Opfer? Pose?
Sehr geehrter Herr Oberschlick!
Gerade weil Ihre Zeitschrift immer wieder sachliche Beiträge zur Verdrängung der Nazizeit in Österreich bringt und besonders auch das Engagement von Christian Michelides dabei glaubhaft und existentiell erscheint, ist dieser Leserbrief leider nötig.
Ilse Aichinger war so tollkühn, gegen den vom FORVM phasenweise angeschlagenen Ton im »Fall Fussenegger« zu protestieren und sich zu distanzieren — von einer Sprache, die sie offensichtlich an frühere Erfahrungen erinnert. Geantwortet wurde ihr aber, primär von Herrn Michelides, in ebensolchem Ton. Zu drei Wendungen aus diesem »P.S.« drei Anmerkungen:
»die Opferpose der Frau Aichinger«: Dergleichen bekam Ilse Aichinger, deren jüdische Familie ermordet worden war, schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu hören: österreichische Kontinuitäten?
»diese widerliche, weinerliche Frage nach dem Verstecken«: Niemand hat Ilse Aichingers Großmutter, hat ihre Tante, ihren Onkel versteckt. Und: zwischen 1939 und 1945 wurde Juden auf die Frage nach dem Verstecken — genau von jenen, gegen die sich mit vollem Recht die Wut von Michelides richtet — exakt dies entgegengeworfen: »widerlich«, »weinerlich«.
»... daß nicht neue Aichingers in dreißig, vierzig Jahren neue Opfer beklagen dürfen«: Bitte Singular. In der österreichischen Literaturgeschichte gibt es nur eine Ilse Aichinger, auch der Bedeutung nach — Paul Celan, Nelly Sachs und Ilse Aichinger haben nach 1945 überhaupt erst eine Sprache suchen müssen für das Leiden der Opfer. Müssen, nicht »dürfen«. Und: Mit den Almosen einer Kölner Betschwester hat dies nicht das geringste zu tun. Schon eher mit der Schlußszene aus Bernhards »Heldenplatz«.