Grundrisse, Nummer 5
März
2003

Skizzen zum Staat

oder ein als Bericht etwas verunglückter Aufsatz zum grundrisse-Staatsseminar nebst einigen kritischen Anmerkungen zu Lenins „Staat und Revolution“

Am 10. 1, 2003 fand in der „Kunst Marke Ideal“ das Seminar der „grundrisse“ zum Staat statt. Ein Häuflein Unerschrockener hatte sich durchs tief verschneite Wien gekämpft, um etwas mehr Licht in die wuchernde Düsternis der Staatsdebatte zu bringen. Als Lampionträger fungierten Karl Reitter, Roland Atzmüller und Francois Naetar, deren Referate, beziehungsweise auf der Diskussion fußende Ausarbeitungen, sich in diesem Heft abgedruckt finden. Aber auch andere hatten so manches Kerzlein mitgebracht.

Und dennoch: Nachdem mir ein paar Tage (und Nachdiskussionen im kleineren Kreis) später ein Licht aufgegangen ist, wundere ich mich schon, dass ein wesentlicher Aspekt der Staatsfrage kein einziges Mal während der 6 Stunden auch nur kurz zur Sprache gebracht worden ist. Das zeigt meines Erachtens, wie sehr selbst die „grundrisse“-Redaktion und mit großer Wahrscheinlichkeit auch das gesamte Umfeld, in dem sie sich bewegt, noch in den Fängen etatistischer Degeneration und/oder gewalt(waffen)fetischisierenden Fixierung befangen ist. Revolutionäre Gewissenserforschung tut Not!

All jene, die sich einen „klassischen“ Veranstaltungsbericht erwartet haben, muss ich leider enttäuschen. Vielleicht wirkt das als Anregung, doch einmal zu einer Veranstaltung der „grundrisse“ zu kommen, mitzudebattieren und sich selbst ein Bild von den verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten und ideologischen Tendenzen zu verschaffen.

Fragen, die gleich zu Beginn nach dem Referat von Karl Reitter auftauchten und uns dann den ganzen Abend nicht mehr losließen, waren: Warum gibt es seitens führender Politiker der Arbeiterbewegung kein Bemühen um eine systematische Staatstheorie? Als die elaboriertesten Beiträge von dieser Seite müssen immer noch Engels weitgespanntes früh- und altertumsgeschichtliches Panorama „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ (1884) und Lenins „Staat und Revolution“ (1917 [1]) herangezogen werden. Ansonsten war und ist marxistische Staatstheorie Monopol des akademischen Sozialismus – und danach sieht sie auch aus!

Wie erklärt sich dieser Mangel, dieser „blinde Fleck“ der Theorieentwicklung, diese Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Formen, in denen der Klassenkampf ausgetragen wird? Die vier, fünf von Marx und Engels übernommenen Zitate, die ständig formelhaft wiedergekäut werden, können diese Blöße nicht verdecken. Ist die Entwicklung einer allgemeinen Staatstheorie, die über die Verhältnisse der (entwickelten) bürgerlichen Gesellschaft hinausgreift, überhaupt möglich und sinnvoll? Was wären ihre Voraussetzungen und Ausgangspunkte? Ist es wirklich so, wie Hardt/Negri im „Empire“ nahe legen, dass erst ein bestimmter Grad der Überwindung des Nationalstaats und der Neuamalgamierung von Staatlichkeit und global agierendem Kapital erreicht werden musste, ehe man darangehen konnte, eine solche Theorie vorzulegen?

Ich neige eher dazu, für dieses „schwarze Loch“ in der Theorie der Arbeiterbewegung eine vulgärsoziologische Begründung heranzuziehen, die hinter der banalen Vulgarität der Realität nicht zurückbleibt: Die in der marxistischen Bewegung weithin dominierende Staatsfrömmigkeit, Staatsfetischisierung, ja Staatsvergötzung – und das verträgt sich naturgemäß nicht mit allzu kritischer theoretischer Durchdringung der Materie – ist passender ideologischer Ausdruck einer Schicht, einer Abteilung der Arbeiterklasse, die sich aufgemacht hat, in die Staatsklasse hineinzudrängen beziehungsweise in sie kooptiert zu werden oder auch – und das ist Spezialität des bolschewistischen Flügels – in bestimmten historischen Situationen, sich selbst an die Stelle der alten Staatsklasse [2] zu setzen.

Entsprechend gestaltete sich das Parteileben: Es dient der Vorbereitung auf den „Ernstfall“, der Einübung geeigneter Verhaltensweisen und Gewohnheiten und der Herausbildung einer passenden gesellschaftlichen Parallelstruktur (Staat in spe). Das ist der Beruf, auf den sich hauptamtliche Berufspolitiker in den Arbeiterparteien vorbereiten. Das höchste Entscheidungsgremium wird dann auch prompt Politbüro genannt – Sprache kann ja so verräterisch sein! Dazu kommt noch, dass das alternative Führungspersonal in aller Regel bis zur Vollsklerotisierung und häufig auch noch darüber hinaus – man erinnere sich nur an die Parteistaatsmumien Mao und Breschnew – immer wieder in seine Ämter „gewählt“ wurde.

Schuld daran, dass dem kein Riegel vorgeschoben werden konnte, trägt Marx! Der hat einfach nicht lange genug gelebt beziehungsweise effizient genug gearbeitet (sogar den 2. und 3. Band des „Kapital“ musste Engels fertig stellen!), als dass er sein gesamtes theoretisches Vorhaben hätte umsetzen können. Die Pläne haben sich zwar immer wieder geändert, doch war stets mehr geplant, als uns heute vorliegt. Im Folgenden das Konzept, in dem Marx nach meinem Kenntnisstand die notwendigen Ausführungen zur Staatsfrage am detailliertesten skizziert:

„Die Einteilung offenbar so zu machen, dass

  1. die allgemein abstrakten Bestimmungen, die daher mehr oder minder allen Gesellschaftsformen zukommen, aber im oben auseinander gesetzten Sinn [nicht in der Folge ihres historischen Auftretens, sondern nach ihrer Bedeutung in der entfalteten bürgerlichen Gesellschaft – Anm. des Autors]
  2. Die Kategorien, die die innre Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft ausmachen und worauf die fundamentalen Klassen beruhn. Kapital, Lohnarbeit, Grundeigentum. Ihre Beziehung zueinander. Stadt und Land. Die drei großen gesellschaftlichen Klassen. Austausch zwischen denselben. Zirkulation. Kreditwesen (private).
  3. Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Form des Staats. In Beziehung zu sich selbst betrachtet. Die „unproduktiven“ Klassen. Steuern. Staatsschuld. Öffentlicher Kredit. Die Bevölkerung. Die Kolonien. Auswanderung.
  4. Internationales Verhältnis der Produktion. Internationale Teilung der Arbeit. Internationaler Austausch. Aus- und Einfuhr. Wechselkurs.
  5. Der Weltmarkt und die Krisen.“ (Einleitung zu den „Grundrissen“, Heft M, S. 28f.)

Erst das wäre also die ganze „Kritik der politischen Ökonomie“ gewesen, wie sie von Marx geplant und – in dieser Hinsicht ganz Kind seiner Zeit – unter Außerachtlassung der Geschlechterverhältnisse konzipiert war. Aber es hat halt nicht sollen sein, und so müssen eben wir uns damit plagen.

„Staat und Revolution“ – die Le(h/e)re des Marxismus ...

„Staat und Revolution“ ist die zentrale Schrift des revolutionären, bolschewistischen Marxismus zur Staatsfrage: In den zwei Monaten vor der Oktoberrevolution geht der Politmönch Wladimir Iljitsch seine Exzerpte der „Klassiker“ Marx und Engels durch und stellt eine Sammlung wohl der meisten einschlägigen „Stellen“ zusammen, die er einer ausführlichen Textexegese, Textkommentierung und Textparaphrasierung unterzieht. Zahlreiche Wiederholungen aber vor allem auch Widersprüchlichkeiten und Probleme, die sich bei einer eingehenden Lektüre und Konfrontation dieser Stellen zwangsläufig ergeben müssten, werden jedoch nicht weiter beachtet und bearbeitet.

Dieser eklektizistische Duktus der Darstellung gibt einen Vorgeschmack der furchtbaren Ödnis, die die von Heerscharen wohlbestallter Staatsangestellter fabrizierten bleiernen Papierwüsten der marxistisch-leninistischen Weltanschauung künftig noch millionenfach verbreiten sollten. Die weit überwiegende Mehrzahl dieser Theoretiker genannten Staatslegitimatoren wagte sich, sei es aus Angst oder Zynismus, einfach nicht mehr aus den staatlich konzessionierten, „klassischen“ Zitatenwäldchen heraus.

Inhaltlich gesehen folgen auf ziemlich anarchoide Passagen unvermittelt ungeschminkt brutale, autoritär-etatistische Formulierungen und vice versa. Diese Zwiespältigkeit, in die sich wohl nur mit äußerster Mühe und Äquilibristik und zahlreichen pseudodialektischen Verschraubungen eine Konsistenz hineingeheimnissen ließe, findet ihre materielle Grundlage in der prekären politischen Situation, in der sich die Bolschewiki und speziell Lenin im Sommer 1917 befanden.

Dass Lenin die Säulenheiligen M & E als Verstärkung aus dem Hergottswinkerl zerrte, lag daran, dass er ansonsten wohl kaum auf ein Echo über die engsten Parteikreise hinaus hätte hoffen dürfen: Die Bolschewiki waren eine Minderheit innerhalb der sozialistischen Bewegung, eine Minderheit selbst noch unter den sich auf den Marxismus beziehenden Flügel und Lenin vertrat zu all dem auch noch innerhalb der Bolschewiki eine Minderheitenposition – alles in allem also eine wenig komfortable Lage und nicht geringer Anlass für heftiges Avantgardefeeling.

Was das Verhältnis zum Staat anlangt, waren die Bolschewiki in der Konkursmasse des Zarismus, der Provisorischen Regierung etc. nicht und in den Keim- und Vorformen des neuen Staatswesens (vielleicht mit der Ausnahme St. Petersburgs), den Sowjets nur marginal vertreten. Lenin und andere bolschewistische Führer standen sogar unter Anklage, und die Partei verblieb weiterhin bestenfalls in einer Art Halblegalität. Was Wunder, wenn beim maßgebenden Führer der Bolschewiki in dieser Situation antistaatliche Stimmungen stark waren und Rachephantasien aufkamen. Die Stellung zum Staat sollte sich jedoch bald radikal ändern: als nämlich mit der Oktoberrevolution die Avantgarde des Proletariats (= in Lenins Verständnis: die Bolschewiki) auf die prestigeträchtigen Pöstchen vorrückte.

Besonders angetan hat es Lenin die in einem Brief von Marx an Weydemeyer aufgefundene Formulierung über die „Diktatur des Proletariats“ und die Komplementärbildung: „Diktatur der Bourgeoisie“, die spätestens seit der Oktoberrevolution im linken, bolschewistischen Flügel der Arbeiterbewegung geradezu inflationär in Gebrauch standen. Charakteristisch für beide Formeln ist, dass sich in ihnen sozialer Gehalt und politische Form ununterscheidbar vermengen.

Richtig daran ist, dass auch die allerdemokratischste, national- und rechtsstaatlich verfasste und sich weiter demokratisierende parlamentarische Republik, die jedoch das Privateigentum unangetastet lässt, sozial gesehen eine Diktatur der Bourgeoisie bleibt. Wo aber die Ruhe der Profitmacherei flöten zu gehen droht, wird „Terror und Anarchie“ gezetert und bei aller vorgeblichen Liebe zur Demokratie diese schon auch mal abgeschafft, wie 1973 in Chile beispielsweise.

Auf Seiten der Diktatur des Proletariats gestalten sich die Dinge jedoch keineswegs so einfach. Politisch ist nicht davon auszugehen, dass sich die Mächte der alten Gesellschaft an die „Spielregeln der Demokratie“ halten werden, wenn es ans Eingemachte geht. Im Gegenteil! Es ist mit einer ganzen Serie von Attentaten, Putschversuchen und bewaffneten Interventionen zu rechnen. Sozial gesehen nimmt das Proletariat auch weiterhin keine privilegierte Position ein, und daran ändert, entgegen einem weit verbreiteten Irrglauben, auch keine Verstaatlichung etwas. Das Proletariat bleibt darauf verwiesen, dass eine gesellschaftliche Dynamik in Gang gesetzt und entfaltet wird, die das Proletariat aufhebt, die Gesellschaft gewissermaßen entproletarisiert. Das zentrale Movens einer solchen Periode der gesellschaftlichen Umgestaltung kann dann aber schon keine „Diktatur des Proletariats“ mehr sein.

In der Praxis des real existierenden Sozialismus wurde dieses Problem so „gelöst“, dass die in der Staatspartei organisierten Bürokraten, die Nomenklatur unter Ausnutzung historischer Reminiszenzen und der Beibehaltung des Parteinamens zu Ehren-Proletariern erklärt wurden, denn mit ihrer sozialen Rolle und Funktion in der Gesellschaft hatte diese Bezeichnung wohl nichts mehr zu tun. Dieses Verschwimmen der Konturen, der mystifizierende Gebrauch sozialer Kategorisierungen führte im Laufe der Zeit zu einer mehr und mehr nationalistischen und „menschheitlichen“ Reformulierung der Funktion der (politischen) Diktatur des Proletariats zu einer Diktatur über Spione, Vaterlandsverräter und Unmenschen. [3]

Bevor sich die totalitarismustheoriegestählten Vertreter menschrechtlich fundierter Staatlichkeit allzu selbstzufrieden in ihren Fauteuils zurücklehnen, muss hier unbedingt angemerkt werden, dass genau diese Tendenz mit geringfügigen terminologischen Adaptierungen auch der von ihnen gehuldigten Staatlichkeit immanent ist: Diktatur gegen Nestbeschmutzer, Terroristen und islamistische Fundamentalisten sowie permanente Militärinterventionen gegen Schurkenstaaten unter der Herrschaft von durch die Propagandaapparate seriell produzierten Inkarnationen Hitlers (und Stalins).

Der Staat an sich, sein Wesen in der Vielfalt seiner historischen Erscheinungsformen

Im Folgenden geht es nun um die „Zusammenfassung der (bürgerlichen) Gesellschaft in der Form des Staates in Beziehung zu sich selbst betrachtet.“(Marx) Von Anfang an bildet die menschliche Gemeinschaft nicht nur „reale“ auf deren Mitglieder und die sie umgebende Natur bezogene Beziehungen aus, sondern kleidet diese in eine kulturell-mystifizierende Hülle von gemeinsamen Legenden und Mythen, die sich mit der Zeit zu Religionen mit speziellem „Fach“personal verselbständigen. Je mehr die Gesellschaften von antagonistischen Klassengegensätzen zerrissen werden, desto dringender erhebt sich notwendig das Bedürfnis und die Notwendigkeit, dieses miteinander geteilte Imaginäre zur Allgemeingültigkeit zu erheben, dem sich das Sinnen und Trachten aller Gesellschaftsmitglieder zu unterwerfen hat, wofür dann auch ganz praktisch gesorgt wird. Diese identitätsstiftende Komponente von Kultur findet sich bis hin zu den heute noch wirksamen Nationalideologien, und findet ihre sozusagen säkulare Fortsetzung in der von verschiedenen emanzipatorischen Bewegungen gepflegten Tradierung und kulturellen Überformung bestimmter Jahrestage (1. Mai, 8. März, Christopher Street Day).

Mit der Aufklärung, die sich gegen christlich legitimierte Staatsgewalten wandte, begann eine rationale und notwendig sehr abstrakt ausgedünnte Vorstellung von ideeller Gemeinsamkeit, von Allgemeinheit Platz zu greifen – in einer von Klassengegensätzen zerrissenen Gesellschaft kann es keine konkrete und jeweils neu konkret auszuhandelnde Gemeinschaftlichkeit geben – und begann die Religion in dieser gesellschaftskonstituierenden Funktion zu ersetzen: Ehre/internationales Ansehen des Vaterlandes, Heimat, Wealth of Nations, Wirtschaftsstandort, Persuit of Hapiness, Freiheit und Demokratie, Menschenrechte, europäische oder abendländische Werte.

Da diesem postulierten und nur vorgestellten gemeinschaftsstiftenden Allgemeinen als solchem jede Möglichkeit abgeht, in die Gestaltung konkreter Verhältnisse einzugreifen, bedarf es der Heranziehung konkreter Träger, die es erst zu einer materiellen gesellschaftlichen Macht werden lassen. Um das Allgemeine aus dem Bereich der Ideen als Staat in die irdische Wirklichkeit treten zu lassen, müssen bestimmte Staatsbürger aus dem Kreis aller Staatsbürger herausgehoben werden. Damit beginnen aber auch schon die Probleme, denn auch die als Staatsorgane fungierenden Menschen bleiben natürlich stets auch daneben, darunter beziehungsweise dahinter ganz normale Menschen. Funktionsübertragungen veredeln nicht ... Das imaginäre Allgemeine gelangt daher auch niemals mit der konkreten Gestaltung des Staates und des staatlichen Handelns zur Deckung, zeigt sich ausschließlich in einer durch besondere Interessen und Interessenkonstellationen geprägten, „verzerrten“ Form. Die von Poulantzas geprägte Formel, dass es sich beim Staat um eine „Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse“ handle, scheint mir diese konkreten Verhältnisse nur zum Teil zu erfassen, denn sie macht das spezifisch eigene gesellschaftsgestaltende Gewicht der Staatsklasse zumindest nicht explizit, vor allem jedoch verschwindet in ihr die ideell-imaginäre Dimension des Staates, mit der sich Poulantzas ansonsten durchaus auseinandersetzt.

Im Gegensatz zur Wertbestimmung, aus der sich begriffslogisch die Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise ableiten lassen, ist das staatsbegründende Verständnis von Gemeinwohl immer schon ideologisch und dem historischen Wandel unterworfen. Trotz oder eigentlich gerade wegen dieser Vagheit ist es jedoch unter normalen Umständen und daher den größten Teil der Zeit über wirkmächtig, da die von Klassengegensätzen zerrissene Gesellschaft über keinen anderen Begriff und keine anderen Institutionen der Gemeinschaftlichkeit verfügt und verfügen kann: In dieser Hinsicht ist es also gewissermaßen eine den Bestand der Gesellschaft sichernde Illusion. Den Vorteil davon haben „natürlich“ diejenigen, die aus der bestehenden Ordnung der Verhältnisse den größten Vorteil ziehen. In diesem sozialen Sinn verstanden lässt sich also vom bürgerlichen Staat durchaus als von einer „Diktatur der Bourgeosie“ sprechen.

Die von Spinoza entwickelte Begrifflichkeit reicht in vieler Hinsicht nicht hin, um ein genaueres und tieferes Verständnis vom Staat zu gewinnen, viel eher schon das von Marx aus der Auseinandersetzung mit Hegel entwickelte methodische Vorgehen. [4] Jeder Staat setzt ein Gemeinschaftsbewusstsein voraus, das den Horizont von Strukturen der Verwandtschaft und ihrer ideologischen Verklärung bereits zu überschreiten begonnen hat und dem Territorialprinzip Bedeutung beimisst. Der Staat als Verdinglichung, Verkörperung eines gesellschaftsstiftenden Imaginären ist also weder Ding noch Idee, sondern in sich widersprüchliche Einheit beider. Als Ideending beziehungsweise als Dingidee gehört er zugleich keiner wie beiden Sphären an, in die wir unsere Welt einzuteilen gewohnt sind: der materiellen wie der ideellen. Dieser Doppelcharakter ist nicht verwunderlich, handelt es sich doch trotz der Rede von Ameisen- und Termiten“staaten“ oder auch Bienen“völkern“ um eine spezifisch menschliche Vergesellschaftungsform, die demgemäß auch den Doppelcharakter des Menschen reflektiert. Die metaphysischen Mucken und die wabernde, vage Metaphorik, die seit je die Erörterungen der Staatsfrage durchziehen, verdanken sich dieser zweifachen Bestimmung. Der Staat ist daher auch nie vollständig „dingfest“ zu machen, weder personenfest noch ortsfest.

Vom Hegelschen Staatsbegriff unterscheidet sich diese Konzeption von Staat dadurch, dass Staat nicht als die ideale Verkörperung einer wie auch immer gefassten reinen Idee aufgefasst wird. Das staatskonstituierende Imaginäre ist auch keine egoistische Inszenierung machtgeiler Subjekte (Priesterbetrug) und auch kein Ausfluss weithin verbreiteter Untertanenmentalität, sondern ideeller Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher, sozialer Verhältnisse, die im Aufkommen und der Verbreitung bestimmter Staats- und Rechtsauffassungen ihren ideellen Ausdruck finden und als solche dann transformierend auf die geschichtlich vorgefundenen Staatsapparate einwirken. Negri/Hardt legen in ihrem Buch „Empire“ nahe, dass dieser merkwürdig oszillierende Charakter von Staatlichkeit erst mit den jüngsten Entwicklungen des globalen Kapitalismus aufgekommen sei, er hat aber seit jeher jeden Staat gekennzeichnet, was in Perioden des Umbruchs immer wieder besonders augenfällig zutage getreten ist. [5]

Exkurs zu den Menschenrechten als Staatsgrundlage und als Legitimation staatlichen Agierens

Man kann sich darauf verständigen im Verkehr untereinander die Menschenrechte, die zweifellos eine historische Errungenschaft darstellen, einhalten zu wollen. Unter gesellschaftlichen Verhältnissen, die von Ungleichheit und sozialen Gegensätzen bestimmt werden, haftet dem jedoch notwendigerweise eine gewisse „Unvollkommenheit“ an, weil sozial unterschiedlich gestellte Menschen unter den gleichen Maßstab gestellt werden: Weder darf ich Bill Gates sein Vermögen wegnehmen noch er mir meines beziehungsweise nur auf dem Umweg über sein De-facto-Softwaremonopol. Super! Dieser Aspekt ist von vielen Seiten immer wieder kritisch gegen die Menschrechte ins Treffen geführt worden.

Außer dieser sozialen Kritik gibt es jedoch eine politisch-rechtliche, die viel weniger weit verbreitet ist und viel mehr Beachtung verdiente: Überall dort, wo von der bloßen Proklamation der Menschenrechte vorangeschritten wird zur Etablierung eines Regimes, das die „Einhaltung der Menschenrechte gewährleisten“ soll, kann dies nur um den Preis eines fundamentalen Bruchs der Menschenrechte geschehen, weil jeder Staat zwangsläufig Ungleichheit auch in der Sphäre des Rechts und der Politik voraussetzt und erfordert.

So ist es – nehmen wir ein drastisches Beispiel aus einem Staat, dem mancherorts zugebilligt wird, der globale Hort der Menschenrechte zu sein, und der sich auch das Recht anmaßt, weltweit „für die Menschenrechte“ militärisch zu intervenieren – bestimmten Justizorganen in den USA nicht nur gestattet, nein, es ist vielmehr ihre Pflicht, bestimmten anderen Menschen Starkstromstöße durch die Körper zu jagen oder Gift in die Blutbahn zu injizieren.

Zweierlei Recht in der öffentlichen Sphäre des Staatshandelns einerseits und in der Privatsphäre andererseits ist jeder Staatlichkeit immanent. Und dieses zweifache Recht reflektiert keineswegs nur die materielle Verschiedenheit dieser beiden Sphären, sondern schließt eben auch Sonderrechte für die Staatsklasse mit ein: Gewaltmonopol, parlamentarische Immunität etc. Die gegenwärtig immer noch dominierende nationale Form von Staatlichkeit produziert sogar noch eine weitere Ebene zusätzlicher Entrechtung, indem sie Nicht-Staatsangehörigen sogar die wie auch immer lückenhafte und unvollständige menschenrechtliche Absicherung vorenthält.

Dasselbe gilt im Übrigen auch für das Außenverhältnis dieser Staaten(gemeinschaft), denn woraus sonst ließe sich ein Unterschied zwischen den Terroranschlägen vom 11. Juni 2001 und den Bombardierungen Bagdads, Belgrads und Kabuls konstruieren. Es ist daher auch durchaus kein Zufall und auch nicht nur der Borniertheit und nationalen Überhebung einer bestimmten US-Administration geschuldet, dass die USA als selbsternannter und weithin als solcher auch akzeptierter Weltpolizist sich prinzipiell weigert, ihre militärischen Aktivitäten grundsätzlich und ausnahmslos einer internationalen Entscheidungsinstanz, dem UNO-Sicherheitsrat beispielsweise, zu unterwerfen, auch dann, wenn er einmal nicht in ihrem Sinne entscheiden sollte, oder der Gerichtsbarkeit eines Internationalen Menschenrechtsgerichtshofes zu unterstellen.

Die Materialität des Staates: die Institutionen, die Staatsapparate und ihr Personal

Nach dem zuvor Entwickelten dürfte wohl klar sein, dass der Staat pur materiell nicht zu fassen ist: dass streng genommen aus dem bloßen Vorhandensein bestimmter Apparate, Institutionen und Gremien noch nicht deren staatskonstituierende Rolle geschlussfolgert werden kann. Freilich sträubt sich das zur Verdinglichung neigende Bewusstsein [6] mit aller Macht dagegen, zuzugestehen, dass es sich beim Staat im Kern um keine Sache handeln soll, um keine Instrumente und kein Ensemble von diversen Apparaten. Die Grenzen des Staates sind beweglich.

Im Österreich der Gegenwart kann davon ausgegangen werden, dass Institute wie das Wifo und das IHS, öffentlich-rechtliche Unternehmen wie der ORF aber auch rein privatkapitalistisch strukturierte Medienunternehmen wie die Krone und der News-Konzern zur aktuellen Gestalt des Staates gehören, während andererseits bestimmte Koordinationsgremien der Sozialpartnerschaft, die früher durchaus im Kern des Staates anzusiedeln waren, heute nur mehr eine marginale Rolle spielen und vielleicht auch schon entstaatlicht und funktionslos geworden sind.

Die Staatsangehörigen nehmen zwei gegensätzliche Gestalten an: Untertan und Staatsdiener, dessen sich der Staat bedient, um als Auge, Ohr, Mund und Arm des Staates, als dessen menschliche Gestalt und zeitweilige Verkörperung, kurz als Staatsorgan den Untertanen entgegenzutreten. Dieses eigenartig doppelte Verhältnis schrieb sich auch dem Begriff Demokratie ein: Volksherrschaft. Das Volk, die Staatsbürger herrschen also, aber über wen genau? Über sich selbst!

Der historische Ursprung des Staates liegt dort, wo der jeweiligen sozialen Oberschicht der Bürger der Zugang zu gesellschaftsleitenden Funktionen, Ämtern als (verfassungs)rechtlich gesetzte zusätzliche Distinktion zuerkannt wird. Die verbreitete Kritik der antiken Demokratie, sie habe Frauen und Sklaven ausgeschlossen und nur die männlichen Haushaltsvorstände umfasst, unterschlägt wieder einmal genau diesen Aspekt, der Ansatzpunkt einer eigenständigen Staatskritik sein könnte und lässt ihn in einer an sich natürlich durchaus berechtigten Sozialkritik verschwinden. Diese Maßnahme steht am Beginn eines Prozesses der Aufspaltung der ursprünglich unmittelbar durch die Verwandtschaft strukturierten Gemeinschaftlichkeit in eine Sphäre der Öffentlichkeit und eine der Privatheit. Und das Territorialprinzip beginnt das Abstammungsprinzip zu relativieren. (Vgl. Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. MEW 21, S. 107ff.) Die patriarchale Gentilorganisation verschwindet dadurch selbstverständlich nicht, sondern sie lebt und entwickelt sich weiter, wenn auch mehr und mehr im „Untergrund“ der Gesellschaft. Von einer alle Verhältnisse und Beziehungen determinierenden Struktur wird sie allerdings mit wachsendem Gewicht des Staates zu einem Prinzip zweiter Ordnung.

Dem Staat, den man in dieser Blickrichtung auch als Sekundärpatriarchat vielleicht auch als ideellen Gesamtpatriarchen bezeichnen könnte, wächst das Recht zu, in die Sphäre der Privatheit, ins Parallel-Universum der Clan- respektive Familienpatriarchen regelnd einzugreifen, also die unbeschränkte Macht des Primärpatriarchats in gewissen Aspekten zu relativieren. Diese progressive Bedeutung von Staatlichkeit gilt es in allen Überlegungen zur wünschenswerten künftigen Entstaatlichung von Gesellschaft zu bewahren respektive „aufzuheben“. [7]

Mit der wachsenden Komplexität der Gesellschaft und den damit an Umfang und Bedeutung zunehmenden Aufgaben des Staates differenziert sich eine eigene gesellschaftliche Schicht heraus, die Staatsfunktionen wahrnimmt, nicht mehr mit der Ausbeuterklasse ident ist und auch nicht mehr ausschließlich aus dieser rekrutiert werden kann. Zunächst werden diese Verwaltungs- und Militärkader noch nachträglich per Heirat oder Adelstitelverleihung als so genannter niederer Adel zumindest formell in die herrschende Klasse integriert, später bleiben davon dann nur mehr die Dienst- (und Besoldungs-!)klasse und die Titel der Beamten und der Offiziersrang übrig.

Aus den Menschen, die in diesen Bereichen tätig sind, setzt sich die `unproduktive´ Klasse der Staatsdiener zusammen. Ihr „Dienst am Staat“ ist weniger eine Frage persönlicher Überzeugungen und individueller Loyalitäten als eine berufliche Anforderung (Leumundszeugnis, berufsständische Ehrenkodexe, Parteibuchwirtschaft, Proporz und fallweise auch offene, politische Berufsverbote). Diese politischen Sonderanforderungen, die man auch als Einschränkungen der Freiheit ansehen könnte, werden jedoch durch zahlreiche und in sich sehr differenzierte Privilegierungen versüßt: wirklich oder auch nur vordergründig Ehrfurcht heischende und Respekt gebietende Tätigkeit (zumindest im direkten Parteienkontakt – das untergründige Murren und Schmähen ist die komplementäre psychische Reaktion der Behördenopfer) und/oder gut bezahlte und im Allgemeinen auch sichere Jobs in den Partei- und Staatsbürokratien, Berufsbeamtentum, angenehmere Arbeit, späterer Arbeitsbeginn, kaum Schichtarbeit, Biennalsprünge der Gehälter – automatische Vorrückungen, die das Senioritätsprinzip verankern, Bereitschaftsarbeit, die Arbeitsleistung z.B. der zahlreichen Sitzungstiger nicht wirklich beurteilbar etc.

Poulantzas Verortung des Staates in der Sphäre der geistigen Arbeit trifft zwar einen großen Teil aber keineswegs alle Staatsdiener: bei den Organen der Repression nach innen (Polizei, Gendarmerie, Justizwache) kann man die Frage der Zuordnung von mir aus noch offen lassen, wenn man dabei an Columbo oder Rex denkt und nicht an die Anti-Opernballdemo-Einsatzkräfte. Aber beim Militär, beim Agieren nach außen? Die US-Marines exerzieren nicht Kopfrechnen und das Bilden grammatisch richtiger Sätze, so viel ich weiß, sondern vielleicht ein bisschen Geographie und Kartenlesen. Verdient das aber schon den Adelstitel „geistige Arbeit“?

Die in meinen Augen zentralere Kritik an Poulantzas Konzeptualisierung von Staat in der Trennung von Hand- und Kopfarbeit ist jedoch, dass er damit so wie alle Fraktionen der staatsfrommen Linken das Spezifikum des Dienstes am Staat in allgemeinen sozialen Kategorien aufzulösen bestrebt ist. In den einfacher gestrickten Varianten dieser Auffassung wird dann davon gesprochen, dass wir ohnehin alle Lohnabhängige und Werktätige sind, dass es sich bei Polizisten um „Arbeiter in Uniform“ handle etc.

Staatssozialismus: Staatsdiener auf dem Weg zur Klassenherrschaft

In der bürgerlichen Gesellschaft stehen die beiden Karrierewege „Wirtschaft“ respektive „Staatsdienst“ als konkurrierende Alternativen mit entsprechenden Quereinstiegs- und Querausstiegsmöglichkeiten zur Verfügung, im bisher realisierten Sozialismus verengte sich das zu einem einzigen Weg (Wirtschaft wird Staatswirtschaft, Partei wird Staatspartei): Nur auf dieser Schiene ist es noch möglich, sich über die im Rest der Gesellschaft üblichen Lebenschancen zu erheben. Die Kraft, Dynamik, Entschlossenheit und nicht zu selten auch Skrupellosigkeit dieser gesellschaftlichen Aufwärtsmobilität ist nicht zu überschätzen.

Die Staatsklasse – die Berechtigung dieser Klassifizierung mag in der bürgerlichen Gesellschaft fragwürdig und zu diskutieren sein – bildet sich im Sozialismus zur Klasse im vollgültigen Sinn aus. Sie setzt sich aus den Funktionären eines die ganze Gesellschaft umschlingenden und erdrückenden Staatsparasiten zusammen und kann ihre Herrschaft letztlich nur diktatorisch absichern.

Eine allgemeine Korrumpierung und Mafiotisierung schreitet voran, die durch einzelne zur Legitimation unumgänglich notwendige, integre Vorzeige-Anständige als moralistische Feigenblätter wirklich nur mehr für einfältigste Gemüter zu verdecken ist. Je verfaulter und degenerierter die schmutzige Gegenwart des Staatssozialismus, desto höher emporgehoben und verklärt werden Personen und Ereignisse der „heroischen“ Vergangenheit. Es bildet sich so etwas wie eine säkulare Volksreligion heraus: Der Führer in allen TV-Kanälen und Radiostationen, Denkmäler auf allen öffentlichen Plätzen und Büsten und Bilder in allen Haushalten, wenn schon nicht aus Begeisterung so doch wenigstens aus Klugheit appliziert. [8]

Wenn Ludwig der XIV. sagte: „La etat c´est moi!“, dann war das entweder eine Selbstüberschätzung oder wenigstens der noch nicht sehr ausgedehnten Staatlichkeit geschuldet. Beunruhigend ist es allerdings, dass es heute mit viel mehr Berechtigung heißen könnte: Ohne Lenin keine Oktoberrevolution, ohne Mao keine Kulturrevolution, ohne Stalin keine Zwangskollektivierung und ohne den rumänischen Schuster Ceausescu keine „Modernisierung“ des rumänischen Dorfes.

Der schnelle und offenbar problemlose Wechsel der überwiegenden Mehrzahl der oberen Staats- und Parteikader vom „Sozialismus“ zu den neuen Verhältnissen entsprechenden gesellschaftlichen Gestalten: nationalistischer Politiker, Wirtschaftsoligarch, Medienzar [9] zeigt einmal mehr, dass das Fähnchen, dass am Amtshaus weht oder am Schreibtisch steht, der überwiegenden Mehrheit der Staatsklasse weit weniger nahe ist, als der Rock beziehungsweise der lieber mehr als weniger pompöse Schreibtisch.

Bis hierher stellen diese Aussagen lediglich eine Variante des üblichen spießbürgerlichen Lamentos über die Verkommenheit „derer da oben“ dar, die im Übrigen nicht wesentlich größer als die „derer da unten“ ist nur eben – weil oben – mit wesentlich breiter gestreuten Betätigungsmöglichkeiten und größeren Chancen ausgestattet. Dass eigentlich Verstörende sollte jedoch etwas ganz anderes sein, nämlich dass sich der ganze vorgeblich reale Sozialismus in seinem sang- und klanglosen Untergang als nichts anderes als ein Elitenkarneval enthüllt hat. Nach bis zu 74 Jahren opferreichsten Kampfes für den „Aufbau des Sozialismus“ gab es nicht die Spur sozialen Widerstandes, wie er bei einer Unterwerfung frei assoziierter Produzenten unter die Bedingungen der Lohnsklaverei zwangsläufig hätte auftreten müssen.

Das ist die historische Realität der „Diktatur des Proletariats“ in der Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Diese Diagnose ist in aller Klarheit und Schärfe zu stellen statt in billiges Hoffen auf Besserung auszuweichen: „bürokratisch degenerierte Arbeiterstaaten“, „revisionistische Entartung“, ein bisserl demokratischer und weniger Personenkult und die Beteuerung: Diesmal werden wir es besser machen, ganz bestimmt, (treuherziger Augenaufschlag!) ganz großes Ehrenwort! – Das wird nicht reichen. Wir leben nicht in der Traumzeit, als das Wünschen noch geholfen hat. Es können nicht nur gewisse falsche Ideen gewesen sein, die zu diesen Erscheinungen führten, Bürokratismus und Personenkult sind mehr als bloße Charakter- und Organisationsmängel, als welche sie in vielen oberflächlichen Kritiken erscheinen.

Die Fragen, warum sich in ausnahmslos allen bisherigen Versuchen, den Sozialismus zu realisieren, eine derart pyramidale Struktur der Macht herausbildete (5 Männer im Ständigen Ausschuss des Politbüros der KPCh lenken zumindest dem Anspruch nach die Geschicke von über 1 Milliarde Menschen!), warum allenthalben Tendenzen zu Gerontokratie und Bürokratismus zu konstatieren sind und warum sich das alles in den kleineren Staaten zu quasi-monarchistischen Systemen verdichtet, sind meines Erachtens bisher noch nicht zufrieden stellend geklärt. Das und die Entwicklung tragfähiger Alternativen wäre jedoch dringend erforderlich, um die Emanzipationsbewegung von einem furchtbaren Alb zu befreien und ihr wieder mehr Strahl- und Schubkraft zu verleihen.

Ohne Abschaffung des Staates keine Emanzipation

Es mag frivol erscheinen, wenn hier just in einer Zeit des allgemeinen Sozialabbaus, die von vielen als neoliberaler Rückzug des Staates von seinen eigentlichen, wesentlichen Aufgaben auf das Heftigste kritisiert wird, erneut Überlegungen zur Abschaffung des Staates angestellt werden. Dennoch erscheint mir genau das als unabdingbar, weil nur so ein Ausweg, ein Hinterausgang aus dem uns aufgeherrschten Dilemma zwischen „sozial warmer“ Staatsanbetung, die wider besseres Wissen auch zu einer Verklärung und zu einem Wiederherbeiwünschen eines vermeintlich goldenen Zeitalters des Keynesianismus gedrängt ist, und „sozial kalter“ Entstaatlichung aufgefunden werden könnte.

In der Auseinandersetzung mit den Anarchisten haben Marx und Engels und in deren Gefolge auch Lenin die Vorstellung vom „Absterben“ des Staates im Sozialismus entwickelt: Umfangreichere und differenziertere Überlegungen dazu finden sich allerdings bei diesen „Klassikern“ nicht, was selbstverständlich Lenin mehr vorzuwerfen ist als Marx und Engels. Meines Erachtens hat die historische Erfahrung mittlerweile zur Genüge gezeigt, das von einem „Absterben“ des Staates im Sozialismus, was ja eine gewisse Automatik, einen natürlichen Selbstlauf impliziert, keine Rede sein kann. Eher ist das Gegenteil richtig: er blähte sich mehr und mehr auf. Es spricht also Vieles dafür, die anarchistische Begrifflichkeit von der Abschaffung des Staates wieder aufzugreifen – man muss ja deswegen nicht gleich die damit verbundenen und mit Recht kritisierten anarchistischen Kurzschlüsse mit übernehmen.

Im Sozialismus müssen die abgesonderten bewaffneten Apparate und die militärische Hochrüstung (von der Möglichkeit planetarischer Komplikationen einmal abgesehen) abgeschafft werden. Falls sich doch noch einmal die zugegebenermaßen sehr wenig wahrscheinliche Chance eröffnen sollte, ein sozialistisches Projekt in einem regional begrenzten Rahmen zu starten, gibt es dann allerdings auch in diesem Staatssektor das bislang ungelöste Problem, wie eine Verselbständigung dieser Apparate hintangehalten werden könnte, und das viel grundsätzlichere Problem, ob und wie Sozialismus unter der Bedingung ihn umgebender feindlicher Übermacht überhaupt zu realisieren wäre, denn der Staatssozialismus ist nicht zuletzt auch zu Tode gerüstet worden.

Die von Lenin wieder aufgegriffene Engelssche Formulierung aus dem „Anti-Dühring“: „Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft –, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ,abgeschafft´, er stirbt ab.“ (Friedrich Engels: „Anti-Dühring“, MEW 20, S. 261f.)

Bereits in diesem Katechismus der früheren sozialdemokratischen und später der marxistisch-leninistischen Weltanschauung, aus dem Generationen von Sozialisten und Kommunisten ihre Sozialismusvorstellungen bezogen, findet sich also diese Blindheit, diese für einen Materialisten höchst erstaunliche Blauäugigkeit gegenüber den spontanen Tendenzen jener, die da als „Repräsentanten“ „im Namen der Gesellschaft“ agieren. Nebstbei selbstverständlich auch der Glaube, und es ist nichts anderes als Glaube, an die wundertätige Wirkung von Verstaatlichungsmaßnahmen.

Doch nicht darum geht es mir hier, sondern um die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen, die an die Stelle der Regierung über Personen treten und damit das Absterben des Staates signalisieren soll: Eine merkwürdig verdinglichte, entmenschlichte Vorstellung von Produktion, die im Produktivismus der nachholenden Entwicklung der staatssozialistischen Staaten ihre fröhlichen Urständ feiern sollte. Wie viel soll überhaupt gearbeitet werden, was soll wie produziert werden und wer soll das dann bekommen? Das sind doch höchst brisante Fragestellungen, die gesellschaftlich immer umstritten sein werden und sich in keine abstrakte Produktionslogik auflösen lassen!

Bei solchen Vorstellungen handelt es sich um einen Nachhall des Vernunftabsolutismus der Aufklärung, der die Menschen nur als bloße Besonderungen einer als einheitlich konzipierten Weltvernunft begreift. So formulierte Spinoza im Lehrsatz 35 des 4. Abschnitts seiner Ethik: „Nur insofern die Menschen nach Leitung der Vernunft leben, stimmen sie von Natur aus immer notwendig überein.“ (Spinoza, Die Ethik. Stuttgart: Reclam 1977, S. 505) Die Konzeption des Menschen als Monade der Ratio schimmert hier durch, aber wir Menschen stammen nicht nur „vom Affen“ ab, wir sind auch Tiere geblieben: Das Begehren und die Wünsche sind zwar nicht mehr vollständig instinktmäßig festgelegt, aber deswegen sind sie noch lange nicht auszumultiplizieren!

Weiters gehört gerade Verwaltung zu den Kerntätigkeiten des Staates. Ihre Grundoperation ist die Schaffung und Bearbeitung einer papierenen oder neuerdings auch elektronischen Parallelwelt (Melderegister, Geburtenverzeichnis, Strafregister, Sterberegister, Steuernummer, Kaderakte, Produktionskennziffern etc.), deren Sinn gerade darin besteht, Tätigkeiten und Beziehungen auch für nicht direkt daran Beteiligte beobachtbar und kontrollierbar zu machen. Welchen Sinn soll das im Kommunismus haben? Dahinter steckt doch nichts anderes als die Vorstellung einer Transformation der Gesellschaft in einen totalverstaatlichten, sich ständig effektivierenden Produktionsorganismus auf fordistisch-tayloristischer Grundlage, was Lenin auch explizit so ausgesprochen hat: Seiner Meinung nach hat die deutsche Post den Sozialismus formell vorweggenommen. „Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn sein!“ (W.I. Lenin: Staat und Revolution, LW 25, S. 488) Nicht, dass ich was dagegen hätte, wenn jemand das mit Gleichgesinnten umsetzen will, vorausgesetzt es kommt dabei nicht zu einem überdimensionierten Ressourcenverschleiß – für mich jedenfalls ist das keine erstrebenswerte Zukunftsvorstellung. Außerdem werde ich den Verdacht nicht los, dass alle, die so reden, dabei weniger an sich denn an andere als Turbohackler denken und für sich selbst allenfalls noch das „Büro“ und „unglaublichen“ Telefonier- und Sitzungsstress für zumutbar halten.

Gegen solche Ideen hilft kein überdialektischer Formelglaube (totale Verstaatlichung, die am St. Nimmerleinstag in die vollkommene Entstaatlichung der Gesellschaft „umschlage“) und auch keine beiläufigen Bonmots. Die Leninsche Köchin, die nachmittags die Staatsgeschäfte besorgt – und wer wäscht dann ab und sorgt fürs Abendessen, der „proletarisch-revolutionäre“ Staatenlenker etwa? – impliziert, vom sexistischen Unterton einmal ganz abgesehen, dass die Köchin am Nachmittag in der zentralen Plankommission die Ausarbeitung des nächsten Fünfjahrplans präsidiert oder mit einer MIG einen Bombeneinsatz gegen tschetschenische Stammes- und Gotteskrieger fliegt und am Wochenende einen Freundschaftsbesuch in der Volksrepublik Angola absolviert.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich will mit diesen Bemerkungen keineswegs ernsthafte Versuche lächerlich machen, den Staat zu überwinden. Sehr wohl aber soll lächerlich gemacht werden, wer glaubt, in dieser zentralen Frage mit solchen Sagern sein Auslangen finden zu können. Prinzipiell, und damit zwangsläufig sehr, sehr allgemein gehalten, geht es um die Frage der grundsätzlichen Orientierung: Verstaatlichung der gesamten Gesellschaft (eventuell verbrämt mit dem pseudodialektischen Überschmäh, dass der Staat kein Staat mehr sei, wenn er alle Tätigkeiten und Beziehungen der Gesellschaft in seinen Bannkreis gezogen hätte) oder sukzessive aber vollständige Auflösung jeglicher Staatlichkeit in unmittelbare gesellschaftliche Tätigkeit.

Es ist nun nicht so, dass es in der Geschichte des Staatssozialismus keinerlei Versuche gegeben hätte, den Gegensatz zwischen der Klasse der Staatsbürokratie und der Gesellschaft theoretisch und praktisch zu thematisieren. In den, wenn man so will, „rechten“ Tauwetterperioden, die in Dubceks Prager Frühling und Gorbatschows Perestroika ihre am weitesten entwickelte Ausprägung erfahren haben, ging es darum, diese Beziehung zu entspannen, in Maos „linker“ Kulturrevolution darum, diesen Gegensatz zuzuspitzen und gegen einen Teil(!) des Apparates (ab)zulenken, der rein zufällig mit Maos innerparteilichen Gegnern ident war. Beide Tendenzen führten auf Grund ihrer politizistischen Verengung, die kaum Ausweitungen ins Soziale zuließ und schon gar nicht die Zurückdrängung, den Abbau von Staatlichkeit als Perspektive hatte, zu keinerlei positiver Transformation des Staatssozialismus.

Wirkliche Emanzipation ist nur jenseits von Staat, Warenproduktion und Patriarchat zu erreichen. Im Gegensatz zum Marx der „Judenfrage“ und den Anti-Politikern der Gegenwart bin ich nicht der Auffassung, dass sich die politische Emanzipation mit der Proklamation(!) der Menschenrechte erschöpft hätte und man sich nur mehr um die soziale und gesellschaftliche Emanzipation kümmern müsse. Der Politik kommt auf ihrem eigenen Gebiet die Aufgabe zu, die weitere Emanzipation der Menschheit dadurch zu befördern, dass sie die direkte Selbstorganisation der Gesellschaft weiterentwickelt, die freie Assoziation der Menschen und nicht nur der Produzenten, wie es noch in früheren, industrieeuphorischen und arbeitsfanatischen Zeiten formuliert wurde („Die Müßiggänger schiebt beiseite!“) befördert. Freiheit bedeutet die Aufhebung der staatsförmigen Vergesellschaftung und zugleich auch die Befreiung von und nicht etwa den Rückfall in patriarchal-familiäre Rollenzuschreibungen. Auseinandersetzungen über naturnotwendig divergierende Interessen müssen nicht mehr unbedingt in ein allen aufgezwungenes „Gemeinwohl“ transformiert werden und Gemeinschaftlichkeit ist unter den unterschiedlichen aber nicht mehr zwangsläufig einander entgegengesetzten Einzel- und Gruppeninteressen stets aufs Neue konkret auszuhandeln.

Die Alternative, deren Potenzen es zu entfalten gilt, muss also grundsätzlicher und umfassender sein. Vielleicht fungiert die Weltsozialforum-Bewegung als Keimform und Treibsatz für eine sozialistischen Föderation der Kommunen der Welt. Das könnte die politische Form sein, die sich konstituierende Gegenmacht, in der die Multitude im Kontext des sich entfaltenden Empires zum Subjekt werden kann, das Gegen-Empire, das zweite Rom.

Vielleicht hat diese Föderation auch bereits seit über einem Jahr eine erste, provisorische Vertretung in Brüssel gefunden:

Deklaration der Universalen Botschaft Brüssel, 12.12.2001

Die Universal Embassy wurde von einem Netzwerk gegründet, das sich um den Kampf der Sans-Papiers konstituiert hat. Sie will, jenseits von Disziplinengrenzen, BürgerInnen versammeln, denen ein universelles Denken Anliegen ist. Sie ist eine kurzfristige Notunterkunft.

Die Universal Embassy wurde in dem verlassenen Gebäude der ehemaligen Botschaft von Somalia eingerichtet, die infolge des Auseinanderreißens des somalischen Staates ihre Funktion nicht mehr erfüllt. Wir, BürgerInnen der Welt, mit oder ohne Papiere, haben eine außerterritoriale Botschaft geschaffen, um unsere Rechte wiederherzustellen. ...

Praxis ist eine Suche des Gemeinsamen in der Diversität. Sie setzt sich vor jede Regierung. Diese potenzielle Gesellschaft, von den Nationalitäten in Fesseln gelegt, gilt es zu verteidigen.“ (www.universal-embassy.be)

Nutzanwendungen für heute

Alles Zukunftsmusik! Sicherlich. Aber ohne Musik kein Tanz. – Kehren wir dennoch vom Ausmalen einer lichten Zukunft, das allerdings, wie ich hoffentlich zeigen konnte, alles andere als müßig ist, in die Niederungen einer leider noch sehr viel graueren Gegenwart zurück: Gegen die illusionären Träumereien einer Revitalisierung des Keynesianismus, die in der anti-neoliberalen und globalisierungskritischen Bewegung allerorten im Schwange sind, ist nicht nur einzuwenden, dass die gesellschaftlichen Grundlagen dafür fortgefallen sind, sondern eben auch, dass eine Belebung des Etatismus aus emanzipatorischer Sicht alles andere als wünschenswert ist. Gegen den Sozialabbau wären also solche Forderungen so zu erheben, dass zugleich Bürokratieabbau und Zurückdrängung staatlicher Einflussnahme zugunsten von Selbstorganisation wie etwa der Sozialversicherung vorangetrieben werden. Es könnte daher die Selbstverwaltung von AMS und Sozialversicherung und/oder ein Grundeinkommen gefordert werden, das von vornherein eine Menge an verwaltungsbürokratischen Tätigkeiten einspart.

Auf einer anderen, nicht politizistischen, anti-politischen Ebene könnte und sollte es darum gehen, mit einer kritisch begleiteten und selbst bestimmten Neuvergesellschaftung jenseits von Markt und Staat anzufangen. Auch in Gesellschaften, in denen in weiten und entscheidenden Bereichen gesellschaftlicher Tätigkeit und des individuellen Lebens, das Privateigentum – das übrigens auch nicht immer und in jedem Einzelfall als sakrosankt angesehen werden muss, auch wenn die gesellschaftliche Lösung des Problems noch nicht auf der Tagesordnung steht – direkter Vergesellschaftung entgegensteht und damit den Staat als illusorische Gemeinschaftlichkeit, als Surrogat und Placebo unabdingbar macht, gibt es Bereiche, die der unmittelbaren Selbstorganisation offen stehen: gemeinschaftliche Wohnformen, freie Kinder(betreuungs)gruppen, selbständige Jugendzentren, nicht kommerziell ausgerichtete Kultur- und Medienprojekte, Freizeit- und Veranstaltungszentren, Kollektivbetriebe in diversen Branchen und Landkommunen.

Diese genossenschaftlichen Selbstorganisationen finden jedoch nicht im luftleeren Raum, in einem quasi autonomen dritten Sektor statt; vielmehr werden solche Initiativen stets mit staatlichen Druck- und Gängelungsversuchen konfrontiert und sind der inneren Zersetzung durch Autoritarismus und/oder kommerzielle Aspirationen Einzelner ausgesetzt. Tausende solcher Vergenossenschaftlichungsinitiativen sind bereits auf die eine oder andere Weise gescheitert und werden auch weiterhin scheitern, denn die Gefahren bestehen fort und sind nicht vollständig aus der Welt zu schaffen. Dem Verkommen von Genossenschafen könnte aber besser begegnet werden, wenn unter den verschiedenen Kollektivierungsinitiativen ein Zusammenhang hergestellt wird, der diese Gefahren bewusst macht und hält und Erfahrungen darüber austauscht, wie sie hintangehalten werden können.

All das bleibt selbstverständlich noch jenseits oder unter dem Horizont der Machtfrage. Dennoch ist die Frage keineswegs ohne Bedeutung, ob die Staatstätigkeit und -zuständigkeit ausgedehnt wird und damit auch die „Klasse“ der Staatsdiener oder eben das Gegenteil davon. Das ändert selbstverständlich auch nichts am Klassencharakter des gegebenen Staates, stärkt jedoch die Rolle der direkten Vergesellschaftung/Selbstverwaltung gegenüber den Staatsorganen und trägt so auch zum Empowerment der Staatsbürger bei durch Entwicklung solidarischer kollektiver Identitäten gegen die herrschaftsstärkenden Tendenzen zur Atomisierung und anonymen Vermassung.

Seit der Kampagne ums allgemeine, gleiche und um das Frauen-Wahlrecht hat es keine politisch-strukturellen Kampagnen mehr gegeben, nur mehr Wahlkampagnen, Keilen um Wählerstimmen oder gelegentlich, in zugespitzten Situationen auch Aufstände. Im Gegensatz dazu sollte auch der „formellen“ Seite von Politik, der Struktur und Verfasstheit von Staaten wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auch auf diesem Gebiet geht es darum, Forderungen und Aktivitäten zu entwickeln, die staatliche Regelungen und Bürokratie zurückdrängen und den Wirkungsradius des Citoyen erweitern.

Nun denn, alter Maulwurf und junge Schlange, wühlt und windet euch weiter!

[1Geschrieben im August und September 1917; die Oktoberrevolution verhinderte die vollständige Ausarbeitung. Für die 2. Auflage kam nach der Landung amerikanisch-britischer Interventionstruppen in Murmansk, deren Einsetzung einer Regierung des Nordgebiets unter dem Sozialrevolutionär Tschaikowski und dem Attentat der Sozialrevolutionärin Fanja Kaplan am 30. August 1918 auf Lenin und einer Polemik gegen Kautsky (und eine kleine Gruppe linker Kommunisten in Moskau) der Abschnitt über die Diktatur des Proletariats, „Marx´ Fragestellung im Jahre 1852“ (Brief an Weydemeyer vom 5. März 1852) hinzu.

[2Ich trete für einen pragmatischeren und entspannteren Umgang mit dem Klassenbegriff ein: Hauptgesichtspunkt sollte sein, dass sich die gesellschaftlichen Beziehungen dadurch klarer und differenzierter erfassen lassen. Daher halte ich auch nichts davon, pure Lohnabhängigkeit zum entscheidenden Kriterium hochzustilisieren und dementsprechend beispielsweise von Polizisten als von „Arbeitern in Uniform“ zu sprechen.

[3So formuliert Stalin auf dem XVII. Parteitag der KPdSU(B) im Hinblick auf Fragen, warum es nach Aufhebung der Ausbeuterklassen, nach dem Verschwinden der feindlichen Klassen, obwohl der Sozialismus im Wesentlichen errichtet sei und man zum Kommunismus marschiere – das alles Vorstellungen, die er offensichtlich teilte, und die auch am 5. Dezember 1936 in einer neuen Verfassung festgeschrieben wurden –, es den Staat immer noch gebe, dass sich in diesen Ansichten „ebensowohl die Unterschätzung der Rolle und Bedeutung der bürgerlichen Staaten und ihrer Organe, die in unser Land Spione, Mörder und Schädlinge entsenden und nur auf den Moment lauern, um einen militärischen Überfall auf unser Land zu unternehmen; ebenso offenbart sich in ihnen die Unterschätzung der Rolle und Bedeutung unseres sozialistischen Staates und seiner Militär-, Straf- und Abwehrdienstorgane, die zum Schutze des Landes des Sozialismus gegen Überfälle von außen notwendig sind. ... Ist es denn nicht verwunderlich, dass wir von der Spionage- und Verschwörertätigkeit der Anführer der Trotzkisten und Bucharinleute erst in der letzten Zeit, in den Jahren 1937 und 1938, erfahren haben, obwohl diese Herren, wie das aus den Materialien ersichtlich ist, schon in den ersten Tagen der Oktoberrevolution als Spione bei den ausländischen Staatsapparaten in Dienst standen und ihre Verschwörertätigkeit ausübten? ... Unterschätzung der Kraft und Bedeutung des Mechanismus der uns umgebenden bürgerlichen Staaten und ihrer Staatsorgane, die bestrebt sind, die Schwächen der Menschen, ihre Eitelkeit, ihre Charakterlosigkeit auszunutzen, um sie in ihre Spionagenetze zu verstricken und diese Netze um die Organe des Sowjetstaates zu ziehen.“ (Josef W. Stalin: Schriften zur Ideologie der Bürokratisierung. Herausgegeben von Günter Hillmann. Reinbek: Rowohlt 1970, S. 212f.)

[4„Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung ist. ... die Methode vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozess des Konkreten selbst.“ (Karl Marx, Grundrisse, S. 22)

[5So hat Lenin in seinen Schriften zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution immer wieder die Frage nach dem Staat, danach, wer faktisch die Macht ausübt aufgeworfen und zu beantworten versucht. Für die antifaschistische Umwälzung in Portugal (1974) formierte sich eine politische Strömung unter den niedereren Offizieren als treibende Kraft, die MFA („Bewegung der Streitkräfte“). Und schlussendlich war auch der Untergang der staatssozialistischen Systeme geradezu ein Lehrbeispiel dafür, wie das Vorhandensein aller Staatsapparate nichts mehr nützt, wenn das stützende gesellschaftliche Imaginäre einmal weggebrochen ist. Ein Menetekel für jede eindimensional-materialistische Staatsauffassung! Wem das zu idealistisch erscheinen will, der möge sich doch einmal vergegenwärtigen, dass 1989 bis 1991 nicht wenige Staaten weitgehend sang- und klanglos, wenn man so will fast nur mit einem schwermütigen Seufzer in sich zusammengesackt sind, obwohl sie an sich über ein gewaltiges Waffenarsenal, riesige Armeen und eine umfangreiche Nomenklatura verfügt hätten. Sehr aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist, sich einmal den Tonbandmitschnitt der letzten Sitzung des Politbüros der SED, des Gravitationszentrums der Macht in der DDR anzuhören. Nicht einmal die paar dutzend durchgeknallten Typen von der trotzkistischen Spartakisten-Sekte, die unter starker Beteiligung von Hauptamtlichen ihrer US-Sektion in den Kasernen der Roten Armee feurig für eine entschlossene Zerschlagung der Konterrevolution, der sich auch die SED angeschlossen hätte, agitierten, konnten das Ruder noch herumreißen. An den Staat muss als auch in ausreichendem Maße gesellschaftlich „geglaubt“ werden, wobei nicht enthusiastische Begeisterung gefordert ist, auch nicht, dass er für die beste aller denkbaren Realisierungen gehalten wird, sondern schlicht und einfach für den einzigen unter den gegebenen Bedingungen möglichen.

[6Adorno würde hier von verdinglichtem Bewusstsein sprechen, und das ist genau jene halbe Schraubendrehung zuviel, die Schraube und Theorie durchdrehen und den Halt verlieren lässt.

[7Auch ursprünglich nicht-religiös und damit wohl eher antiautoritär inspirierte Kommunegründungen tendieren, wie in Österreich das Beispiel der AAO/Friedrichshof des Otto Mühl deutlich machte, zu einem Rückfall hinter den bereits erreichten gesellschaftlichen Stand, zu reaktionären Versuchen einer Restauration eines unbeschränkten Gentilpatriarchats.

[8Der Oberst und das Mädchen: „Gegen Mittag erscheint Hugo Chávez zur Aufzeichnung von Aló Presidente, der sonntäglichen TV-Show des Präsidenten ... Im Großraumbüro des Hafenzolls ... sitzt handverlesenes Publikum und steht wie in der Kirche auf, als Chávez erscheint. ... der erste Anrufer wird durchgestellt. Er klagt, dass wegen des Streiks die Versorgung mit Nahrungsmitteln immer schwieriger werde. „Organisieren Sie sich, essen Sie zusammen, laden Sie Nachbarn ein“, rät der Präsident. Und fragt nach; Was gibt´s noch! „Wir wollen ein Denkmal für Chávez errichten.“ ... Nach vier Stunden macht sich im Publikum Müdigkeit breit, ... Dann darf die 16-jährige Schülerin Marietta zu Wort kommen, die sich als Verehrerin zu erkennen gibt. „Hast du einen Führer?“, fragt der 48-Jährige grinsend. „Senior Presidente, Sie“, schmachtet sie zurück – und Chávez greift sich ans Herz. Nach sechs Stunden, als selbst die Militärs aufgehört haben, Scherze des Präsidenten mitzuschreiben, fragt Chávez, wo sein bisheriger Rekord bei einer Sendung liege: Sieben Stunden. „Also machen wir weiter.“ (Standard, 14.1.2003) Für mich ist immer wieder frappierend wie unverblümt manche, die als Revolutionäre oder gar als Kommunisten gelten wollen, ihren Zynismus und ihre mehr oder weniger versteckten Ambitionen zum Ausdruck bringen: In einem Interview mit der Zeitung „Der Funke“ sagt Jorge Martin, Redakteur der Zeitschrift „In Defense of Marxism(!)“ Folgendes: „Wir (gemeint wohl die Parteigänger seiner Sekte) aber sehen diesen Prozess ganz klar und wir wissen auf welcher Seite wir stehen: nämlich auf jener der Massen, ganz egal welchen Verwirrungen und Vorurteilen sie nachhängen. Da traf ich etwa eine alte Frau, die in Chavez die Reinkarnation von Simon Bolivar sieht und glaubt, dass er als neuer Erlöser von Gott auf die Welt geschickt wurde. Auch darin steckt aber durchaus ein revolutionärer Inhalt(!), nämlich die Idee von der „Befreiung der Armen aus ihrer Knechtschaft“. – Also: Wurst, was die Massen sich dabei denken, Hauptsache sie rennen „den Richtigen“, d.h. in letzter Konsequenz aber auch einmal „uns“ nach.

[9„Die ehemaligen Nomenklaturisten waren nicht nur vorneweg, wenn es darum ging, die lukrativsten Großbetriebe vom vormaligen Staatsmonopol loszubrechen und auf mafiose Weise zu privatisieren. Auch unter den neuen Privatbankiers, Großhändlern und Unternehmern stellen frühere Partei- und Komsomolaktivisten zumindest einen erheblichen Anteil.“ (Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Berlin: Alexander Fest Verlag 1998, S. 12f)

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