Internationale Situationniste, Numéro 5
 
1976

Situationistische Nachrichten

Die erste Nummer der Zeitschrift Spur, des Organs der deutschen Sektion der S.I. — mit einer Übersetzung des situationistischen Manifestes vom 17. Mai als Leitartikel — ist im August 1960 in München erschienen. Die zweite, im November erschienene Nummer beschäftigt sich zum großen Teil mit einem Rechenschaftsbericht über die Londoner Konferenz.

Pinot-Gallizio und G. Melanotte sind im Juni aus der S.I. ausgeschlossen worden. Aus Naivität bzw. Strebertum hatten sie sich zu Kontaktaufnahmen und später zu einer Mitarbeit in Italien mit ideologisch unannehmbaren Kreisen verführen lassen. Ein erster Tadel (siehe die Situationistischen Nachrichten unserer Nummer 4 über den bekanntermaßen mit dem Jesuiten Tapié befreundeten Kunstkritiker Guasco) konnte ihre Politik nicht verbessern. Der Ausschlussbeschluss wurde also gefasst, ohne die beiden noch anzuhören.

Dennoch wurde Constant, der ihr Verhalten mit Recht denunziert hatte, durch diesen Bruch nicht zufriedengestellt. Er bedauerte, dass wir gezwungen worden waren, einige Monate vorher dieselben Maßnahmen gegen Architekten der holländischen Sektion zu ergreifen, die sich nicht gescheut hatten, mit dem Bau einer Kirche anzufangen. Auf einer tieferen Ebene war Constant in die Opposition gegen die S.I. geraten, da er sich vorrangig und fast ausschließlich um die Strukturfragen gewisser Komplexe des unitären Urbanismus kümmerte, während andere Situationisten daran erinnerten, dass es beim gegenwärtigen Stadium eines solchen Projektes notwendig sei, seinen Inhalt (als den eines Spiels und der freien Schöpfung des alltäglichen Lebens) besonders zu betonen. Constants Thesen werteten also die Techniken der Bauformen gegenüber jedem Versuch einer globalen Kultur auf. Und die bloße Gleichheit der Behandlung, welche das von den einen wie von den anderen verlangte minimale Verhalten betrifft, erschien ihm schon als unverhältnismäßig hart. Constant erklärte damals, im selben Monat Juni, dass er sich, da er mit der S.I.-Disziplin nicht einverstanden sei, seine Freiheit in dieser Hinsicht und für eine Zeit wiedernehmen wolle, deren Dauer durch die folgenden Ereignisse bestimmt sein würde. Darauf erwiderten wir, dass — außerhalb irgendeines Gedankens der Feindseligkeit bzw. der Schuld — es der Sinn einer praktischen Waffe, für den wir seit langem bei jedem durch die S.I. verzeichneten Bruch gesorgt haben, nur erlaube, sofort zwischen einem endgültigen Rücktritt und dem Verzicht auf diese Form des Drucks zu wählen. Constant hat gewählt und die S.I. verlassen.

Im Juni ist die erste Nummer der Zeitschrift Hefte für eine noch zu erfindene Landschaft in Montreal erschienen. In dieser ersten Nummer sind etwa zehn aus Situationistische Internationale abgedruckte Artikel zusammen mit Texten von Patrick-Straram — dem Herausgeber der Zeitschrift — und von einer gewissen Anzahl seiner kanadischen Genossen zu lesen. Es handelt sich um die erste Publikation, die die Ausdehnung der situationistischen Propaganda auf den amerikanischen Kontinent offen zu erkennen gibt.

Christian Christensen, dem Jorn seine Kritik der ökonomischen Politik gewidmet hat, ist am 10. Juni 1960 in Dänemark gestorben.

Am 20. Juli ist ein von P. Canjuers und Debord verfasstes Dokument über Kapitalismus und Kultur, Vorbemerkungen zu einer Definition der Einheit des revolutionären Programms herausgegeben worden. Es ist eine Plattform zur Diskussion in der S.I. und für deren Verbindung mit revolutionären Militanten der Arbeiterbewegung.

Das Silkeborger Museum in Jütland, das schon das wichtigste Museum der modernen Kunst aller skandinavischen Länder war, hat eine Situationistische Bibliothek gegründet. Diese Bibliothek selbst besteht aus einer vorsituationistischen Abteilung, die die ganze wünschenswerte Dokumentation über die Avantgardebewegungen seit 1945 sammelt, die irgendeine Rolle bei der Vorbereitung der situationistischen Bewegung gespielt haben; einer eigentlichen situationistischen Abteilung, mit all den S.I.-Veröffentlichungen und einer historischen Abteilung, die die Arbeiten über die S.I. aufnehmen soll und zur Zeit eigentlich nur die anti-situationistische Propaganda enthält, die hier und dort zu erscheinen angefangen hat. Schließlich hat diese Bibliothek — was wahrscheinlich ihre interessanteste Initiative ist — eine Abteilung der Nachahmungen eröffnet, in der alle Werke aufbewahrt werden sollen, die irgendeine von den Verwirklichungen unserer Freunde nachahmen, deren seltsame Rolle innerhalb der aktuellen Kunst wegen ihrer S.I.-Zugehörigkeit selbst natürlich nicht gerne anerkannt wird. Jedem zugängliche Tabellen verzeichnen mit wissenschaftlicher Genauigkeit die Erscheinungsdaten des Vorbildes und dessen Nachbildern, die schon mehrmals fast unmittelbar nach ihm entstanden sind. Damit wird die Silkeborger Bibliothek, weit entfernt von diesen kläglichen Diskussionen unter den „Avantgardisten“, an denen die Situationisten niemals teilnehmen wollten, objektiv ein Urmeter der kulturellen Avantgarde liefern. Wir zweifeln nicht daran, dass viele Fachhistoriker aus Europa und Amerika, sowie später auch aus Asien und Afrika, in den kommenden Jahren nach Silkeborg reisen, um ihre eigene Dokumentation in diesem „Breteuil-Pavillon“ neuen Typs zu vervollkommnen und zu überprüfen.

Wir wünschen außerdem, dass das vom Silkeborger Museum ausgearbeitete kluge Projekt, diese Bibliothek durch eine Filmsammlung zu ergänzen, in der Kopien von jedem betreffenden Film deponiert würden, bald alle für seine Verwirklichung vorausgesetzten materiellen Mittel finden wird.

Anfang September ließ die deutsche Gruppe Radama die S.I. um kollektiven Beitritt durch die Entsendung eines oder mehrerer Vertreter zur Londoner Konferenz ersuchen, die am 24. desselben Monats stattfinden sollte. Nachdem sie einen von der deutschen Sektion verlangten Bericht zu dieser Frage gehört hatte, schloss die S.I., dass es unannehmbar sei, eine zweite, von ihrer ersten Sektion unabhängige Situationistische Gruppe mit einem mehr oder minder unterschiedlichen und unbekannten Programm anzuerkennen; die weiter einseitig beschlossen hatte, diese Unterschiede seien einerseits unbedeutend genug, um der S.I. beizutreten, andererseits aber wichtig genug, damit sie als gesonderte Gruppe auf nationaler Ebene organisiert bleibt. Dieser Gruppe wurde also zur Kenntnis gegeben, dass sie nicht zur Konferenz eingeladen werden konnte und dass ihre Mitglieder sich der S.I. eventuell nur dadurch anschließen könnten, dass sie individuell ihren Beitritt zu unserer deutschen Sektion erklären; mit Ausnahme eines einzigen von ihnen, dessen Fall wegen seiner früheren persönlichen Stellungnahmen keineswegs geprüft werden kann.

Von der Festnahme Alexander Trocchis in New York in Kenntnis gesetzt, der nur deshalb für einen Gangster gehalten wurde, weil die Polizei drei verschiedene Sorten von Drogen bei ihm gefunden haben soll, fasste die Londoner Konferenz am 27. September sofort einen Beschluss zu seinen Gunsten, der am folgenden Tag vor dem im Institute of Contemporary Arts versammelten Publikum verlesen wurde.

Das ihnen von der Konferenz erteilte Mandat ausübend haben drei Situationisten das am 7. Oktober verteilte Flugblatt Hands off Alexander Trocchi (Hände weg von Alexander Trocchi) unterzeichnet. Dieser Text — gemäßigt genug, um von Leuten unterzeichnet zu werden, die, wenn sie zu nichts anderem, so doch zumindest dazu fähig sind, die Freiheit der Künstler zu verteidigen — steht absichtlich auf dem bloßen Gebiet der Kunst, um in diesem konkreten Rechtsfall helfen zu können. Er macht weiter darauf aufmerksam, dass dieser Rang eines Künstlers Alexander Trocchi „aus dem einzigen Grunde“ streitig gemacht werden könnte, dass „er einen neuen Künstlertypus repräsentiere“ — wie übrigens alle Situationisten. Außer diesen haben schon 81 Künstler, Schriftsteller bzw. Kritiker aus mehreren Ländern — England, Deutschland, Frankreich, Holland, Belgien, Schweden, Israel, Dänemark, Kanada und USA — diesen Aufruf unterzeichnet. Bisher haben ihn nur zwei Personen für zu kompromittierend gehalten und gewagt, es zu sagen. Mehrere Leute, die ihre Antwort noch nicht mitgeteilt haben, werden bestimmt die Gelegenheit haben, sie demnächst bekanntzugeben. Wir werden die Folgen dieser Affäre, sowie alle nützlichen Einzelheiten und Kommentare über die Stellungnahmen jeder Art hier bald veröffentlichen.

Beim Verhör durch die Kriminalpolizei am 21.November in Paris über seine Teilnahme an der „Erklärung der 121“ antwortete Debord, dass er diese unterzeichnet habe, nachdem sie ihm zugestellt worden sei — und zwar erst am 29. September, also am Tage nach der Bekanntmachung der Verfügungen, durch die die gaullistische Regierung, indem sie die legal verhängten Strafen übermäßig verschärfte, diejenigen herausforderte, die missbilligen, dass sie so etwas zu sagen wagt. Dass er an der Redaktion bzw. der Verbreitung dieses Textes nicht teilgenommen habe, weil ihm niemand dazu die Gelegenheit gegeben hatte. Dass man jedoch, da die laufende Ermittlung anscheinend eine kleine Zahl von Unterzeichnern zu isolieren versuche, die verantwortlicher als die anderen sein sollten, in seiner Aussage zu schreiben habe, dass er durch seine bloße Unterzeichnung der besagten Erklärung eine vollständige Verantwortung für deren Herausgabe und Verbreitung auf sich nehme — und zwar eine, „die der jedes anderen Unterzeichners gleich sei, wie auch immer ihre persönliche Verantwortung aussehe, die er ebenso anerkennen wolle.“

Die erste Sitzung des S.I.-Zentralrates, dessen Bildung und Zusammensetzung von der Londoner Konferenz beschlossen wurden, fand vom 4. bis 6. November in Belgien in der Nähe von Brüssel statt. Es wurde über die Kampagne für Alexander Trocchi beraten; über die Bedingungen der situationistischen Tätigkeit in Deutschland (vgl. den Anfang einer Repression im Namen der Moral, die den Studenten Döhl schon wegen einer gotteslästerlichen Schrift verurteilen lassen konnte) und in Frankreich; über unsere Beziehungen zu verschiedenen politischen revolutionären Tendenzen; über die Vorbereitungen unserer Intervention gegen die UNESCO (Veröffentlichung eines Fragebogens zur Anstellung von neuem Personal); über die Herausgabe einer situationistischen Zeitschrift im Jahre 1961 in englischer Sprache: The Situationist Times.

Der Rat hat sehr wichtige Entscheidungen über die legale und praktische Organisation unseres Konstruktionsunternehmens im Urbanismusprojekt getroffen. Er hat gleichfalls einige Formen der Kontrolle durch die Situationisten für die Atmosphäre und die Ereignisse in isolierten Mikrogesellschaften geprüft.

Schließlich hat der Rat beschlossen, die durch die S.I. gemachten Fortschritte sowie die Unterstützung, die sie zu erhalten begonnen hat, ohne weitere Verzögerung auszunutzen, um gegen die repräsentativste Tendenz dieser pseudo-gauchistischen und konformistischen Intelligenz ein Exempel zu statuieren; diese hatte das bisherige Stillschweigen über uns mühsam organisiert und ihr Verzicht auf allen Gebieten begann den erfahrenen Leuten deutlich zu werden — wir meinen die französische Zeitschrift Arguments. Der Rat hat also beschlossen, dass jeder, der vom 1. Januar 1961 an an der Zeitschrift Arguments mitarbeiten wird, auf keinen Fall und zu keiner Zeit zukünftig bei den Situationisten aufgenommen werden darf. Die Ankündigung dieses Boykotts nimmt die Kraft ihrer Wirkung aus der Bedeutung, die wir der S.I. zumindest in der Kultur der kommenden Jahre garantieren können. Die betreffenden Personen mögen wagen, die entgegengesetzte Wette einzugehen, falls sie zu fragwürdigen Bindungen neigen.

Gerade der Herausgeber der Zeitschrift Arguments namens Edgar Morin, der spürt, dass er allmählich der öffentlichen Verachtung ausgesetzt ist (das, was die Situationisten gerade feierlich behauptet hatten, war schon von verschiedenen Leuten spontan ausgedrückt worden, die um ihre Teilnahme an der jetzigen Arguments gebeten worden waren — nur unauffällig, was der Stärke des notwendigen Boykotts schaden könnte) und nachdem er versucht hatte, mehrere Situationisten zu treffen, die entweder kommentarlos abgelehnt hatten oder antworten ließen, dass es viel zu spät sei, bemüht sich jetzt darum, eine verschleiernde Rauchwolke über seinen Fall auszubreiten. Während er durch die gesamte erbärmliche Entwicklung der von ihm geleiteten ex-revolutionären Zeitschrift offensichtlich verurteilt wird, sowie wegen seiner Komplizenschaft mit dem Royalisten und Antisemiten Georges Mathieu (siehe die schwachsinnige Nr.19 über „Die fragliche Kunst“) und seiner groben Sabotage der Unterschriftenbewegung der „Erklärung der 121“, die zur Zeit mit scharfen Mitteln von der gaullistischen Macht bekämpft wird (siehe Morins Artikel im Observateur vom 29. September), verbreitet der betreffende Morin das Gerücht — aber immer noch nur geflüstert — dass die Situationisten ihn überall beschuldigten, einen 1959 von einem von ihnen gedrehten und in Frankreich noch nie gezeigten Experimentalfilm in einem Film imitiert zu haben, an dem er selbst dieses Jahr arbeitete. Dieses Gerücht ist durch und durch falsch — um so mehr, als keiner in der S.I., wo wir doch daran gewöhnt sind, dass viele zugängliche Einzelheiten imitiert werden, es je für nützlich gehalten hat, sich auch bei den auffälligsten Gelegenheiten darüber zu äußern. Ein Situationist (Asger Jorn) hat nur ein einziges Mal im vorliegenden Fall die Verdächtigung einer Imitation zum Ausdruck gebracht, in einem Gespräch mit einem Dritten, der ihn von den Filmbeschäftigungen des zweideutigen Morin sehr ungenau in Kenntnis gesetzt hatte. Jorns Mutmaßung lässt sich durch all das reichlich erklären, was er von der Unehrlichkeit und der elenden Feindseligkeit dieses Menschen wusste. Sollte Morin übrigens einen Film herstellen, hätte er ihn wohl jemandem bewusst oder unbewusst abschreiben müssen, da er ein zu schwachsinniger Künstler ist. Für dieses Jahr gibt es aber kein Problem: den Film hat Jean Rouch gedreht. Und Morin, sicherlich ein feinsinniger Spezialist der Ablenkung, sprach nur mit dem Zweck darüber, das einzige Talent anzuwenden, das ihm jeder anerkennen muss.

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