FORVM, Burgeriana
Oktober
2021
Teil 1/3: Über einen Revisionsversuch mit Hindernissen

­Rudolf Burgers Glück
nach dem Ende

Besichtigung zweier Bücher

Das eine brachte der Postbote am 3. Juli. Absender: Sonderzahl, handschriftliches Begleitbillett in Versalien: Mit herzlichen Grüszen, Unterschrift (unleserlich). Autor: Rudolf Burger, Herausgeber: Bernhard Kraller, der im Nachwort meine Hinrichtung zelebriert: wegen schlechten Stils und Mangels an Bildung sowie beruflich fachfremden Vorlebens in Tateinheit mit Hochstapelei durch Vorspiegelung nicht vorhandener Fähigkeit in mehrerlei Hinsicht; demgemäß hat er mich in mehreren Tötungsarten exekutiert: Erschossen, erhängt, ertränkt, erschlagen, verbrannt, vergiftet und schnell noch gekreuzigt, indem er mir religiöse Motive nachsagt; kurzweilig elaboriert, mit tatsächlichen Behauptungen garniert und mit Gusto serviert. [1] Durch so viel öffentliche Aufmerksamkeit nicht verwöhnt, will ich sie dankbar gehörig belohnen.

Das zweite Buch, nicht minder interessant, von Wolfgang Müller-Funk erschien einen Monat später im selben Verlag – aber sehen Sie selbst.

Bevor ich mir diese Kurzweil gönne, blättere ich noch etwas darin – es hat ja mehr als 500 weitere Seiten und die Neugier juckt. Außerdem hatte ich an der Entstehung zwar keinen aktiven, doch informationellen Anteil, von dem ich berichten will, schon um die Befassung mit den Details in jenem Pamphlet etwas hinauszuschieben. Prokrastinieren kann ja so schön sein, besonders, wenn von Vorfreude überglänzt.

„Du hast“, hatte Kraller am Tag nach Burgers Tod und nachdem ich kondoliert hatte, am Telefon gesagt, „Du hast mit’n Anders an Vorteil gegenüber mir mit Burger…“

„Der ist ein anderes Kaliber“, fiel ich ihm herzlos ins Wort, gar nicht wissen wollend, wozu der absurde Vergleich.

„…ein anderes Kaliber“, wiederholte er tonlos. Mit der Frage nach Burgers näheren Todesumständen, die er aber auch nicht genau kannte, kamen wir in andere Geleise, die sich bald verliefen.

Ich hing seiner Bemerkung noch etwas nach. Konnte ich ausschließen, dass ich bloß aus Befangenheit einen qualitativen Unterschied sah? Schließlich waren auch die meisten Bücher von Anders, ganz wie die Burgers, zuvor schon kapitelweise in Zeitschriften erschienen, fügten sich allerdings, besonders in Die Antiquiertheit des Menschen, seinem zweibändigen Hauptwerk, folgerichtig zusammen. Mensch ohne Welt wiederum ist ein Sammelband unverbundener Einzelessays über literarische und grafische Kreative, die Ketzereien stehen so wenig wie die Philosophischen Stenogramme unter einem einigenden Thema, bestehen aus gelegentlichen Reflexionen ohne stringente Ordnung. Von dieser gedanklichen Sackgasse gleich in die nächste: Burger wie Anders hatten mit exzellent formulierten politischen Interventionen und davon ausgelösten Kontroversen ihren Ruf sich redlich erworben. Waren es nur die gewählten Themen, die den einen zur hervorragend intellektuellen Figur in Österreich, regional oft tonangebend und ausstrahlend immerhin manchmal in andere Teile des deutschen Sprachraums, während den anderen einige seiner Titel in vielen Sprachen zu internationaler Beachtung, um nicht zu sagen: Weltgeltung brachten? Von Burger, dessen Wirken ich, seit er gegen Ende 1997 mit mir gebrochen hatte, nicht mehr beobachten mochte, kenne ich auch jetzt und trotz einigermaßen gründlicher Beschäftigung keinen Titel, der zu Lebzeiten außerhalb seiner Interventionsräume oder gar bei späteren Philosophie- und sonstigen Historikern besonderes Interesse, gar nachhaltig wecken könnte. Zur Hölle mit seinem ressentimentgeladenen Vergleich, rief ich mich endlich zur Ordnung. Bis Anfang Juli.

Das Opus Postumum Primum

Außenansicht nebst Abschweifung

Da hatte also die Post das Buch von Burger gebracht, seinen ersten posthumen Band, herausgegeben von Kraller; am Umschlag eines seiner 27 Fotos, die er mir Mitte Oktober mit der Frage zugeschickt hatte, welches ich für das Cover empfähle. Nun prangte dort ausgerechnet jenes andere der 8 Aufnahmen vor der Albertina, von dem ich abgeraten hatte, weil es das Gesicht besonders unvorteilhaft, wie zerfallend zeigte. Genau dieses musste der Ko-Verleger von Sonderzahl und Buchgestalter Matthias Schmidt

verwenden, um sein exquisites Cover abzuliefern, glänzend die Wahl dieses Fotos rechtfertigend: Schwarz/Weiß mit Grautönen, im originalen Druck um einiges dunkler als die Abbildung beim Verlag im Internet, sind die Gesichtszüge nicht mehr so grausam genau wie auf dem Farbfoto auszunehmen und die großformatige Zeitung als fotogenes Requisit verleiht der unbewegt dunklen Gestalt, stark kontrastiert vor graumelierter Mauer, beinahe soetwas wie Lebendigkeit. Die Titelschrift, wenn das Auge nicht täuscht, in der Schmuckfarbe Hellrostrot, das gelbe Positionstaferl des Gaswerks von der Mauer wegretouchiert. Fazit: Die Außenansicht ist unbedingt bewunderungswürdig, eine Visitenkarte seiner Buchkunst in der Qualität, für die Matthias Schmidt berühmt ist.

Ähnlichkeit. Die versprochene Abschweifung

Gleichfalls von Schmidt ausgestattet, erschien einen Monat später im selben Verlag eine andere Augenweide mit bemerkenswertem Inhalt: Die Kunst des Zweifelns. Einträge zur Philosophie in ungefügen Zeiten von Wolfgang Müller-Funk: nachdenkwürdige Lehrstücke in zwanzig Miniaturen, alphabetisch geordnet, deren erste in drei Abschnitten die Bedeutung von Ähnlichkeit subtil diskutiert. Subtil und einleuchtend, auch wenn der Versuch, den „Konflikt zwischen der islamischen und der westlichen Welt alternativ im Sinne der Ähnlichkeit“ zu deuten, wenig aussichtsreich und mir der Schluss des Abschnitts II., S. 29 unverständlich bleibt. Dort führt er den Unterschied von Gleichgültigkeit und Gleichgültigkeit ein; wo er diesen dann diskutiert, scheint der Setzer verwechselt zu haben, welche Wortteile jeweils hervorzuheben waren. Da stutzt man kurz, es bleibt aber nicht weiter sinnstörend, weil ja erklärt wird, die erste Form bedeute das „Plädoyer für eine gewisse Indifferenz gegenüber Differenz“ und trage „einen Vorschlag zur Gelassenheit vor“; die zweite hingegen „den reziproken Akt der Anerkennung der beiden Gegenüber, Individuen wie Gruppen“. Auch dem nächsten Satz kann ich noch folgen: „Gewiss gehört die Anerkennung unserer Einzigartigkeit zum menschenrechtlichen Grundbestand.“ Dann jedoch: „Aber auch darin sind wir anderen Menschen ähnlich.“ – Quod non: im menschenrechtlichen Grundbestand sind wir vielmehr anderen Menschen, und zwar allen Menschen, gerade nicht mehr nur ähnlich, sondern sogar gleich. So wird es allerdings nur bei Anerkennung entweder allgemeiner Menschenrechte oder allgemeiner Gotteskindschaft gesehen, also unter der gemeinsamen Prämisse von moderner Religiosität und aufgeklärter Säkularität. Vollkommen anders unter der Prämisse offenbarten Vorrangs eines bevorzugten Gottesvolks oder historisch legitimierten Vorrangs von Aristokratie, Volk oder Rasse, wo einer irgendwie bestimmten Teilmenge Menschen – einer Klasse, einer Schicht, einem Volk, einer Hautfarbe oder den Rechtgläubigen – ein Vorzugswert beigemessen wird und z. B. die Irrlehre einer Gleichwertigkeit der Ungläubigen und Rechtgläubigen mit 10 Jahren Freiheitsentzug, 1.000 Stockhieben, einer hohen Geldstrafe sowie weiteren 10 Jahren Ausreiseverbot bestraft wird; und mit dem Tod der Abfall vom Glauben. Die zwei Prämissen begründen nicht bloß differente/unterschiedliche, sondern einander entgegengesetzte/konträre/kontradiktorische Kulturen: Bei Vorliegen territorial konkurrierender Ansprüche müssen sie widereinander in einen Konflikt geraten, der sich nicht „alternativ im Sinne der Ähnlichkeit“ deuten lässt. Hier für „eine gewisse Indifferenz gegenüber der Differenz“ zu plädieren, verkennt die kategoriale Kontradiktion der beiden Prämissen. Wohl zeigt die „westliche Welt“, wo sie den „menschenrechtlichen Grundbestand“ verletzt, also gar nicht selten, tatsächlich eine fatale Ähnlichkeit zur islamischen – mit dem prägnanten Unterschied, dass in dieser zur positiven Norm gehört, was in jener deren Verletzung darstellt. –

Gerade wie die zwei Prämissen, ähneln diese zwei Bücher in ihrer gleichermaßen Schönheit nicht im Mindesten einander. Kein Bild auf dem Umschlag bei Müller-Funk, nur zweizeilig ein schwarzer Titel zwischen weißem Autorennamen und weißem, zweizeiligem Untertitel. Die Schriftzeichen liegen wie auf einem Seidentuch: dunkelvioletter Hintergrund mit kleinteilig serieller Textur – das musste einem erst gesagt werden, nur durch die Lupe war es dann auch zu erkennen: Diese Textur bilden, beziehungsvoll den Titel visualisierend, paarweise Fragezeichen in Türkis: je eines steht wie an spanischen Satzanfängen auf dem Kopf und sein anderes aufrecht in schmalen, etwa 35 Grad von links ansteigenden Zeilen, unzählige Paare so angeordnet, dass ihre Zwischenräume vertikal sanfte Schlieren bilden. Das Muster könnte Koloman Moser für einen kostbaren Damenschal entworfen haben.

„Über Gott und die Welt und die Liebe“

Reizvoller Titel mit Verblüffungseffekt

Ist denn die Liebe für Burger und/oder Kraller nicht von dieser Welt, identisch mit Gott aber auch nicht? Übersetzt in die Worte des großen Gunkel hieße der Titel vielleicht: Über eh alles und noch ein Bissel. Hier ist er schön ins Poetische gewendet, was die Verblüffung mildert und den Eindruck verwischt, es könnte sich um eine Art Summa philosophica oder philosophiae handeln, sozusagen Burgers System.

Innenansicht. Eine Streifung

68 Interviews und Gespräche mit diversen Kollegen und Journalisten zwischen 1992 und 2020 zeigen Burger auf der anhaltenden Höhe seiner glänzenden Sprechfähigkeit. Dazu je ein Beitrag von Peter Strasser und Ernst Strouhal sowie das Nachwort des Herausgebers, der zudem einen Leitfaden vorausschickt, damit man sich in dem ingeniösen Bau auskennen soll: Die Wechselreden aus beinahe dreißig Jahren erscheinen nicht in chronologischer Folge, sondern fünf Großthemen inhaltlich zugeordnet, zwei davon nochmals unterteilt, und zur Orientierung lebende Kolumnentiteln in der Paginazeile. Das Konzept könnte es allerdings erschweren, die Entwicklung eines Denkens nachzuvollziehen; falls es sich entwickelt hatte und nicht in jedem Stadium, außer sprachlich fein ausgefeilt, auch sachlich zu Ende überlegt und jeweils bereits in dauerhaft gültigem Status vorgelegt wurde. Eines der Gespräche, das besonders reichhaltige von 2018 mit Liessmann, erscheint themengemäß geteilt und in zwei verschiedene Unterabteilungen von „Welt“ einsortiert: Der zweite Teil 50 Seiten vor dem ersten, dessen Vorspann Spannendes über die Sophisten, Adorno, „die Aufklärung, den Nihilismus und den Rechtsphilosophen Carl Schmitt“ verheißt. Die Schmitt-Passage sucht man dann hier, hinten im ersten Teil, vergeblich – sie steht erst gegen Ende des Gesprächs der beiden Wiener Philosophen im zweiten Teil, der sich aber viel weiter vorne in diesem Buch befindet. Ein lässliches Versehen, das dem sonst so genauen Kraller unter weniger belastenden Umständen eher nicht unterlaufen wäre.

Ein unangenehmerer Nebeneffekt folgt aus dem Auswahlprinzip der Beiträge, das der Untertitel benennt: „Interviews und Gespräche“ beziehen sich naturgemäß gewöhnlich auf einen oder mehrere der nicht selten aufsehenerregenden Artikel, mit denen Burger in aktuelle Diskussionen eingegriffen und zu schwelenden Themen oder was ihm gerade wichtig war, öffentlich auf die Pauke gehauen hatte. So hängen alle dialogischen Bestandteile, die sich auf nicht mitgelieferte Essays, Traktate und Interventionen [3] beziehen, in relativ dünner Luft, immerhin eindrucksvoller Lesestoff, der die Gespräche und Interviews schon bei ihrer ersten Publikation gewesen waren, aber jetzt ohne den Zusammenhang, der sich aus der zeitlichen Entfernung nicht mehr immer so ganz erschließen will. So hatten der Autor und sein Herausgeber das Buch ursprünglich nicht gedacht, sondern der Plan war ja gerade, Burgers Irrtümer der Gedenkpolitik neu aufzukochen, in der Hoffnung oder Erwartung, etwas wie den seinerzeitigen Hype wieder zu entfachen.

Der Beitrag hatte 2001 heftigen Widerspruch hervorgerufen und Burger, dessen oft kühne Interventionen ihn zu einer intellektuellen Leitfigur avancierten, plötzlich zu einem Außenseiter gemacht. Nach einer erbitterten Auseinandersetzung mit Wolfgang Neugebauer, dem Leiter des „Dokumentationszentrums des österreichischen Widerstandes“ verließ Burger dessen Kuratorium, in dem er wohl schon seit seiner Zeit als der für die Subventionierung zuständige Ministerialbeamten gesessen hatte. Eine spätere Buchpromotion vorzubereiten, schrieb Kraller Anfang 2021 ein Mail an Neugebauer. Mit der dritten Fassung zufrieden, stellte er ihn wegen der alten Querele zur Rede und forderte ihn auf, seinen damaligen Vorwurf zu revidieren. Das schickte er, als halböffentlichen Brief, mit der Bitte um Stellungnahme an zahlreiche andere Personen, großteils solche, die sich schon 2001 an der großen Erregung beteiligt hatten.

Den schönen Plan durchkreuzte der Verlag im Februar oder März, als er verlangte, das ausgeuferte Manuskript auf eine verträgliche Seitenzahl zu kürzen. Der Einfachheit flogen daraufhin alle Artikel Burgers hinaus, wodurch sich zwanglos der jetzige Untertitel ergab: nur mehr die Gespräche und Interviews waren ja übrig geblieben. Was hinausgeflogen war, sollte schon im Herbst oder Winter 2021 gesondert herauskommen. So erschienen dialogische Texte, die sich auf Artikel Burgers bezogen, Anfang Juli von diesen getrennt – ein Manko besonders bei den Beiträgen, [4] für deren Verständnis es günstig wäre, Burgers Irrtümer „der Gedenkpolitik“ im Original zu kennen. Diesen relativ langen, zwanzig Jahre alten Artikel hatten Burger und sein Herausgeber ja ursprünglich in diesem Buch Über Gott etc. wieder verlautbaren wollen und sich jene pfiffige Promotion dafür ausgedacht. Ob es nicht besser gewesen wäre, die hierauf bezogenen Interviews mit auf den nächsten Band zu verschieben? Überdies wird verschwiegen, dass die Hefte der Zeitschrift mit dem Erstdruck des Skandalessays und dem großen Schwung der davon entfachten Diskussion in der Nationalbibliothek kostenlos zum Download angeboten werden. [5]

Das Bündel an Diskussionsbeiträgen will allerdings in zwei Teilen abgeholt werden, weil ANNO nur Portionen zu höchstens 50 Seiten erlaubt. Dabei lohnt sich das Bündel der überwiegend profunden Diskussionsbeträge schon wegen der Kritik von Alfred Pfabigan: Was soll vergessen werden, warum und von wem? Anmerkungen zu Rudolf Burgers „Plädoyer für das Vergessen“ [6]

Er analysiert Burgers schleißigen Umgang mit Foucault und Freud, [7] der in meinem sonst ziemlich ausführlichen Rudolf Burger Austrokopernikus mangels ausreichenden Kenntnissen schmerzlich vernachlässigt blieb.

Das Manuskript um alle Artikel zu kürzen, musste eine völlige Neukonzeption für die Struktur des Buches nach sich ziehen und für den Herausgeber zudem bedeuten, dass er auch seinen eigenen Beitrag anpassen musste.

Im ersten der von ihm herausgegebenen Burger-Titel hatte er noch die Essays und Interviews thematisch vereint, und Krallers Versuch, Rudolf Burger misszuverstehen, wie er sein Nachwort Kältetechnik im Untertitel erklärte, war ein Parcours der Abfertigung von Kritik, die seinen Helden etwa treffen konnte. In vorbildlicher Recherche hatte er herausgefunden, dass Burger keineswegs Urheber oder Verbreiter der These war, einen Bürger- und Sezessionskrieg wie in Jugoslawien müsste man „ausbluten lassen“, wie Lingens, Müller-Funk und ich voneinander unabhängig gemeint hatten. Ganz richtig erzählte er dann, dass ich diese fälschlich als Burger-Ondit kolportierte These mit einem Artikel Burgers in einer Dresdener Zeitschrift, [8] die sich der intellektuellen Aufmunitionierung der rechtsextremen Pegida widmete, in Verbindung gebracht hatte. Den wahrscheinlich berechtigten Persilschein hinsichtlich des Ausblutens in Ex-Jugoslawien benützte Kraller ohne weitere Begründung dazu, die Kritik an Burgers pauschaler Verunglimpfung aller Syrien-Flüchtlinge als Feiglinge, die in den Freiheitskampf für ihre Heimat zurückkehren sollten, zu übergehen, als wäre dieser Vorwurf mit dem „Ausbluten“ bereits mit erledigt.

Jenem „Versuch, Rudolf Burger misszuverstehen“ stellt Kraller diesmal, schön korrespondierend, einen „Versuch, Rudolf Burger zu verstehen“ zur Seite, wieder im Untertitel zu seinem Nachwort „Heuchelei“ – denn alle Kritik an Burger, die er erwähnenswert findet, als Heuchelei misszuverstehen, bemüht er sich nun, keinen Zweifel noch Widerrede bei sich aufkommen lassend, mit vollem Erfolg. Das wusste ich natürlich noch nicht, als er mich anrief, um zu erzählen, dass er sein Nachwort nochmals hatte umschreiben oder ergänzen müssen.

Kleines Telefonhörspiel

„Was hast denn Neues schreiben müssen?“ fragte ich artig.

„Gegen dich natürlich.“, sagte er. „Das war sehr schwer.“

„Lass mich lesen!“

„Ich weiß nicht… da muss ich erst meinen Verleger fragen. Aber kannst du deinen zu langen Text [9] auf höchstens 30 Seiten [10] kürzen oder einen Teil für den Druck herauslösen?“

„Das geht nicht, das wäre ganz gegen die Methode, die war ja nicht grundlos gewählt.“

„Du könntest eine Zusammenfassung schreiben.“

„Dafür gilt dasselbe. Ich könnte höchstens was Neues schreiben, einen Aspekt, der zu kurz gekommen ist oder den ich gar nicht…“

„Ja, hast du denn nicht schon alles geschrieben? Gibt’s noch so viel?“

„Ja“, sagte ich, „gibt es. Was ich zu seinen ,Irrtümern‘ sagen wollte, habe ich allerdings schon alles geschrieben. Aber jedenfalls“, und damit beendete ich das Thema, „jedenfalls werde ich ganz bestimmt nichts liefern, bevor ich deine Gegenäußerung kenne.“

Natürlich habe ich sie nicht bekommen und erst im gedruckten Buch gesehen. Stattdessen hat er die zwei Bände seiner zeitgeschichtlichen Dissertation, die er mir vor wohl etwa drei Jahren gebracht hatte, etwas plötzlich abholen wollen. Ihr packte ich dann die elf privaten Fotos bei, die Burger – von seiner verstorbenen Frau Hannah und sich aus besseren Tagen von Reisen, Urlauben sowie daheim in Frankfurt und Wien – hatte eingescannt haben wollen. Die Scans hatte Kraller schon vor Monaten per wetransfer zur Weitergabe bekommen.

Beschluss

Der plötzliche Tod war für seinen Herausgeber, begreiflich, ein Schock und bedeutete neuerliche, wenn auch kleinere Änderungen für das Buch. Jetzt käme das Telefonat nach der Todesnachricht, aber das hatte ich ja eingangs schon erzählt. Offenbar wieder beim Ausgangspunkt angelangt, bin ich also im Kreis gegangen und es wird Zeit, mit Prokrastinieren aufzuhören und meine Hinrichtungen endlich tapfer ins Auge zu fassen.

Fortsetzung folgt.

[1Nachwort, Abschnitt 10, S. 461–463 mit Anm. 14–18, S. 477f.

[2Nachwort, Abschnitt 10, S. 461–463 mit Anm. 14–18, S. 477f.

[3So Burgers eigene Kennzeichnungen in seinen Büchern.

[4S. 37–69.

[5Die Irrtümer der Gedenkpolitik. Ein Plädoyer für das Vergessen in: „Europäische Rundschau“, Heft 2001/2, S. 3–13: [https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=eur&datum=2001&pos=175&size=45]

Dort fällt nur ein Unterschied zum späteren Druck von 2009 in Jenseits der Linie ins Auge, nämlich das neu hinzugefügte zweite Motto: „Kein Schmerz ist klein, wenn es wirklich weh tut, aber jeder Schmerz ist ein Witz, wenn er gehätschelt wird. Edward St. Aubyn“ – Sonst dürften, nur kurz drübergeschaut, die zwei Drucke textidentisch sein.

Dazu: Verdrängen? Vergessen? Erinnern? Eine Diskussion. Ebenda, Heft 2001/3, S. 3–70: [https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=eur&datum=2002&pos=333&size=45].

[6In: siehe vorige Anm., Verdrängen…, S. 47–54.

[7Siehe Burgers Scharade im ersten Abschnitt seiner „Irrtümer“. Ich nannte sie einen „witzigen Einfall“, Pfabigan hatte schon 2001 geschrieben: „funkelnder Einfall“.

[8Rudolf Burger: Die Unzulänglichen. In: Tumult. Vierteljahresschrift für Konsensstörung, Dresden, Heft Winter 2015/16, S. 17 f.

[9Rudolf Burger Austrokopernikus, Anfang April 2021 online erschienen.

[10Oder sagte er „bis 30.000 Zeichen“? Der kleine Unterschied ist in der Erinnerung noch weiter geschrumpft, weil beides ohnehin nicht in Frage kam.