo mit Infotischen präsent. Wir haben uns auch zu bestimmten Zeitpunkten zu den Metro-Eingängen gestellt und die Leute aufgefordert, mit uns schwarz zu fahren. Wir riefen gemeinsam: „Metro, metro popular!“ Wir führten in die traditionell eher schweigsamen Demonstrationszüge neue Elemente wie z.B. viel Musik und Tanz, Straßen- und Puppentheater ein.

Ricardo sprach von einer gleichberechtigten Aufteilung der Aufgaben, wie Kochen, Putzen usw. — war das auch so, als es darum ging, das Mikrofon in die Hand zu nehmen und öffentlich aufzutreten?

Julia: Mehr als 50% der Studis sind Frauen, dieses Verhältnis spiegelte sich auch in der Bewegung wider. Wir Frauen haben dabei natürlich mit Nachteilen zu kämpfen, z.B. was Nachtwachen betrifft, oder auch wenn es darum ging ins Landesinnere zu fahren, da viele unserer Familien sehr konservativ eingestellt sind. Wir mußten also auch einen Kampf mit ihnen führen und sie an die 68er Bewegung erinnern. Was die Aufteilung verschiedener Arbeiten, Teilnahme an den Versammlungen, Entscheidungsfindungen, etc. betrifft, gab es sehr wohl eine gleichberechtigte Aufteilung. Es gab keine Hierarchien, wir organisierten uns horizontal. Was es jedoch nicht gab, war das Bewußtsein bei der Rotation der Delegationen auf Quoten zu achten. Was die jeweiligen Verantwortlichen der verschiedenen Kommissionen betrifft, so waren das meist Frauen. Was nicht so gut funktionierte, war das öffentliche Auftreten. Meist standen die Männer vor der Kamera ... Wir haben immer dafür gekämpft, daß es keine Chefs gibt. Das ist uns auch gelungen. Es ist jedoch sehr bezeichnend, daß in jener Gruppe, die am längsten im Gefängnis saß und von der Polizei als die Köpfe der Bewegung angesehen wurde, 6 Männer und nur 2 Frauen waren. Auch wir Frauen hatten keine politische Erfahrung und erst im Zuge des Streiks wurde uns bewußt, wie tief die Geschlechterzuschreibungen in diesem patriarchalen System in uns allen stecken. Wir haben es verabsäumt, eine eigene Frauengruppe zu bilden, wir haben oft nicht darum gekämpft, unsere Rechte als Frauen durchzusetzen, aber diese 10 Monate haben uns neue Erfahrungen gebracht. Wir haben viel dazugelernt. Vor allem im Knast wurde offensichtlich, unter welch ungerechten Umständen die Frauen dort einsitzen. Viele Frauen meiner Generation glauben total unhinterfragt, daß es keine Diskriminierung gäbe — wenn das Gesetz sagt, wir sind alle gleich, dann seien wir das doch. Soziales Bewußtsein hatten wir, Gender-Bewußtsein müssen wir uns noch erkämpfen ...

Julia studiert Jus an der UNAM und ist wie Ricardo (Publizistik am Politikwissenschaftsinstitut der UNAM) Mitglied des Streikrates, CGH.

Mary Kreutzer, Henrike Kovacic, Jürgen Schmid und Markus Zingerle führten dieses Gespräch für Radio Orange, welches Mary Kreutzer und Markus Zingerle für Context XXI in zwei Teilen zusammenfaßten.

[1Indígena: Eigenbezeichnung und/oder Zuschreibung für Menschen, die in ethnisierten Gruppen kategorisiert werden. Seit der Eroberung Amerikas Grundlage der beständig reproduzierten rassistischen Hierarchie. Im Gegensatz zu indio oder Indianer teilweise auch in Eigenbezeichnung im Gebrauch.

[2Als 1968 eine radikal linke Studierendenbewegung auf die Staße ging, kam das Militär. Nach 123 bewegten Tagen wurden sie am 2.10.1968 auf dem Platz von Tlatelolco in Mexico-Stadt bei einer Demonstration eingeschlossen, die Armee versperrte alle Ausgänge mit Panzern und Maschinengewehren. Eine bis heute unbekannte Anzahl mehrerer hundert Demonstrierender wurde erschossen. Für die städtische Linke stellte dieses Massaker eine Zäsur dar.

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