MOZ, Nummer 51
April
1990
Expo ’95:

Quo vadis, Wien?

Europa steht vor großen geopolitischen Veränderungen. Und westeuropäisches Kapital zeigt seine Muskeln im Kampf um den zu verteilenden Kuchen. In diesem Kräftefeld präsentiert sich Wien am Wendepunkt: EXPO ’95 als Impuls für eine radikal veränderte Stadtplanung oder Beibehaltung des Kurses der „sanften Stadterneuerung“.

Das folgende Gespräch mit
Renate Banik-Schweitzer, Stadthistorikerin, Mitgestalterin der Ausstellung „Donau(t)raum“,
Architekt Wolf D. Prix, Mitglied von Coop Himmelblau, die gemeinsam mit Hans Hollein einen EXPO-Leitbild-Entwurf gestaltet haben,
Architekt Dietmar Steiner, Kultur- und Architekturkritiker, Koordinator des Wiener EXPO-Beirates,
präsentiert die Argumente für eine tiefgreifende Strukturveränderung Wiens mit allen ihren Schattenseiten.
Ulrike Sladek begleitete die Diskussion.

(v.l.n.r) Dietmar Steiner, Wolf D. Prix, Renate Banik-Schweitzer, Ulrike Sladek
Fotos: M. Neumann
Sladek: Bislang sind ziemlich viele Divergenzen und Unsicherheiten kundgeworden, was die EXPO ’95 in kultureller und städtebaulicher Hinsicht sowie die Durchführung betrifft. Was heißt heute „kreativer Städtebau“ und „Brücken in die Zukunft“?

Steiner: Die EXPO als Veranstaltung mit einem bestimmten Raumprogramm ist ein Projekt wie viele andere auch, wo man hoffen kann, daß diesen Wettbewerb ein guter Architekt gewinnt. Das endgültige Raumprogramm — wer sich dort beteiligt, wie und in welcher Form — ist natürlich ein dynamischer Prozeß, da man nicht mit Stichtag 1. April 1990 weiß, was am Ende dann herauskommen wird. Das ist an und für sich positiv, weil dieser dynamische Prozeß überleitet in die Hauptnutzung des Geländes, denn die EXPO ist eigentlich eine Vornutzung.

Marketingpaket für große Dienst­leistungsgebäude, für Investoren schnüren. (Steiner)

Zur Stadtplanung selbst: Man sieht, daß alle größeren Städte einen wirklichen Entwicklungsschub fast nur mehr durch solch symbolische Projekte kriegen, die meist auch noch mythologische Bedeutung erlangen, wobei die Stadtverwaltungen im allgemeinen wissen, daß sie sich nur an dieses Symbolprojekt anhängen, um ihre infrastrukturellen und tatsächlichen Probleme besser lösen zu können. Das normale Geschäft einer sozial verträglichen, vernünftigen Stadtplanung ist nicht mehr machbar. Deshalb braucht man solche medialen Anlässe, um diese Defizite in Angriff zu nehmen. Die EXPO ist ein neues Planungsinstrument

Banik-Schweitzer: Ich würde Ihre Meinung weitgehend teilen. Ich möchte nur den Rahmen ein bißchen erweitern. Ich glaube auch, daß Wien vor einem Wachstumsschub steht, der zweifellos durch die allgemeine wirtschaftliche und geopolitische Entwicklung ausgelöst wird. Wien muß sich sehr bewußt sein, daß es auf einmal, ohne es selbst zunächst einmal zu wissen oder zu ahnen, in den europäischen Städtewettbewerb eingetreten ist. Bis jetzt konnte es sagen, es liegt im Blinddarm Europas — das Zürich des Ostens —, das ist jetzt vorbei. Denn die bisherigen Vorstellungen davon, was aus dieser Stadt werden könnte oder womit sie ihr Geld verdient, sind so, wie’s jetzt läuft, nicht haltbar. Ich spiele jetzt ganz klar auf den Städtetourismus an. Wien verkauft sich immer als Kulturmetropole, als Kulturstadt, das wird es zweifellos auch weiterhin sein, aber halt nur im musealen Sinn. Um einen Wachstumsschub wirklich auszunutzen, kann man bei diesem Konzept nicht stehenbleiben. Ich gehe davon aus, daß diese EXPO eine Art Trägerrakete sein könnte, an die man sich anhängen sollte.

Heute entwickeln sich vor allem die Headquarter-Städte, in Deutschland die Linie Frankfurt-Stuttgart-München, nach der deutschen Einigung wird Berlin dazukommen. Damit liegen wir in einem anderen Kräftefeld.

Steiner: Mercedes-Benz hat schon 260.000qm am Potsdamer Platz in Berlin angemeldet.

Banik-Schweitzer: Man muß diesen Wachstumsschwung ausnutzen. Heutzutage geht das nicht mehr mit der alten Schlotindustrie, sondern die Wachstumsbranchen sind produktionsorientierte Dienstleistungsunternehmen. Das alles deutet darauf hin, daß man Cityerweiterungsflächen braucht und nicht so sehr Industrieflächen am Stadtrand, die man jederzeit auftreiben kann. Unter den geltenden Bedingungen kann die City nur in die anliegenden Bezirke hineinwachsen. Damit zerstört sie die gründerzeitliche Bausubstanz. Man kann darüber diskutieren, wie man das als Architekt einschätzt, man kann aber nicht darüber diskutieren, daß sie eindeutig Wohnungen zerstören wird, Wohnungen, die man ganz ganz dringend braucht. Das Nordbahnhofgelände bis zum Handelskai würde sich da als Ersatz absolut anbieten.

Prix: Soviel ich weiß und geopolitisch einschätzen kann, baut sich Berlin zur Drehscheibe zum Osten auf, was die Franzosen nicht so gerne sehen. Daher ist das Interesse französischer Investoren und Spekulatoren an Wien nicht zufällig. Wien hat also auf der einen Seite die Chance, wieder zu einer wirklichen Drehscheibe zu werden, auf der anderen Seite kann Wien natürlich die Stadt bleiben, die sie ist. Das heißt, daß in zwanzig Jahren irgendwer daherkommen kann und sagen: Mein Gott, so hat Budapest, so hat Prag und so hat Ostberlin einmal ausgesehen — in den 70er Jahren.

Sladek: Das heißt, Wien soll zum Souvenir der letzten Jahrzehnte des zweiten Jahrtausends werden?

Prix: Die ganze Ringstraßenarchitektur, die man so bewundert, ist eigentlich drittklassige Architektur, war schon zum Zeitpunkt der Erbauung ein historisches Museum. Diese Tendenz besteht nach wie vor. Wir können durch die EXPO aber auch die Vorteile einer Großstadt, die Entwicklung einer komplexen Struktur wahrnehmen.
Die Nachteile sind eindeutig das rapide Wachstum, die Slumbildung und ähnliches.

Was mich stört an der EXPO-Diskussion, ist das ewige Nachfragen nach kulturellen Inhalten. Man soll die EXPO so nehmen, wie sie ist. Sie ist eine Zirkusveranstaltung für ein halbes Jahr mit einem unheimlichen ‚impact‘ für die Infrastruktur und mit der Möglichkeit, sich städtebaulich überlegen zu dürfen, was für Möglichkeiten in Entwicklungsachsen stecken könnten.

Sladek: Trotzdem stellt sich die Frage, was denn nun in diesem Zirkuszelt stattfinden sollte, was als diese proklamierte „Brücke in die Zukunft“ angeboten werden soll.

Steiner: Da darf man sich nicht allzu viele Illusionen machen. Die Weltausstellungen sind ein 1851 erfundenes Produkt, das gewisse Gesetzmäßigkeiten hat, so wie Formel I-Rennen, die überall in verschiedenem Ambiente, jedoch mit relativ klaren Konzeptionen abgewickelt werden.

Wir versuchen jetzt, inhaltlich ein bißchen darauf zu reagieren, daß der Weltausstellungszirkus zum ersten Mal seit mehreren Jahrzehnten ins Herz Europas zurückkehrt — noch dazu in einer äußerst spannenden geo- und kulturpolitischen Situation — und auf eine Substanz trifft, die ganz andere Botschaften vermitteln kann als in Brisbane oder Vancouver. Durch diese Gewaltaktion EXPO kann es zu einer Überprüfung dessen kommen, was in Wien noch notwendig ist. Deshalb haben wir vom Kulturbeirat dieser Brückenmetapher das Motto „Was trägt noch“ untergefuttert. Da sich Wien bei der EXPO sowieso als Museum präsentieren wird, muß man sich radikal fragen, bitte, was hat davon noch Sinn. Und den Kopf frei macht, um in neue Gedanken und neue Dimensionen zu kommen.

Sladek: Welche Resonanz findet genau dieser Gedanke in der Bevölkerung? Wie weit ist die Bevölkerung bereit, diesen Modernisierungsschub mitzutragen, selbst Interesse für diese Art der Stadtentwicklung aufzubringen?

Steiner: Das größte Problem bei der EXPO sind die Wiener, das hab’ ich immer gesagt.

Banik-Schweitzer: Das läuft, glaube ich, jetzt auf zwei Ebenen. Wir haben gesagt, wir betrachten die EXPO als einen Schock, der etwas auslösen kann. Die EXPO scheint mir als Ereignis nicht so sehr problematisch. Das muß man den Profis überlassen, und das wird halt ein Fest sein, nicht wahr? An sich läuft ja tatsächlich ein Modernisierungsprozeß in Österreich. Langsam, aber doch. Und den könnte man auf diese Art und Weise einfach ein bißchen beschleunigen.

Steiner: Aber doch eher im Westen, der Osten ist abgekoppelt.

Weiterer Tourismus vernichtet seine eigenen Grundlagen. (Banik-Schweitzer)

Banik-Schweitzer: Sicherlich, wenn man die letzten Wirtschaftsdaten ansieht, hat Wien die rote Laterne. Das liegt zunächst einmal gar nicht im kulturellen, sondern in ganz simplen ökonomischen Bereichen. Man muß gegen die typisch österreichische Mentalität ankämpfen. Man muß ankämpfen gegen den Untertanengeist, man muß ankämpfen gegen die Wettbewerbsscheu, gegen diese Harmoniesucht. Sozusagen gegen alle österreichischen Sekundärtugenden. Die stehen im Grunde genommen der Moderne schlicht und einfach feindlich gegenüber. Ich bin vollkommen davon überzeugt, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt.

Es kann natürlich auch sein, daß die EXPO total verpufft. Das war halt dann das Fest, es kommen ein paar hunderttausend Leute pro Tag, und außer Spesen nichts gewesen. Außer vielleicht die Auswirkung auf die Infrastruktur.

Sladek: Hundertausend Besucher pro Tag müssen aber auch nicht kommen.

Steiner: Das läßt sich steuern. Diese Großveranstaltungen, Freizeitparks und ähnliches werden über ein knallhartes Marketing-Management gesteuert. Bis 1995 wird Europa voll mit diesen Leisure-Parks sein, angefangen beim Disneyland bei Paris. Es kann gar nicht mehr dem Zufall überlassen werden, wer wohin fährt. Wir werden eine — wenn möglich intelligente, vom großen Bruder gesteuerte — Tourismusindustrie haben. Ein Beispiel ist die van Gogh-Ausstellung in Amsterdam, da kommen Sie überhaupt nur hinein, wenn Sie vorher gebucht haben, dann bekommen Sie ein Ticket, auf dem draufsteht, an welchem Tag Sie um wieviel Uhr in die Ausstellung können. Es geht gar nicht mehr anders, weil Sie die Massen anders nicht mehr durchbringen. Und genauso wird’s bei der EXPO auch sein. Die werden ein Jahr vorher wissen, wie viele Leute an welchem Tag da sein werden.

Sladek: Die Kehrseite davon ist, daß Wien zur Kulisse des Massentourismus degradiert wird. Die Wiener werden dadurch ihre Abwehrhaltung nicht gerade reduzieren.

Prix: Ich glaube, man muß einmal die Alternative aufzeigen. Die Alternative ist ein Durchzugsland oder eine Durchzugsstadt, wo die Leute nur mehr durchfahren und wir sozusagen ins Auspuffrohr der Autos schauen, die durch Wien, durch Österreich fahren, um nach Budapest, nach Prag oder wo auch immer hinzugelangen. Es passieren schwere Fehler, indem man die EXPO immer negativ verkauft und diese mögliche Innovation nicht zur Kenntnis nimmt. Erst neulich beschrieb man die EXPO vor hundert Jahren und den Erfolg, nämlich eine Pleite, Brand und Börsenkrach. In Wien belegt man sofort alles negativ.

Steiner: Mein Problem, seitdem ich in Wien arbeite, ist immer diese provinzielle Situation dieser Stadt, und diese Provinzialität stößt mir bei den EXPO-Vorbereitungen schon jetzt auf. Es gibt nur Informationen und Gutachten aus zweiter Hand. Man wagt sich nicht international an die Leute heran, die wirklich wissen, wo’s langgeht. Erfahrungen mit den Docklands in London werden von Wiener Bankern abgeschrieben, statt daß man die Leute holt und direkt mit ihnen redet, was dort passiert ist.

Wenn wir uns ausschließlich mit der Hauptnutzung des EXPO-Geländes beschäftigen, befinden wir uns 1996 oder ’97 in einem Loch, wenn wir nicht schon vorher die Notwendigkeit der Dienstleistungseinrichtungen erkennen. Da habe ich eine gewisse Angst, daß man alles auf 1995, ’96 und ’97 zuschiebt und vergißt, daß wir schon 1990, ’91 und so fort einen Bedarf haben. Wie aber dieser Knoten zu lösen ist, also schon jetzt Dienstleistungseinrichtungen verstärkt zu modernisieren und zu errichten und trotzdem 1996 einen Bedarf am konkreten Gelände zu haben, das weiß ich nicht.

EXPO: Zirkus­veranstaltung mit einem unheim­lichen ‚impact‘ für die Infrastruktur. (Prix)

Prix: Die Situation derzeit ist ein tickende Zeitbombe — aber im positiven Sinn, nachdem wir Explosionen lieben, hoffen wir, daß die Explosionen auch tatsächlich stattfinden. Momentan fordert einen die Situation heraus, Leitbilder und Leitprogramme zu entwickeln, was bis dato nicht der Fall war. Es wurde einem geradezu verboten, weil ja eh alles klaß war, wie es war. Ich wünschte mir ein Instrument in der Stadtplanung, mit dem man sofort auf Veränderungen reagieren könnte, eine Art Ombudsmann. Ich glaube nicht, daß die Stadtplanung bis ins Jahr ’97 extrapolieren kann, denn wer weiß, wie sich bis 1995 die Stadt entwickelt hat.

Das hat natürlich auch mit der Nabelschau von Wien zu tun. Die Sichtweite der Wiener, auch der Wiener Kultur- und Architekturkritiker, reicht maximal bis St. Pölten. Und alles, was über St. Pölten hinausgeht, ist irgendwie verdächtig.

Sladek: Der vorliegende EXPO-Katalog erweckt eher den Anschein, als ob ein Aufspringen auf einen bereits abgefahrenen Zug der metropolen Entwicklung geplant wäre. Damit meine ich den monumentalen Charakter des gegenwärtigen Städtebaus — siehe Paris —, dessen Nachahmung bei uns etwas Aufoktroyiertes an sich hätte, also kein Produkt einer gelebten Entwicklung wäre.

Steiner: Ich halte es durchaus für eine Perspektive, ein Jahrhundertwende-Disneyland aus Wien zu machen. Da läßt sich auch sehr gemütlich wohnen, wie Rogner mehrfach beweist. Sicherlich hat Wien zur Zeit die höchste Lebensqualität, es hat die Weltkompetenz in der Frage der Gemütlichkeit von allen europäischen Großstädten. Wir müssen zu neuen Formen des Miteinanders, der Kommunikation kommen, und zwar durch Infragestellung der Gewohnheiten.

Banik-Schweitzer: Wenn wir hinter der internationalen Entwicklung herhinken, sollte man nicht so tun, als könnte man ihr ein Schnippchen schlagen und plötzlich an der Spitze stehen. Auch das berühmte „Rote Wien“ ist im Grunde genommen eine Reaktion auf einen Notstand. Unter den damals gegebenen Bedingungen war das Konzept sicherlich ein optimales. Doch: ich kann nicht die Metropole des 21. Jahrhunderts werden, wenn ich noch nicht einmal die des 19. Jahrhunderts bin. Man kann aus Idealismus nicht ganze Entwicklungsstufen überspringen, wenn die Basis fehlt. Wir sind gerade dabei, uns diese Basis zu erarbeiten, und das wird Friktionen nach sich ziehen. Das heißt ziemlich klar, daß das Geld, das wir jetzt in den ökonomischen Bereich lenken müssen, uns im sozialen und kulturellen Bereich fehlen wird. Das wird sich nicht anders machen lassen.

Steiner: Ich gebe mich ja mit dem Schlagwort zufrieden, daß in Wien jener ein Avantegardist ist, der als erster etwas nachmacht. Wenn man ihn das machen läßt, sind wir schon wahnsinnig weit vorn. Bisher wurde ja selbst dieser verhindert, der als erster was nachmacht.

Prix: Eines darf man nicht vergessen: Wien ist eine Kleinstadt. Es hat 1,5 Millionen Einwohner. Daher denke ich mir, wenn wir nicht zum Parkplatz für die Trabis werden wollen, dürfen wir nicht nur Personen exportieren, sondern müssen auch Leistungen hier zulassen, die exportiert werden können. Das ist eine Chance im Städtebau. Ich glaube nicht, daß wir Wien umbauen sollten, aber man muß die Spitzenleistungen hier forcieren, sozusagen als Formel I-Rennwagen vorwegschicken. An kommt sicher das, daß die Leute sagen, Wien ist eine klaße Stadt, also hier passiert’s, und: Warum nehmen wir nicht die Ideen, die hier verwirklicht werden, für unsere Stadt. Jetzt erlaubt man’s nicht, macht Mittelmaß. Größere innovative Bauobjekte wären aber die einzige Chance, die wir als Stadt haben.

Steiner: Für große Dienstleistungsgebäude und für die Investoren, die das auch nutzen sollen, muß ein umfangreiches Marketingpaket geschnürt werden. Wien hat einiges anzubieten, geht aber nicht offensiv vor. Wenn ich mir anschaue, wie offensiv Berlin hier vorgeht, was die in einem ganz kleinen ‚Schlagobersbereich‘ der artifiziellen Architektur an Ausstellungen exportieren, Leute einladen, die z.T. für Berlin ganz grauenhafte Projekte machen, aber sie bleiben im Gespräch als Stadt. Und das Im-Gespräch-Bleiben ist auch auf der Entscheidungsebene des Topmanagements relevant. Das klingt alles sehr ökonomisch und nach Marketing, aber das sind die Tatsachen.

Sladek: Das „Rote Wien“ ist aus aus sozialpolitischen Notwendigkeiten entstanden, hat enorm zur Stabilisierung der politischen Lage beigetragen. Der gegenwärtige städtebauliche Impuls in Berlin kommt von der geplanten ‚Wiedervereinigung‘ Deutschlands. Gibt es derzeit in Wien einen direkten Handlungsdruck, auf den es reagieren müßte?

Banik-Schweitzer: Die Notwendigkeit ist gegeben, und zwar dringlich. Ich meine damit nicht die möglichen Arbeitsemigranten aus den Oststaaten. Wien muß sich klarwerden, daß es wirklich eine Provinzstadt wird, wenn jetzt nichts passiert. In Kürze wird Prag Wien überholt haben, und Budapest hat auch ganz gute Entwicklungschancen — und dann sind wir wirklich ein Museum.

Prix: Und vor allem sind wir in direkter Konkurrenz mit Berlin.

Steiner: Die Konkurrenz mit Berlin haben wir vor Jahren schon verloren, da war Westberlin allein schon stärker als das vereinigte. Ich würde es noch stärker formulieren: Wir sind mitten darin, die Konkurrenz mit Prag zu verlieren, nämlich in Hinblick auf die Ostkompetenz. Prag bzw. die Tschechoslowakei macht derzeit sehr subtil, sehr still, sehr ruhig einen weltweiten Werbefeldzug, um zunächst einmal der Ort der intellektuellen Auseinandersetzung zu werden. Die veranstalten große Kongresse in den nächsten Monaten, wo die Topleute der Welt zusammenkommen, gerade in den Geisteswissenschaften, und wo sich komischerweise außer dem Kardinal König und dem Fürsten Schwarzenberg keine Österreicher darunter finden. Die Prager sagen, ihr seid uns schon zu provinziell. Der Ansprechpartner von Prag ist Paris und nicht Wien. Das ist Tatsache.

Banik-Schweitzer: Erstaunlicherweise ist das vor zwei Jahren schon gelaufen. Wien um die Jahrhundertwende war total out, in war die Tschechoslowakei. Da war von Aufhebung der Grenzen bei weitem nichts zu ahnen.

Prix: Vielleicht gelingt es doch, etwas mehr Entscheidungsfreudigkeit in Wien hervorzurufen. Entscheidungen dauern hier endlos lang. Und in dieses Loch stoßen alle Intrigen, alle Gerüchte, die hier quasi Ersatzhandlungen für wirkliche Taten sind. Wenn es uns gelingt, mehr Entscheidungsfreudigkeit, auch persönlicher von Verantwortlichen, die nicht abgedeckt sein müssen von Meinungsumfragen, zu provozieren oder zu evozieren, dann könnte Wien den Wettbewerb nicht verlieren.

Wien, Nordbahnhofgelände

Banik-Schweitzer: Das sind die alten österreichischen Untugenden, die sich in Wien ganz besonders tragisch manifestieren. Wien hat immer geglaubt, weil es Wien ist, hat es einen Führungsanspruch. Der war jedoch niemals gerechtfertigt, sondern hat einfach darauf beruht, das es die Hauptstadt von diesem Reich war. Danach war diese Riesenbürokratie da, die heute noch so denkt wie damals, die immer nur verwaltet, aber niemals etwas initiiert hat. Auf der anderen Seite waren die Untertanen zufrieden, wenn man ihnen ihre kleine Region garantiert hat. Es ist niemals jemand gefordert worden.

Prix: Ich glaube nicht, daß es nur die Bürokratie ist; im Vergleich zu Los Angeles hat Wien eine äußerst effiziente Bürokratie. Es hat etwas mit der Kleinheit dieser Stadt und mit der Machtstruktur zu tun. Hier hat die Verwaltung die Macht, Freiräume zu begrenzen, die in größeren Städten vorhanden sind.

Banik-Schweitzer: Die Lage muß entbürokratisiert werden.

Steiner: Dieser Meinung bin ich nicht. Ich möchte diese geschlossenen Anstalten eine elegante Lösung des Arbeitslosenproblems nennen. Das ist ja nicht nur in Wien so, diese großen Verwaltungen hat man in Frankreich ebenfalls. Diese großen Verwaltungen sind nur mehr dazu da, sich selbst zu erhalten, sich selbst zu bespiegeln und die Akten im Kreislauf laufen zu lassen. Es müssen parallele Entscheidungsstrukturen geschaffen werden.

Laßt Baumeister und ihr Team arbeiten
Sladek: Es ist höchst an der Zeit, die sozialen Auswirkungen der von Ihnen intendierten Stadtplanung zu diskutieren. Soziale Klüfte vertiefen sich, eine Verslumung steht neuen City-Ausbauplänen gegenüber.

Prix: Wo sehen Sie in Österreich soziale Klüfte?

Banik-Schweitzer: Sie werden kommen, es tut mir furchtbar leid. Aber der Schutz der Arbeitnehmer sind die Gewerkschaften, nicht die Bürokratie oder die Stadtplanung.

Steiner: Darf ich Ihnen eine ganz böse Sache sagen: Ich habe mich vor Jahren schon, da war von einer EXPO überhaupt keine Rede, gewundert, wenn ich mir die Stadtstruktur Wiens anschaute, daß der 2. und der 20. Bezirk in einer hervorragenden städtischen Situation derart ökonomisch und auch wohnungspolitisch unterentwickelte Gebiete sind. In jeder anderen Stadt wäre da ein enormer Verdrängungsdruck unterwegs. Jetzt kommen wir zurück zur EXPO: Dieser Druck findet jetzt statt. Jetzt besteht die — zumindest offizielle — Politik, im Hintergrund spielt sich aber etwas anderes ab, eine Unterschutzstellung nicht nur der Häuser, sondern auch deren Bewohner. Ich sage jetzt klar und deutlich: das ist ein unstädtisches Verhalten. Seitdem es Stadt gibt, hat sie auch von solchen Verdrängungsprozessen gelebt. Das klingt sozial böse, ist es aber nicht, wenn ich weiß, daß das Instrumentarium der österreichischen Gesetzgebung vom Mieterschutz her groß genug ist, hier einen wirklichen sozialen Mangel aufzufangen. Wenn man das einmal in Frage stellen und sagen würde: Wohnungsvorsorge ist keine Titelverleihung von oben, sondern gehört zu den ursächlichen Notwendigkeiten der Selbstversorgung, dann kriegt das Ganze schon einen anderen Ansatz.

Sladek: Damit wäre der Anspruch auf das Recht auf Wohnen nicht mehr formulierbar.

Banik-Schweitzer: Ein Recht auf Wohnen gibt es nirgends, auch in unserer Gesetzgebung nicht. Die Sozialdemokratie hat, solange es die finanzielle Situation zugelassen hat, gesagt: Wohnung darf keine Ware sein. Die besondere Betonung liegt auf darf. Sie hat nie gesagt, Wohnung ist keine Ware. Das heißt aber nicht, daß ich prinzipiell einem Manchesterkapitalismus das Wort rede, davon kann gar keine Rede sein. Nur: Ich muß es zuerst erwirtschaften, was ich verteile. In unserem Gesellschaftssystem muß man drauf schauen, daß zuallererst die Wirtschaft in Spitzenpositionen ist.

Alt-Erlaa am Handelskai. Entwurf Harry Glück
Sladek: Um auf die Stadtplanung zurückzukommen: Wirtschaftspolitik getrennt und anstelle von Wohnungspolitik zu betreiben, bedeutet, die große Mehrheit der sozial schlechter Gestellten in Slums oder Wohntürme am Stadtrand abzuschieben.

Prix: Stadtplanung ist sicher kein Instrument für Regelung jedes Lebensbereiches.

Banik-Schweitzer: Man muß sich im klaren sein, daß diese sanfte Stadtentwicklung nicht mehr greift. Wenn man ein guter Politiker ist, müßte man erkennen, daß sich diese Veränderungen, die sich jetzt abspielen, in einer anderen Stadtentwicklungspolitik niederschlagen müssen. Und die wird soziale Härten am Anfang bringen. Das ist klar. Aber ich sage ja nicht, daß die City sich in die Gründerzeitviertel hineinerweitern soll. Im Nordbahnhofbereich sind ja sehr große Flächen überhaupt nicht durch Wohnungen genutzt worden. Dort gibt’s zum Teil Industrie, zum Teil die reichlich großen Gleisanlagen, zwischendurch sind auch Wohnblocks, zugegeben. Wenn ich aber zulassen würde, daß sich die City in die Josefstädterstraße hineinverlagert, dann würde es zweifellos mehr Wohnraum zerstören, als wenn man ihr die Entwicklung dort ermöglichte.

Steiner: Ich möchte noch ergänzen, daß sich diese Frage — sanfte Stadterneuerung im Gegensatz zu einer großräumig gedachten Stadterneuerung, die sozusagen Ökonomie und Wirtschaft einbezieht — international in den 80er Jahren stellt.

Interessant is: Wenn man mit Leuten spricht, die über die Probleme der Stadtentwicklung nachdenken, findet man keinen, der bündige und schlüssige Argumente gegen die EXPO sagen könnte, selbst nicht der Christoph Chorherr. Außer dem Argument, daß sich nichts in dieser Stadt ändern darf. Nur möchte ich das Szenario Wiens unter der Prämisse, es darf sich nichts ändern, wo sich doch pausenlos was ändert, einmal am Tisch haben.

Prix: Das wird sich nicht halten lassen. Spätestens in fünf, sechs Jahren wird sich dann etwas geändert haben. Und zwar auf der negativen Seite.

Banik-Schweitzer: Es steuert in Richtung einer Musealisierung, die sich aber letztendlich selbst nicht tragen kann. Denn weiterer Tourismus vernichtet seine eigenen Grundlagen. Durch diese kurzfristigen Einnahmen zerstöre ich tatsächlich meine Lebensgrundlage. Das kann kein Konzept für eine zukünftige Stadt sein.

Prix: Das ist die Frage, wie der Städter mit seiner Stadt umgeht. Das ist ein wesentlicher Punkt. Wenn man die Stadt als Versorgungsinstrument sieht, wo man alle Vorteile ins Haus geliefert bekommt, dann wird man mit diesen Problemen nicht zu Rande kommen. Ich glaube, die EXPO ist ein Anlaß, Wien zu einer Stadt des ein- und ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts zu machen, zu einer Stadt, die ein Labor ist. Monofunktionale Städte werden in Zukunft nicht mehr funktionieren, die brechen zusammen, die brechen ab. Städte sollten als Labor dienen, wo man Sachen probiert — funktionieren sie, werden sie weiterentwickelt, funktionieren sie nicht, wird man sie weglassen. Dann wird die Stadt aus der Monofunktionalität der sanften Stadterneuerung, die, wie man weiß, wirklich bergab führt, zu einem multifunktionalen, komplexen System werden, wo es sich die Leute richten können, wie sie es haben wollen. Die EXPO wäre eine Chance, die Schleusen, die jetzt noch zu sind, einfach aufzumachen, keine Angst vor sogenanntem Chaos zu haben, das ganze kreative Potential positiv zu besetzen, werken zu lassen und das Experimentieren zuzulassen. So wird eine Stadt funktionieren — müssen.

Banik-Schweitzer: Genau diese Schleusenöffnung muß passieren. Die Kleinmütigkeit muß durch Wagemut abgelöst werden.

Prix: Das glaube ich auch. Nachsatz: die hier so geschätzte Gemütlichkeit ändert sich in einem kalten Zimmer.

Steiner: Es wird härter, aber es ist die einzige Alternative zum Sterben.

Banik-Schweitzer: Das ist die Voraussetzung für die Veränderung in der Zukunft.

Sladek: Ich danke für das — erbauliche — Gespräch.
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