Streifzüge, Heft 39
März
2007
2000 Zeichen abwärts

„Straße der Sieger“

Es ist trüb. Ich auch. Neben mir humpelt mein Jüngerer, ich stütze ihn, wir sind unterwegs zur Krankenkassenambulanz auf der Mariahilfer Straße, Wiens repräsentativer Shopping Mall. Der übliche Einkaufsbetrieb und einige Mienen, die zu diesem Gottesdienst passen, auf den Gesichtern der Touristen und anderen Gläubigen. Dazwischen Leute, die es eilig haben, ein plärrendes Mädchen an der Hand wohl seines Vaters, Leute mit Sorgen und Kummer, manche verhehlen das kaum, hier unter Fremden. Keine Müßiggänger, aber wo gibt es die noch? Nicht einmal Liebespaare. Kein Wunder bei dem Wetter. Eine Migrantin, so in den Vierzigern, hält den Passanten die Bunte Zeitung hin. Sie ist nicht versiert, sie tut auch nicht so, als täte sie’s gern, sie ist unangenehm berührt von dem, was sie da muss, und ist recht erstaunt, dass sie von mir die zwei Euro bekommt. Vis a vis steht ein Mann mit zwei bellenden Hunden; er hofft trotzdem, dass ihm wer die Straßenzeitung Augustin abnimmt. Ein Mädchen drückt den vorbeikommenden Frauen eine Rose in die Hand und möchte eine Spende dafür. Erfolg seh ich keinen, bloß, dass ihr Gesicht verfällt, wenn sie abgelehnt wird. Auf dem Fenstersims einer Bank sitzt reglos ein Mann mit rotem Anorak, eine offene Schachtel auf den Knien und einen Zettel vor sich: „Ich bin obdachlos“. Die Bank lässt ihn unbehelligt, die Vorübergehenden auch. Vor ihm auf dem Trottoir ist eine der Tafeln eingelassen, die hier so alle zehn Meter zu sehen sind. Sie ehrt einen Para-Weltmeister und Olympioniken Hajek, wer und was immer das ist oder war. Der Titel der Tafeln: „Straße der Sieger“. Wir sind am Eingang zum Krankenkassengebäude angekommen. Ich halte die Tür auf für den alten Mann, der uns ein bisschen mühselig entgegenkommt. Er strahlt. Der erste, der mich heute angelacht hat.

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