Robert Zöchling
Oktober
1990
JuristInnen als Intellektuelle?

Sind wir nichts als Funktionäre?

Es gibt Menschen, die Akademiker und Intellektuelle sind. Es gibt auch Menschen, die Akademiker und keine Intellektuellen sind. Und dann gibt es noch JuristInnen.

Was JuristInnen vor Angehörigen der meisten anderen Metiers auszeichnet, ist ihr im Verhältnis zu ihrer Qualifikation hoher sozialer Status und ihre im Verhältnis zu ihrem gesellschaftlichen Einfluß immense Ignoranz. Manche leiden darunter — die meisten fragen sich nicht einmal, was sie da tun. Uns interessieren die Leidenden.

Zur Einstimmung: eine Leidensgeschichte

Eine Juristin (der Name tut nichts zur Sache, wir werden sie ohnehin gleich wieder verlassen) hat den ersten Studienabschnitt hinter sich gebracht. Schon in der Einführungsvorlesung erfuhr sie eine kalte Dusche, als man ihr erklärte, daß man sich hier nicht für irgendwelche menschliche Fragen — oder Menschheitsfragen — interessiere, sondern ausschließlich für je geltende Rechtsnormen. Warum diese gelten sollten, und ob überhaupt, sei keine eigentlich juristische, sondern eine rechtsphilosophische Frage — und die Rechtsphilosophen seien ja keine richtigen Juristen. Damit waren für unsere Kollegin wesentliche Fragen sozusagen von vornherein außerhalb des Möglichen gestellt, einige ihrer wichtigsten Interessen an den Rechtswissenschaften in den Bereich der Hobbys verwiesen. Dieses Prinzip durchzog nun alle Lehrveranstaltungen: Im römischen Recht war die Behandlung antiker Schadenersatzansprüche gefragt und nicht die Kenntnis der Gesellschaftsordnung, die dieses Recht hervorbrachte und die Grundlage für dessen durchschlagenden Erfolg bildete, oder die Frage, ob oder von wem überhaupt gewünscht war, daß sie sich durchsetzt. Eingeübt wurde hier wie im „deutschen Recht“ die Beschäftigung aussschließlich mit der inneren Logik des Rechts und damit der je herrschenden Interessen, die Loslösung des Denkens von den dahinterstehenden Fragen, die das Recht ja regelt: die Beziehungen von Menschen zu Menschen und von Menschen zu Dingen. Da unsere Kollegin noch am Anfang stand und sich gerade für diese Beziehungen immer noch interessierte (außerdem war sie sensibel genug, um zu ahnen, was der eigentliche Sinn der Einführungsveranstaltungen war), entwickelte sie ein distanziertes, pragmatisches Verhältnis zum Studium: durchkommen und sich nicht zu sehr in die Welt des Rechts einlassen, um noch einen Fuß in der Welt des Menschlichen behalten zu können. Dieses Konzept erwies sich aber als leichtsinnig und die konditionierende Wirkung der Lehrveranstaltungen und Prüfungen als stärker: Das zuerst nur äußerlich eingeübte juristische Denken begann sich in ihre Persönlichkeit einzuschleichen und ihre Wahrnehmung zu verändern. Als sie schließlich bemerkte, daß sie beider Lektüre von Doderers Roman „Die Dämonen“ nur noch sachverhaltsmäßigen Tatsachen Aufmerksamkeit schenkte, bei sich bietenden Gelegenheiten sogar juristische Überlegungen anstellte, sich für die Schicksale, die sich hier kreuzten, kaum mehr interessierte und Schilderungen von Personen und Orten passagenweise überlas ja, da war es eigentlich schon zu spät, um ihre Beziehungslosigkeit in ihrem eigenen Leben noch rechtzeitig zu bemerken. Da hatten sich mittlerweile Freundschaften weitgehend auf Studienbekanntschaften reduziert und Denken (früher war es interessiert und anteilnehmend) war zu unverbindlichem Gerede, mangels eigener Auseinandersetzung (das Studium nahm viel Zeit in Anspruch) über Versatzstücke, verkommen. Es ist nicht so, daß unsere Leidensgenossin (denn so können wir sie jetzt nennen) dies nicht als Verfall ihrer Persönlichkeit wahrnahm. Aber da sie nun schon einmal den ersten Studienabschnitt geschafft hatte, wollte sie dieses Studium auch zu Ende bringen — eine konkrete berufliche Perspektive verband sie damit indes nicht. Wir wissen nicht, ob sie im Suff endete, oder doch noch zu einem brauchbaren Verhältnis zu ihrem Dasein als Juristin fand.

Vom Widerspruch im Intellektuellen [*]

Der Widerspruch, dem wir alle ausgesetzt sind, ergibt sich daraus, daß die gesellschaftliche Funktion, die uns zugewiesen wird, nicht dem entspricht, was wir unserer eigentlichen Möglichkeit nach erkennen könnten und was wir dieser Erkenntnis folgend eigentlich tun müßten. Die Art und Weise, in der jemand mit diesem Widerspruch umgeht, entscheidet dann darüber, ob wir ihn als Intellektuellen betrachten oder als bloßen Funktionär bestimmter Interessen. Daß wir JuristInnen in besonderer Weise zum Funktionärsdasein disponiert sind, klingt ja schon im Titel zart an. Aber beginnen wir beim Anfang: Das heißt in unserem Fall damit, was Jean-Paul Sartre über die Inteliektuellen formulierte. Was wir — mit Sartre — einen Intellektuellen nennen, rekrutiert sich aus dem Kreis der sogenannten „Kopfarbeiter“ oder „aus der gesellschaftlich-beruflichen Gesamtheit, die man die Theoretiker des praktischen Wissens nennen kann“.* Ein „Theoretiker des praktischen Wissens“ ist demnach jeder, der „in seiner Arbeit von einem Wissen, dessen Regeln immer seine Tätigkeit bestimmen, ausgeht, mit der Perspektive, zusätzliches Wissen zu erlangen“.* Es kommt dabei zunächst nicht darauf an, ob der Theoretiker selbst auch die praktische Verwertung des von ihm erarbeiteten Wissens vornimmt (wie es bei den JuristInnen üblicherweise der Fall ist). „Praktisches Wissen“ ist eigentliche eine Tautologie, da es kein Wissen gibt, das nicht praktisch ist — anders gesagt: jedes Wissen unterliegt einer praktischen Verwertung, und zwar in Herrschaftssystemen zunächst einmal der Verwertung für die herrschenden Interessen. Der Psychologe erarbeitet Methoden zur „Verbesserung des Betriebsklimas“, um die Produktivität für den Unternehmer zu steigern. Der Soziologe erforscht gesellschaftliche Konflikte, um sie verschleiern zu können. Der Arzt studiert den menschlichen Körper, um ihn für die Wirtschaft funktionsfähig zu erhalten. Dies alles ist Herrschaftswissen. Der Arzt, der Soziologe und der Psychologe werden dafür ausgebildet und bezahlt, daß sie diese Art von Erkenntnissen hervorbringen. Um sie hervorbringen zu können, müssen sie aber allgemeine Tatsachen studieren. Dadurch gewinnt ihre Arbeit eine Allgemeingültigkeit, die ihr auch die Interessen, die sie in Dienst stellen, zugestehen müssen: „Ein Arzt studiert das Blut, insofern Blut eine allgemeine Tatsache ist, denn die Existenz von Blutgruppen ist überall die gleiche: somit wiederlegt seine Theorie spontan den Rassismus.“* Man läßt den Theoretiker diese allgemeinen Tatsachen aber nicht deshalb studieren, daß er den herrschenden Interessen die Legitimität entzieht oder zur Befreiung derer beiträgt, die an dieser Herrschaft keinen Anteil haben, sondern damit er diese Herrschaft unterstützt, ihr Gesellschaftssystem als „allgemeiner Techniker“ funktionsfähig und immer besser funktionsfähig erhält. „Das ist also die eigenartige Figur des Intellektuellen, ein wahres Produkt der gegenwärtigen Gesellschaft, in dauerndem Widerspruch zwischen der Ideologie einerseits, die aus seiner Kindheit stammt und in der natürlich alle besonderen bürgerlichen Begriffe angelegt sind: Rassismus, eine bestimmte Art von Humanismus, der sich allgemein gibt, tatsächlich aber Schranken aufrichtet — und andererseits der Allgemeingültigkeit des Berufs des Intellektuellen. Wenn dieser Mensch sich damit abfindet, wenn er seinen Zustand vor sich selbst verschleiert, wenn er durch Selbstbetrug und Wanken es fertigbringt, diesen Widerspruch ohne Unsicherheit zu durchleben, dann nenne ich ihn keinen Intellektuellen: Ich betrachte ihn dann lediglich als Funktionär, als praktischen Theoretiker der bürgerlichen Klasse“.* „Doch sobald er den Widerspruch sieht und sein Beruf ihn veranlaßt, im Namen des Allgemeinen das Besondere in ihm selbst und damit überall zu bekämpfen, dann ist er ein Intellektueller. Anders gesagt: Der Intellektuelle ist ein Mensch, der durch seinen eigenen Widerspruch, sofern er ihn offenbar macht — in die ungünstigste Position versetzt wird.“* Aber so weit sind wir noch nicht.

Und die JuristInnen?

Vorerst sind nämlich die JuristInnen in eine noch ungünstigere Position versetzt: Jene Allgemeingültigkeit, die die herrschende Gesellschaft dem Wissen des Arztes, des Soziologen, des Psychologen zugestehen muß, verbaut sie den JuristInnen gewissermaßen ab ovo. Indem sie sie schon vom Beginn ihrer Ausbildung vom eigentlichen Gegenstand ihrer theoretischen Praxis, von den Menschen, den Dingen und ihren Beziehungen, loslöst (oder „abhebt“, wie auch immer). Stattdessen werden sie darauf eingeschworen, ausschließlich den Willen der Herrschenden zu erforschen. Der in der juristischen Ausbildung praktizierte Positivismus ist die wohl effizienteste Form, theoretische Praxis auf den engsten ideologischen Rahmen zu beschränken. Der Trick, dessen sie sich dabei bedient, ist, ganze Disziplinen für nicht zur Rechtswissenschaft gehörig zu erklären. Zur Kritik des Rechtspositivismus sei hier nur auf die Serie von Felix Ehmhöfer verwiesen, die ja schon mit der Frage „Positivismus oder Erkenntnis?“ begann. Diese gewaltige Beschneidung vermag es tatsächlich, einen Drang nach allgemeinen Einsichten bei vielen KollegInnen gar nicht erst aufkommen zu lassen: bei jenen vornehmlich, die bereits durch ihre Herkunft und Erziehung so sehr das Produkt der bürgerlichen Gesellschaft sind, daß ihnen anderes gar nicht mehr in den Sinn kommt. Oder auch bei jenen, diesich durch das Studium der Rechtswissenschaften nichts anderes erwarten, als einen Einstieg in eine bürgerliche Führungsschicht. Diese beiden Gruppen scheiden also aus — wie schon gesagt: uns interessieren die Leidenden.

Versuchen wir einmal, jene Disziplinen, die uns von den Interessen, für die wir eingespannt werden sollen, aus unserer theoretischen Praxis herausdividiert wurden, wieder hereinzuholen: Der Rechtsanthropologe studiert Gesellschaften, denen Recht als Herrschaftsordnung überhaupt fremd ist, und widerlegt dadurch beispielsweise die Theorie vom „Gesellschaftsvertrag“. Der Rechtssoziologe untersucht das weitere Schicksal von Haftentlassenen und studiert die Kriminalstatistik — und widerlegt damit gewisse herrschende Strafrechtstheorien. Der Rechtsphilosoph formuliert schließlich überhaupt den Kern dessen, was wir mit dem „Allgemeinen“ meinen: „Gehört das Recht notwendig zum Menschen? Ist das Recht eine Grundkategorie des Menschen überhaupt? Steht der Mensch als Mensch immer schon in der Dimension des Rechts? Oder aber: Stellt das Recht ein nur ‚uneigentliches‘, zweitrangiges Phänomen dar, ..., das den Menschen nicht in seiner ihm wesentlichen Humanität erreicht?“ [**] — und zweifelt damit jede besondere Rechtsordnung an. Erst jetzt kommt auch der Jurist in die Situation, sich entscheiden zu müssen zwischen dem Allgemeinen, das Menschen und ihre Beziehungen ausmacht und der besonderen Rechtsordnung, der zu dienen er verurteilt ist.

Realitätssinn und Möglichkeitssinn

Es ist unmöglich, sich zwischen der Position des bloßen Funktionärs und der des Intellektuellen nicht zu entscheiden. Es gibt allerdings nicht nur die Radikalität des Intellektuellen, sondern auch Schranken dieser Radikalität. Seine Radikalität kommt aus seiner Rationalität: Im Kampf zwischen dem besonderen Irrationalen und dem Allgemeinen, das das Produkt der praktischen und dialektischen Vernunft ist, kann es keinen Kompromiß geben.* Diese Radikalität veranlaßt den Intellektuellen, „jedesmal, wenn es im Bereich der politischen Parteien oder Formationen eine Wahl zu treffen gilt, ... (sich) für das Radikalste zu entscheiden, um jenem Allgemeinen Genüge zu leisten.“* Diese Radikalität birgt aber auch die Gefahr des Linksradikalismus in sich: Unmittelbar und augenblicklich die Verwirklichung des Allgemeinen zu fordern. Die entscheidende Schranke, die den Intellektuellen vom Linksradikalismus abhält, ist der Umstand, daß er durch Wahrheit zur Praxis gelangen will und muß. Wahrheit ist — nach Sartre — das, „was das Handeln als Feld realer Möglichkeiten eröffnet“.* In diesem Sinn wird ein Jurist, der die Aufgabe des Intellektuellen übernommen hat, nicht den sofortigen Sturz der bürgerlichen Rechtsordnung fordern. Er wird sich aber überall, wo sich seine eigene Vernunft den besonderen Interessen widersetzt (deren intimer Kenner er ja ist), auf die Seite derer stellen, die unter diesen besonderen Interessen leiden und durch ihre Verweigerung gegenüber dem bestehenden Zustand das Allgemeine unterstützen. Er wird seine theoretische Praxis darauf verwenden, das Möglichkeitsfeld ihres Handelns zu erschließen, welches auf die Verwirklichung des gesellschaftlichen Allgemeinen gerichtet ist.

Derartige Betätigungsfelder bieten wir ja in dieser Zeitschrift (nicht nur in der Rubrik IN BEWEGUNG) zumalen an.

aus: Juridikum 4/90, Seite 36ff.

[*Wir halten uns bei der Charakterisierung der Intellektuellen durchwegs an Jean-Paul Sartre, Intellektuelle und Revolution, Neues FORVM Juni/Juli 1971, S 33ff. Im weiteren beziehen sich alle mit (*) gekennzeichneten Zitate auf diesen Aufsatz.

[**Gerhard Luf, Skriptum: Einführung in die Rechtswissenschaften und ihre Methoden, Teil III, Grundfragen der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., Wien WS 1985/86.

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